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Franz Mehring 19080104 Fichtes Reden an die deutsche Nation

Franz Mehring: Fichtes Reden an die deutsche Nation

4. Januar 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 489-494. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 76-82]

In hundert oder zweihundert Jahren, wenn neue Revolutionen über das philosophische Denken ergangen sind, werden Ihre Schriften zwar zitiert und ihrem Werte nach geschätzt, aber nicht mehr gelesen werden.

Schiller an Fichte

Am 10. Dezember 1807, einem Sonntag, begann Johann Gottlieb Fichte, in der Mittagsstunde von 12 bis 1 Uhr, im runden Saale des Berliner Akademiegebäudes, das eben jetzt abgerissen wird, „vor einem gemischten Publikum aus beiden Geschlechtern" die Fortsetzung der Vorträge, die er drei Jahre früher den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" gewidmet hatte. An vierzehn Sonntagen, immer um dieselbe Mittagsstunde, hielt er diese neue Reihe von Vorlesungen und gab sie dann im Mai des Jahres 1808 als „Reden an die deutsche Nation" in Buchform heraus.

Sie sind die berühmteste Schrift, die Fichte je veröffentlicht hat, berühmt nicht nur und nicht einmal zumeist in der Geschichte der deutschen Philosophie, sondern berühmter noch in der Geschichte der deutschen Nation, deren moderner Wiedergeburt sie die Feuertaufe gegeben haben sollen. Aber dann ist an dem nationalen Gedanken, wie er sich heute auf Markt und Gassen tummelt, der letzte Funke dieses Feuers erloschen, und an Fichtes gepriesenster Schrift erfüllt sich Schillers melancholische Prophezeiung in noch höherem Grade, als der Prophet selbst gemeint hat: sie wird zwar zitiert, aber nicht nur nicht mehr gelesen, sondern nicht einmal mehr nach ihrem Werte geschätzt. Und sicherlich, wer die Helden des deutschen Liberalismus das geflügeltste ihrer geflügelten Worte mit sattem Behagen zitieren hört: „Charakter haben und deutsch sein ist ohne Zweifel gleichbedeutend", der greift mit Händen, wie sich, wenn nicht in einem Schritte, so doch in einem Jahrhundert das Erhabene ins Lächerliche wandeln kann.

Ja selbst ins Bösartige ließe sich das Erhabene verkehren, und sogar noch mit einem größeren Scheine von Recht, wenn den deutschen Reaktionären so viel am Schwatzen läge wie den deutschen Liberalen. Könnte sich jener Gamaschenknopf von preußischem General1, der sich die Finger wund schreibt, um zu beweisen, dass die Niederlage von Jena nicht gekommen wäre, wenn sich die preußische Regierung nicht von Humanität und Liberalismus hätte anstecken lassen, nicht auf Fichte berufen, der eben in den „Reden an die deutsche Nation" den damaligen Zusammenbruch erklärt durch „jene weichliche Führung der Zügel des Staates, die mit ausländischen Worten sich Humanität, Liberalität und Popularität nennt, die aber richtiger in deutscher Sprache Schlaffheit und Betragen ohne Würde zu nennen ist"? Oder ist es nicht den heutigen Scharfmachern aus der Seele gesprochen, wenn Fichte in diesen Reden sagt, eine Regierung könne „auch nach außen treulos und pflicht- und ehrvergessen handeln, wenn sie nur nach innen den Mut habe, die Zügel der Regierung mit straffer Hand anzuhalten und die größere Furcht für sich zu gewinnen"? Und hat Fichte nicht selbst den schmählichen Vernichtungskrieg des Fürsten Bülow gegen die polnische Sprache geweiht, indem er in den „Reden an die deutsche Nation" forderte, „dass, wie ein Volk aufgehört habe, sich selbst zu regieren, es eben auch schuldig sei, seine Sprache aufzugeben und mit den Überwindern zusammenzufließen"? Erfährt der Reichskanzler, dass solche Perlen in Fichtes Schriften zu finden sind, so begnügt er sich vielleicht nicht mehr bloß damit, sie zu bewundern, sondern entschließt sich gar noch, sie zu lesen.

Sicherlich sind Fichtes „Reden an die deutsche Nation" mit dem Roste eines Jahrhunderts bedeckt; nur auf dem Schmelztiegel der historischen Kritik kann man ihren Wert schätzen. Man muss nicht den Mann nach den Reden, sondern die Reden nach dem Manne beurteilen, im Sinne des Fichteschen Wortes, was man für eine Philosophie wähle, hänge davon ab, was man für ein Mensch sei. Ein Wort, das allen Geschichtsschreibern der Philosophie als Leitfaden dienen sollte, aber auch denen von ihnen, die wissenschaftliche Ansprüche erheben dürfen, allzu oft unter den Händen zerrinnt.

So sagt F. A. Lange in seiner „Geschichte des Materialismus": „Es gibt keine sich aus sich selbst, sei es in Gegensätzen, sei es in direkter Linie, fortentwickelnde Philosophie, sondern es gibt nur philosophierende Männer, die mitsamt ihren Lehren Kinder ihrer Zeit waren." Aber derselbe Lange sagt dann an einer anderen Stelle seines Werkes, seit dem Jahre 1795 sei der Idealismus durch Fichte und Schiller in Deutschland auf die Spitze getrieben worden, was denn die Dinge wieder von den Füßen auf den Kopf stellen heißt.

Der Idealismus Fichtes und der Idealismus Schillers waren völlig voneinander verschieden, ja sie stießen zu ihrer Zeit feindlich aufeinander. Schiller wiederholte jenen Satz Fichtes von der Philosophie, die vom Menschen abhänge, nicht aber der Mensch von der Philosophie, wenn er an Fichte schrieb: „Wären wir bloß in Prinzipien geteilt, so hätte ich Vertrauen genug zu unserer beiderseitigen Wahrheitsliebe und Kapazität, um zu hoffen, dass der eine den anderen endlich auf seine Seite neigen würde, aber wir empfinden verschieden, wir sind verschiedene, höchst verschiedene Naturen, und dagegen weiß ich keinen Rat." Schillers Idealismus bestand darin, das Reich des ästhetischen Scheines zu erbauen, wo sich das Ideal der Gleichheit erfüllt, das der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach verwirklicht sehen möchte.

Fichtes Idealismus aber war dieser „Schwärmer", wie er in den Reden an die deutsche Nation sagt: „Was wollen denn zuletzt alle unsere Bemühungen selbst um die abgezogensten Wissenschaften? Lasset sein, der nächste Zweck dieser Bemühungen sei der, die Wissenschaft fortzupflanzen von Geschlecht zu Geschlecht und in der Welt zu erhalten: warum soll sie denn auch erhalten werden? Offenbar nur, um zu rechter Zeit das allgemeine Leben und die ganze menschliche Ordnung der Dinge zu gestalten. Dies ist ihr letzter Zweck; mittelbar dient sonach, sei es auch erst in einer späteren Zukunft, jede wissenschaftliche Bestrebung dem Staate. Gibt sie diesen Zweck auf, so ist auch ihre Würde und ihre Selbständigkeit verloren." Schiller schalt über den „unästhetischen" Fichte und verspottete ihn in den Xenien als Weltverbesserer; Fichte aber fragte in den „Reden an die deutsche Nation", was denn die Literatur eines Volkes ohne politische Selbständigkeit sei? Was könne denn der vernünftige Schriftsteller anderes wollen als eingreifen in das allgemeine und öffentliche Leben, um es nach seinem Bilde zu gestalten; wenn er das nicht wolle, so sei all sein Reden leerer Laut zum Kitzel müßiger Ohren.

Mit anderen Worten: der Idealismus Schillers und der Idealismus Fichtes unterschieden sich, wie sich ästhetische Kultur und politische Revolution unterscheiden. Sie brauchen keine ausschließenden Gegensätze zu sein, und am wenigsten sind sie es in der Arbeiterbewegung der Gegenwart. Aber wo sie sich einmal historisch geschieden haben, da soll man sie nicht unter einem nichtssagenden Schlagwort zusammenkoppeln, wenn man nicht das eigentümliche Wesen der einen wie der anderen verwischen will. Gerade in seinen Reibungen mit Schiller arbeitet sich Fichte als das heraus, was er historisch gewesen ist, als der revolutionäre Denker, der das ungeheure Wagnis unternahm, mit der Gewalt seines Geistes eine ganze Nation umzuschauen. Und dies Wesen des Mannes leuchtet heute noch wie helles Morgenrot durch den begriffsromantischen Nebel seiner Reden und Schriften, deren historische Bedeutung gerade auch in ihrer historischen Vergänglichkeit besteht.

Um sie ganz zu verstehen, muss man sich zurückversetzen in die Zeit, wo Fichte – im Mai 1799 – schreiben konnte, es sei nichts gewisser als dass, wenn nicht die Franzosen die ungeheuerste Übermacht in Deutschland errängen, kein Mensch mehr in Deutschland, der dafür bekannt sei, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden werde, wo er schrieb: „Sie verfolgen in mir einen Freidenker, der anfängt, sich verständlich zu machen, und einen verschrienen Demokraten; es erschreckt sie, wie ein Gespenst, die Selbständigkeit, die, wie sie dunkel ahnen, meine Philosophie weckt." Es war, als Fichte von seiner Professur in Jena verdrängt wurde, wobei Goethe als weimarischer Minister keine erhebende Rolle spielte. Unter solchem despotischen Drucke war jedes freie und offene Wort unmöglich, und die Flut revolutionärer Gedanken musste sich bequemen, durch die dunklen und verschlungenen Kanäle philosophischer Systeme zu strömen, die als Ruinen verfallen mussten, sobald der Strom ans helle Licht des Tages dringen konnte.

Fichte erkannte mit brennender Scham den Verfall der deutschen Zustände, deren „schlechthinnige Sündhaftigkeit" er in seinen Vorlesungen über die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters nachwies. Dieser Verfall war so groß, dass ihm sogar die praktischen Hebel der politischen Revolution fehlten, ja dass Fichte selbst diese Hebel nicht erkannte, wie sie in der Französischen Revolution gearbeitet hatten. Fremd und verständnislos stand er den Anfängen der kapitalistischen Entwicklung gegenüber, in denen er nur Rückfälle in die Barbarei mittelalterlicher Zustände erblicken wollte. Wenn Heine ihn mit Napoleon verglichen hat, so ist er eher mit Robespierre zu vergleichen. Er war ein revolutionärer Terrorist, der einen „Zwingherrn zur Deutschheit" verlangte, der sich zu dem Satz bekannte: Das Recht muss schlechthin sein, und wer es nicht durch sich selbst einsieht, der muss gezwungen werden. Als echter Idealist sah Fichte in Napoleon nicht den Erben, sondern den Todfeind der Revolution, der lauernd und listig die Freiheit geraubt habe, den Bahnbrecher einer alles Völkerleben erstickenden Universalmonarchie, „der über dem betäubten Europa schwebt, wie der Geier über den niederen Lüften, und nach Beute umherschaut". Um sich gegen diesen furchtbaren Feind zu waffnen, vertiefte sich Fichte nach der Schlacht bei Jena in die Schriften Machiavellis, und in den Betrachtungen, die er über sie veröffentlichte, schrieb er schon das Wort nieder, das gleichsam den Grundakkord seiner „Reden an die deutsche Nation" bildet, dass „dem unerschütterlichen Willen nichts unerreichbar" sei.

Aber diesem Willen war in all seiner gewaltigen Kraft nicht gegeben, wie ein Geier über den Wolken zu schweben. Bereits in seinem „Geschlossenen Handelsstaat" hatte Fichte nur eine Utopie schaffen können, die nichts anderes war als der friderizianische Staat, eingerenkt nach den Forderungen der bürgerlichen Vernunft; in den „Reden an die deutsche Nation" schuf er eine andere, eine großartigere Utopie, mit Gedanken, die das Blut seines Herzens stählte, wie es ihre Worte färbte, aber deshalb doch auch behaftet mit peinlichem Erdenreste. Mit jenem unverwüstlichen Glauben an die Allmacht der Erziehung, die der bürgerlichen Aufklärung eigen war, verlangte Fichte, dass die gesamte, die männliche und die weibliche Jugend des Landes ohne Unterschied von Geburt, Stand und Vermögen der Eltern in besonderen Anstalten zu den Tugenden erhoben werden solle, die ihre einstige Befreiung verbürgten: zur Selbsttätigkeit im Dienste des Vaterlandes, zur opferwilligen Hingebung an den Staat. Von diesem Plane verhieß Fichte eine völlige Wiedergeburt der Nation; „jeder einzelne ist zu jedem möglichen Gebrauche seiner körperlichen Kraft vollkommen geübt und begreift sie auf der Stelle, zur Ertragung jeder Anstrengung und Mühseligkeit gewöhnt, sein in unmittelbarer Anschauung aufgewachsener Geist ist immer gegenwärtig und bei sich selbst, in seinem Gemüt lebt die Liebe des Ganzen, dessen Mitglied er ist, des Staats und des Vaterlandes, und vernichtet jede andere selbstische Regung. Der Staat kann sie rufen und unter die Waffen stellen, sobald er will, und kann sicher sein, dass kein Feind sie schlägt." Fichte beschwört die ganze Nation, sich aufzuraffen für das neue Leben; er ruft das Bild der Reformation wach, die Angst um das ewige Heil, das in dem Gemüte des deutschen Mannes Luther gezündet und wie ein fortlaufendes Feuer die Nation ergriffen habe; ein Unterpfand ihres neuen Berufs ist ihm die deutsche Sprache, die er als eine lebende Ursprache feiert, im Vergleiche mit den neulateinischen Sprachen, die er tot nennt, die für Charakter keinen besonderen Namen besitze, da Charakter haben und deutsch sein ohne Zweifel gleichbedeutend sei.

Seine Drohung mit dem Verluste dieser Sprache, sobald die Nation sich knechten lasse, sein Schelten auf die weichliche Führung der Staatszügel, seine Forderung eines strammen Regiments im Innern, selbst um den Preis einer ehr- und pflichtvergessenen Politik nach außen: alles das war der Ausdruck eines revolutionären Willens. Um diesen revolutionären Willen in seinen Hörern zu erwecken, schürte Fichte mit flammenden Worten in ihnen das Gefühl für die Schmach des Untergangs, der über sie hereingebrochen sei, aber er urteilte mild und schonend über die Sünder, die diesen Untergang verschuldet hatten; er machte der pamphletistischen Literatur, die nach Jena aufkam, den teilweise unbegründeten Vorwurf, dass ihre Verfasser nicht rechtzeitig gewarnt hätten; jeder Ehrenmann solle solche Schmähschriften, die ihm zum Lesen angeboten würden, mit gebührender Verachtung zurückweisen. Dann würden wir, ohne gewaltsame Bücherverbote, gar bald dieses schmachvollen Teils unserer Literatur erledigt werden.

Und hier setzt das Satyrspiel schon mitten in der Tragödie ein. Auch die gewaltigste Idee bedarf der realen Mittel, um sich auszuwirken, und da es keine revolutionäre Klasse in Deutschland gab, auf die der revolutionäre Denker sich stützen konnte, so musste er sich an die herrschenden Klassen wenden, an die gebildeten Stände, denen er schmeichelte, zum ersten Male solle ihnen die Fortentwicklung der Menschheit in der deutschen Nation anvertraut werden, während sonst die großen Nationalangelegenheiten immer zuerst ans Volk gebracht und von ihm weiterbefördert worden seien, und denen er drohte, im Falle ihres Zögerns sei das Volk schon beinahe vorbereitet und reif und werde sich „ohne alle unsere Beihilfe" selbst helfen können. Sie ließen sich aber weder durch Drohungen noch durch Schmeicheleien beirren, und durch „gewaltsame Bücherverbote" suchten sie die Hand zu lähmen, die sich ihnen großmütig verzeihend entgegenstreckte.

Fichte wollte jede der Reden, sobald er sie gehalten hatte, durch den Druck verbreiten, aber schon bei der ersten machte ihm die Zensur die ärgsten Schwierigkeiten. Gleich auf der ersten Seite dieser Rede liest man noch heute: „Innerhalb der drei Jahre, die seit dieser meiner Deutung des laufenden Zeitabschnitts (den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters) verflossen sind, ist irgendwo dieser Abschnitt vollkommen abgelaufen und beschlossen. Irgendwo hat die Selbstsucht durch ihre vollständige Entwicklung sich selbst vernichtet." Statt dieses „irgendwo" hatte Fichte gesagt und geschrieben: im preußischen Staate, und mit gleich blödsinnigen Lappen preußischer Staatsweisheit ist auch sonst das prachtvolle Gewebe seiner unvergleichlichen Beredsamkeit geflickt. Wenn die Lümmel der Zensur nicht noch ärger in den Reden gehaust haben, so teils aus Furcht vor Fichte, der sich nicht leicht einschüchtern ließ und auch einen gewissen Halt am Freiherrn vom Stein hatte, der damals noch an der Spitze der Regierung stand, teils weil sie ihr braves Publikum kannten und sich gegenseitig zuraunten, es werde dies kauderwelsche Zeug ja doch nicht verstehen. Für diese ungewohnte Zurückhaltung rächten sie sich dadurch, dass sie das Manuskript der dreizehnten Rede überhaupt vertrödelten, zu Fichtes größtem Zorne.

Unerbittlich waren sie nur gegenüber jedem Worte, das die französische Besatzung reizen konnte, und hier half auch Stein nicht. Er wollte den Satz nicht passieren lassen: „Ob aber jemals es uns wieder wohl gehen soll, dies hängt ganz allein von uns ab, und es wird sicherlich nie wieder ein Wohlsein an uns kommen, wenn wir nicht selbst es uns verschaffen"; Fichte musste sich zu dem sinnentstellenden Zusatz verpflichten: „Und insbesondere, wenn nicht jeder einzelne unter uns in seiner Weise tut und wirket, als ob er allein sei und als ob lediglich auf ihm das Heil der künftigen Geschlechter beruhe." Die Franzosen sind als solche in Fichtes Reden nicht erwähnt; nur gelegentlich wird von dem „Sieger" oder auch von „unseren Gästen" gesprochen. Beachtet haben sie jedenfalls diese feurigen Aufmahnungen zur deutschen Vaterlandsliebe nicht, obgleich Fichtes Reden Musterbeispiele jener Ideologie waren, die Napoleon zugleich verachtete und fürchtete. Bei Fichte aber war es keine leere Redensart, wenn er seine Reden auf die Gefahr des Todes halten wollte; den ängstlichen Zugeständnissen der Zensur an die französische Fremdherrschaft hat er sich mit seiner ganzen Kraft widersetzt.

Über die Masse der „gebildeten Stände" flogen die Reden Fichtes dahin wie ein Zug von Kranichen; niemals ist ein Versuch gemacht worden, seine Utopie zu verwirklichen; auch die preußischen Reformer haben nicht daran gedacht. Nur in die Studentenschaft drangen sie ein, und aus ihrem Geiste wurde die deutsche Burschenschaft geboren. So wurden sie denn auch in den Demagogenverfolgungen nach den Karlsbader Beschlüssen im preußischen Staate verboten, gemäß der Gewohnheit dieses hartgesottenen Sünders, am ärgsten zu freveln, wo er am ehesten Scham und Scheu hätte empfinden sollen.

Aber im selben Jahre, wo dies Verbot erfolgte, wurde dem Idealismus Fichtes der letzte Jünger geboren und auch der echteste. Von keinem, die nach Fichte kamen, ist dieser Idealismus in seines Wesens Wesenheit so scharf erfasst und so tief verstanden worden wie von Ferdinand Lassalle. Er trat das politische Vermächtnis Fichtes an, indem er es den verwüstenden Händen der „gebildeten Stände" entriss und als große Nationalangelegenheit an das Volk brachte, das nun reif geworden war, auf alle Hilfe zu verzichten, und seither mit rüstigen Händen schafft, das erhabenste Bild Fichtes zu verwirklichen, das sich erst dem Blicke des sterbenden Sehers entschleierte: jenes wahrhafte Reich des Rechtes, gegründet auf Freiheit und auf Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt.

1 Gemeint ist der Generalfeldmarschall von der Goltz und dessen Schrift „Von Roßbach bis Jena und Auerstädt".

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