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Franz Mehring 19100715 Historischer Materialismus

Franz Mehring: Historischer Materialismus

15. Juli 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 545-552. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 407-417]

Antonio Labriola, Zum Gedächtnis des Kommunistischen Manifestes. Eingeleitet und übersetzt von Franz Mehring. Mit einem Bildnis des Verfassers. Leipzig 1909, Verlag der Leipziger Buchdruckerei A.-G. 42 Seiten. Preis 1 Mark.

Hermann Gorter, Der historische Materialismus. Für Arbeiter erklärt. Aus dem Holländischen übersetzt von Anna Pannekoek. Mit einem Vorwort von Karl Kautsky. Stuttgart 1909, Verlag von J. H. W. Dietz Nachf. 128 Seiten. Preis broschiert 75 Pfennig, gebunden 1 Mark (Vereinspreis 50 Pfennig).

G. Plechanow, Die Grundprobleme des Marxismus. Autorisierte Übersetzung von M. Nachimson. Stuttgart, Verlag von J. H.W. Dietz Nachf. 112 Seiten. Preis broschiert 75 Pfennig, gebunden 1 Mark (Vereinspreis 50 Pfennig).

Diese drei Schriften haben das Gemeinsame, dass sie – obgleich nur eine von ihnen es schon im Titel ausspricht – knapp und kurz gefasste Darstellungen des historischen Materialismus oder genauer der historisch-materialistischen Methode sind. Sie sind alle auf denselben Grundton gestimmt und von demselben Geist beseelt, aber sie unterscheiden sich auch, nicht nur darin, dass jeder der Verfasser einer anderen Nation angehört, sondern auch darin, dass jeder eine eigene Individualität ist und die Dinge mit seinen eigenen Augen ansieht. Es ist ein mehrstimmiges Konzert, das in voller Harmonie ausklingt, ein überzeugendes Gegenstück zu dem eintönigen Singsang von der „Schablone", die angeblich der historische Materialismus sein soll.

I

Die Schrift Labriolas ist die älteste von den dreien; sie ist schon im Jahre 1895 verfasst worden, als eine Gedenkschrift zum fünfzigsten Geburtstag des „Kommunistischen Manifestes", der damals in drei Jahren bevorstand. Sie ist aber nichts weniger als eine Gelegenheitsschrift, obgleich der Verfasser selbst sie dafür zu erklären schien, indem er sagte, dass er weder eine Analyse noch einen Kommentar der weltgeschichtlichen Urkunde geben wolle. Indem er die Entstehungsgeschichte des „Manifestes" schilderte und zugleich dessen Wirkungen in den Kreis seiner Darstellung zog, gab er doch beides, sowohl eine Analyse wie einen Kommentar. Als leicht fassliche und durchsichtig klare Einführung in die Gedankenwelt des „Manifestes" ist Labriolas Arbeit eine vortreffliche Ergänzung zu der Schrift von Engels über die „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft".

Dieser sachliche Wert der Schrift hat mich in erster Reihe dazu veranlasst, sie zu übersetzen, wozu der Wunsch kam, auch der deutschen Parteiliteratur eine Schrift des Mannes einzuverleiben, der in den Jahrbüchern des internationalen Sozialismus fortleben wird als der Besten einer von denen, die das Werk von Marx und Engels fortgeführt haben. Neben Paul Lafargue, den wir das Glück haben, noch rüstig schaffen zu sehen, hat Labriola das größte Verdienst daran, die Schranken niedergerissen zu haben, die der Ausbreitung des internationalen Sozialismus durch die Unterschiede der überlieferten Denk- und Sprachformen zwischen dem deutschen Volke und den romanischen Nationen gezogen sind.

Niemand war sich über die Schwierigkeit dieser Aufgabe klarer als Labriola selbst, eben weil er, den auch bürgerliche Blätter bei seinem Hinscheiden als „den eifrigsten und kenntnisreichsten Vermittler deutschen Geisteslebens in Italien" rühmten, am fähigsten war, sie zu lösen. Die Erläuterung der Werke von Marx und Engels wollte er den Deutschen überlassen wissen; wenn Marx und Engels auch internationale Geister gewesen seien, so sei doch die Form ihrer Gehirne, der Gang ihrer Produktion, die Organisation ihrer Art zu sehen, ihre wissenschaftliche Bildung und ihre Philosophie die Frucht und das Resultat deutscher Kultur. Schon die bloße Übersetzung ihrer Werke in romanische Sprachen hielt Labriola für halb unmöglich; was im Deutschen voll Kraft und Klarheit sei, erscheine zum Beispiel im Italienischen kalt, ohne Relief und manchmal selbst als reiner Galimathias. So hat auch Engels gelegentlich von der „Verflachung" gesprochen, die der erste Band des „Kapital" in der französischen Übersetzung erlitten habe, obgleich diese von Marx selbst durchgesehen worden ist. Dass die eigentliche Schwierigkeit mehr noch in der Verschiedenheit der Denk- als der Sprachformen liegt, dafür scheint auch die Tatsache zu sprechen, dass der zweite und der dritte Band des „Kapital" von einem Deutschen, dem Genossen Julian Borchardt, ins Französische übersetzt worden sind.

Nichts aber wäre törichter, als daraus eine Überlegenheit der deutschen Kultur über die Kultur der romanischen Nationen zu folgern. Im sechzehnten Jahrhundert hat sich die deutsche Kultur an der italienischen, im achtzehnten Jahrhundert an der französischen Kultur empor gerankt. Wenn man in Lessing den Schöpfer unserer modernen Prosa erblickt, so sind die Diderot und Voltaire seine Lehrmeister gewesen. Es waren Zustände des traurigsten Verfalls, die die deutsche Kultur zwangen, eine letzte Zuflucht in Denk- und Sprachformen zu suchen, die sich durch einen tiefen Abgrund von den Denk- und Sprachformen der romanischen Nationen schieden. Ist dieser Abgrund ausgeglichen, so können die Deutschen von den Franzosen und Italienern ebenso viel lernen wie umgekehrt die Franzosen und Italiener von den Deutschen. Lessing bewunderte schon an den französischen Denkern, wie sie immer den guten Geschmack zu wahren wüssten, ohne je mit ihrer Gelehrsamkeit zu prahlen, und wenn man einen Aufsatz Labriolas oder Lafargues neben Aufsätze deutscher Sozialisten über ähnliche Themata legt, so ist man manches Mal versucht, das Wort Labriolas umzukehren: drüben Klarheit und Kraft, hüben scheinbar der reine Galimathias.

Unter diesem Gesichtspunkt scheint es mir nützlich zu sein, solche Arbeiten wie Labriolas Schrift auch den deutschen Genossen zugänglich zu machen. In ihrem Kern ist sie eine Abhandlung über den historischen Materialismus; mit Recht sagt Labriola: „Der Nerv, das Wesen, der entscheidende Charakter des ‚Kommunistischen Manifestes' sind ganz in der neuen Geschichtsauffassung enthalten, die es beseelt. Dank dieser Auffassung hörte der Kommunismus auf, eine Hoffnung, eine Sehnsucht, eine Erinnerung, eine Vermutung, ein Ausweg zu sein, und fand zum ersten Male seinen angemessenen Ausdruck in dem Bewusstsein seiner Notwendigkeit, das heißt in dem Bewusstsein, dass er das Ende oder die Lösung der gegenwärtigen Klassenkämpfe sei." Labriola hat den historischen Materialismus, wie ihn Marx und Engels entwickelt haben, vollkommen durchdrungen, aber er reproduziert ihn als selbständiger Denker.

So kann seine Schrift, wie ich meine, auch dazu beitragen, die Bande des internationalen Sozialismus fester zu knüpfen.

An Gorters Schrift muss man, wenn man ihr gerecht werden will, einen anderen Maßstab anlegen als an die Arbeit Labriolas. Sie will, wie sie schon in ihrem Titel sagt, den Arbeitermassen den historischen Materialismus erklären, und sie versucht diesen Zweck zu erreichen, indem sie an einer Reihe leicht fasslicher, keine besonderen historischen Kenntnisse voraussetzender Beispiele die Abhängigkeit der Wissenschaften, der Erfindungen, des Rechtes, der Politik, der Sitte und Sittlichkeit, der Religion und Philosophie, der Kunst von der ökonomischen Produktionsweise darlegt.

Die Notwendigkeit dieser Aufgabe liegt auf der Hand, aber nicht minder die Schwierigkeit, sie zu lösen. Der Stoff des historischen Materialismus ist nun einmal die Historie, und eine historische Forschungsmethode zu erklären ohne die Voraussetzung historischer Kenntnisse scheint ein Widerspruch in sich selbst zu sein. In der Tat aber kennen die Arbeiter, so arm sie an historischen Kenntnissen sein mögen, doch historische Zustände, und die wichtigsten dazu, nämlich die historischen Zustände, in denen sie selbst leben, und an ihnen lässt sich der historische Materialismus allerdings aufzeigen, wenn auch keineswegs in erschöpfender Weise. Denn die historischen Zustände, in denen die modernen Arbeiter leben, sind selbst nur das Produkt einer historischen Entwicklung, die sich ohne historische Kenntnisse nicht verstehen lässt.

Es mag deshalb fraglich sein, ob sich den Arbeitern das Verständnis der materialistischen Geschichtsauffassung nicht doch leichter erschließen lässt durch Darstellungen eines bestimmten Stückes Geschichte, wo sie dem Stoff selbst die Methode absehen können, als durch die agitatorisch-diskussive Form, die unser holländischer Genosse gewählt hat. Nehmen wir als Beispiel den „Deutschen Bauernkrieg" von Engels, so wird ein Arbeiter, der ihn aufmerksam liest, viel mehr vom historischen Materialismus und namentlich auch dem Zusammenhang ökonomischer mit religiösen Fragen begreifen, als wenn ihm Genosse Gorter in dem Kapitel über Religion und Philosophie auseinandersetzt, dass mit dem Emporkommen der modernen kapitalistischen Warenproduktion auch die protestantische Religion, das bürgerliche Selbstbewusstsein aufgekommen sei. So individualistisch der Bürger, so individualistisch sei seine Religion, so einsam wie er sei sein Gott geworden.

In diesem Kapitel setzt das Büchlein denn auch ganz bedeutende historische Kenntnisse voraus, um nicht einmal nur verstanden, sondern überhaupt, um nicht gründlich missverstanden zu werden. Um zu zeigen, wie das Bild Gottes immer mehr vereinsamt und immer mehr vergeistigt worden sei, als Bild des individualistischen, bürgerlichen Menschen, sagt Genosse Gorter, bei den großen Philosophen des siebzehnten Jahrhunderts, Descartes, Spinoza, Leibniz, sei Gott zu einem riesigen Wesen geworden, innerhalb dessen alles, außerhalb dessen nichts sei. Bei Spinoza sei Gott ein Riesenkörper mit einem Riesengeist, außer dem nichts sei und der immerfort frei sich bewege und denke. Man schalte einmal aus seinem Kopfe aus, was man von Descartes, Leibniz und Spinoza weiß, und versuche, sich aus diesen Sätzen eine Vorstellung dieser Philosophen zu machen, und man wird zugeben, dass auf solche Weise den Arbeitern der historische Materialismus nicht klargemacht werden kann.

Jedoch gebietet die Gerechtigkeit anzuerkennen, dass dies Kapitel über Religion und Philosophie und daneben etwa noch das Kapitel über die Kunst, das übrigens noch nicht ganz eine Druckseite füllt, die anfechtbarsten Teile der Schrift sind und dass, wenn der Verfasser in ihnen seinem Gegenstand nicht ganz gerecht geworden ist, dies Misslingen nicht sowohl seinem Können und Wollen, als der Sache selbst zuzuschreiben ist. In den übrigen Kapiteln hat er meist mit großem Geschick verstanden, seiner Aufgabe gerecht zu werden, so wie er sie sich einmal gesteckt hat.

Allen Arbeitern, die sich zunächst einmal im allgemeinen orientieren wollen, was es mit dem historischen Materialismus auf sich hat, kann die Schrift Gorters durchaus empfohlen werden; sie werden reiche Anregung daraus schöpfen.

III

Die Schrift Plechanows ist zuerst in einer russischen Zeitschrift erschienen; sie ist, wie der Übersetzer in seinem Vorwort hervorhebt, eine Streitschrift gegen verschiedene Richtungen des russischen Geisteslebens, woraus sich ergibt, dass sie manche Fragen, die für russische Leser interessanter sind als für deutsche, gründlicher behandelt, andere Fragen wieder, die für deutsche Leser interessanter sind als für russische, flüchtiger streift.

Jedoch wird der Wert der Schrift dadurch nicht wesentlich beeinträchtigt. Sie ist ein außerordentlich lehrreiches Kompendium des historischen Materialismus, in dessen Literatur die Schrift einen dauernden Platz behaupten wird. Man muss staunen, welch gewaltiges Material unser russischer Genosse, dank seiner ausgebreiteten Belesenheit in der Literatur aller Kulturvölker und dank seiner konzentrierten Denkfähigkeit, auf dem engen Räume von kaum hundert kleinen Druckseiten lichtvoll zusammenzufassen und dadurch den unaufhaltsamen Siegeslauf des historischen Materialismus darzustellen gewusst hat. Eine leichte Lektüre wie Gorters und in gewissem Sinne selbst Labriolas Schrift ist die Arbeit Plechanows freilich nicht, aber es lohnt sich, sie zu durchackern.

Ihre gedrängte Darstellung macht es unmöglich, ihren Inhalt in wenigen Sätzen zusammenzufassen, und ich bescheide mich, bei einem Punkte zu verweilen, dessen Aufklärung gegenwärtig besonders notwendig ist, aber auch in der Darstellung Plechanows meines Erachtens nicht völlig aufgeklärt oder, wie ich vielleicht richtiger sagen sollte, zwar völlig aufgeklärt worden ist, aber dann doch wieder durch einige minder genaue Sätze Plechanows zum Gegenstand neuer Zweifel werden kann.

Es handelt sich um die Manie, den Marxismus „nach seiner philosophischen Seite hin zu ergänzen", dieselbe Manie, gegen die ich mich vor einigen Monaten an dieser Stelle gewandt habe. Ganz unabhängig voneinander – denn als Plechanow seine Aufsätze für die russische Zeitschrift schrieb, konnte er von meinem noch nicht geschriebenen Aufsatze nichts wissen, während ich, als ich diesen Aufsatz schrieb, bei meiner Unkenntnis der russischen Sprache nichts von seinen Essays wusste – sind wir zu demselben Ergebnis gekommen. Marx und Engels sind immer auf dem philosophischen Standpunkt Feuerbachs geblieben, soweit sie ihn nicht durch die Überleitung des Materialismus aufs historische Gebiet erweitert und vertieft haben; sie sind, um die Sache klipp und klar auszudrücken, auf naturwissenschaftlichem Gebiete ebenso mechanistische Materialisten gewesen wie auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiete historische Materialisten.1 Plechanow hat jedoch diesen Nachweis weit eingehender geführt als ich, und zwar so gründlich, dass darüber kein Wort mehr verloren zu werden braucht.

Feuerbachs Materialismus führt am letzten Ende auf Spinoza zurück, der zuerst unter den modernen Philosophen die Einheit von Denken und Sein und die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens vertreten hat, wenn auch nur erst auf theologischem Standpunkt oder – um den Genossen Stern nicht zu sehr zu kränken – in theologischer Form. In den landläufigen Geschichten der Philosophie pflegen als seine Gegenfüßler einerseits die französischen Materialisten und andererseits Leibniz und dessen deutsche Nachfolger genannt zu werden. Nun hat Plechanow schon in früheren Schriften nachgewiesen, dass viele französische Materialisten, und gerade die hervorragendsten unter ihnen, nichts als enttheologisierte Spinozisten gewesen seien, während schon Lessing gesagt hat, Leibniz sei „im Grunde Spinozist" gewesen. Leibniz vertheologisierte Spinozas Lehre von der Einheit des Denkens und Seins durch die „prästabilierte Harmonie", durch die Annahme, dass die Übereinstimmung von Geist und Materie, von Seele und Leib von Anbeginn durch einen überirdischen Ratschluss angeordnet worden sei, ein Zugeständnis an den Herrn aller Heerscharen, das bis auf den heutigen Tag sehr beliebt ist, nur dass sich die „prästabilierte Harmonie" noch etwas zungenbrecherischer in „psychophysischen Parallelismus" umgetauft hat.

Die Behauptung, dass Marx und Engels den mechanischen Materialismus abgeschworen haben sollen, erinnert nun aufs lebhafteste an den alten Streit darüber, ob Lessing Leibnizianer oder Spinozist gewesen sei. Lessing war in seiner Jugend unzweifelhaft ein Leibnizianer, so dass er in Spinoza nur einen „berufenen Irrgläubigen" sah. Als er dann zu seinen Jahren kam, sagte er der Metaphysik ab: „Der Mensch ward zum Handeln und nicht zum Vernünfteln geschaffen." Gleichwohl trat er für Leibniz gegen die seichten Aufklärer ein; jedoch als Moses Mendelssohn – der „Urtyp eines Seichtbeutels", wie Marx ihn einmal nennt – auf den famosen Einfall kam, die „prästabilierte Harmonie" sei schon bei Spinoza zu finden, antwortete ihm Lessing – dem Sinne nach – mit köstlicher Ironie: „Freilich ist Leibniz durch Spinoza auf die Spur gekommen, aber die ,prästabilierte Harmonie' ist doch seine eigene Weisheit. Denken Sie sich zwei Wilde, die sich zum ersten Male im Spiegel erblicken und, nachdem die erste Verwunderung vorbei ist, darüber philosophieren. Das Bild in dem Spiegel macht dieselben Bewegungen wie der Körper und macht sie in der nämlichen Ordnung. Folglich, schließen beide, müssen die Bewegungen des Körpers und des Bildes dieselbe Ursache haben. Aber über diese Ursache können sie sich nicht einigen. Der eine sagt: es ist nur eine Bewegung, die sich zweimal darstellt, der andere aber: Bild und Körper bewegen sich, jeder für sich, aber sie sind durch eine verborgene Macht so eingerichtet, dass ihre Bewegungen übereinstimmen." Nun hat es Lessing für überflüssig gehalten zu sagen, welche dieser beiden Meinungen er für die richtige halte, und so haben sehr gelehrte Leute sehr gelehrte Abhandlungen darüber geschrieben, dass er durch dies Gleichnis sich für Leibniz und gegen Spinoza habe erklären wollen.*2

Blicken wir auf Marx, so war er, wie bekannt, in seiner Jugend Hegelianer. Als er zu seinen Jahren kam, sagte er dann in seinen Thesen über Feuerbach dem Sinne nach: „Der Mensch ist zum Handeln und nicht zum Vernünfteln erschaffen." Deshalb hat er doch Hegel immer gegen die seichte Aufklärung vertreten, und zwar wiederholt – im Nachwort zur zweiten Auflage des „Kapital" und in seinen Briefen an Kugelmann – unter Berufung auf den Streit Mendelssohns und Lessings über Spinoza. Marx hat sich ebenso wenig wie Lessing in seinen reifen Jahren mit philosophischen Systemen eingelassen, sondern, wo er auf Philosophie zu sprechen kommt, sie nach ihrer Stellung im historischen Leben gewürdigt. Wenn er aber mit dieser und jener Wendung von der abstrakten Einseitigkeit des mechanischen und naturwissenschaftlichen Materialismus gesprochen hat, so hat er es immer nur getan, um die Notwendigkeit des historischen Materialismus zu begründen, freilich ohne das Selbstverständliche noch erst weitläufig auseinanderzusetzen, was seine Art sowenig war wie die Art Lessings. Daraus haben dann philosophische Köpfe in der Partei gefolgert, dass er den mechanischen Materialismus überhaupt verworfen habe.

Diese Parallele zwischen Lessing und Marx lässt auch sonst manche praktische Nutzanwendung zu. Wenn anders Lessings Leben ein Kampf für die Emanzipation der bürgerlichen Klasse gewesen ist, so zeigt sie, dass der Klassenkampf den Blick für den realen Untergrund der Philosophie zwar schärft, aber ihn abstumpft für alle philosophischen Hirnwebereien, ja für diese mitunter auch trübt; es ist ja nicht zu bestreiten, dass zum Beispiel Engels in seiner Schrift über Feuerbach mit seinem an historischen Horizonten geschärften Blick die Spinnweben übersehen hat, die um Kants kostbares „Ding an sich" gewoben sind.

Man könnte danach einige Sorge empfinden, wenn in einer Partei, die so ganz und gar auf den Kampf um äußerst greifbare Dinge gestellt ist, Zweifel darüber auftauchen, ob diese Dinge Phänomena oder Noumena sind, oder wenn eine beliebige Modephilosophie, wie der Neulamarckismus, eingeladen wird, sich als würdiger Genosse neben dem Marxismus niederzulassen, auf dem Stuhl, den der mechanische Materialismus räumen soll.

Aber indem diese philosophischen Anläufe gänzlich im Sande verrinnen, sind sie doch eine negative Probe auf die innere Gesundheit der Partei.

IV

Damit komme ich auf den Genossen Plechanow zurück. In seiner Schrift finden sich einige Sätze, die die Propaganda für den Neulamarckismus innerhalb der Partei zu fördern geeignet sind, und so ungefährlich diese Propaganda sein mag, so wäre es doch nicht erwünscht, dass sie sich auf die Autorität des Genossen Plechanow berufen könnte. Eben weil ich diese Autorität sehr hoch stelle, halte ich für notwendig, ihr zu widersprechen, wo sie meines Erachtens irrt.

Nachdem Genosse Plechanow auf Seite 42 seiner Schrift die Mutationstheorie von de Vries (die Lehre von der sprunghaften Entwicklung der Arten) besprochen hat, fährt er wörtlich fort (die gesperrten [hier: kursiven] Worte sind auch bei ihm gesperrt):

Es sei dem noch hinzugefügt, dass sich in der modernen Naturwissenschaft, hauptsächlich unter den Neulamarckisten, die Lehre von der Beseeltheit der Materie verbreitet, das heißt die Lehre, dass die Materie überhaupt und die organische Materie im besonderen stets einen gewissen Grad der Empfindlichkeit besitzt. Diese Lehre ist von manchen (so beispielsweise von R. H. France in dem sonderbaren Werke: Der heutige Stand der Darwinschen Fragen, Leipzig 1907) als der direkte Gegensatz zum Materialismus aufgefasst worden. In Wirklichkeit, wenn man sie nur richtig versteht, ist sie dagegen die Übertragung der materialistischen Lehre Feuerbachs von der Einheit von Sein und Denken, von Objekt und Subjekt in die Sprache der modernen Naturwissenschaft. Man darf wohl mit Sicherheit behaupten, dass Marx und Engels, die diese Ansicht Feuerbachs geteilt haben, die erwähnte Richtung in der Naturwissenschaft mit dem größten Interesse verfolgt hätten, die allerdings vorläufig noch ungenügend entwickelt ist."

In diesen Sätzen sind verschiedene Gesichtspunkte durcheinander geworfen, die streng auseinandergehalten werden müssen. Es ist bekannt, dass sich seit zehn Jahren und länger auf naturwissenschaftlichem Gebiet eine starke Opposition gegen die darwinistische Theorie von der natürlichen Zuchtwahl als erklärendem Prinzip für die Entstehung und Umwandlung der Arten geltend macht und dass diese Opposition vielfach auf Lamarck zurückgeht, der jenes erklärende Prinzip in der aktiven Anpassung der Organismen an ihre Außenwelt gefunden hatte. Bei diesem Streite handelte es sich um rein naturwissenschaftliche Kontroversen, die sachlich von hohem Interesse, grundsätzlich aber von verhältnismäßig geringer Bedeutung waren. Der gemeinsame Boden blieb der mechanische Materialismus, durch den erst Lamarck und nach ihm Darwin zu ihrer Abstammungslehre gekommen waren, und auch der Streit um ihre verschiedenen Erklärungsprinzipien wurde keineswegs so geführt, als ob dabei sich ausschließende Gegensätze ins Spiel kämen. Gerade der Gelehrte, den man als Typ des einseitigen Darwinismus anzusehen gewohnt ist, gerade Haeckel hat schon vor 42 Jahren den Namen Lamarcks einer unverdienten Vergessenheit entrissen, und Haeckel hat stets das Erklärungsprinzip Lamarcks als sehr wichtig, wenn auch nicht als ausreichend anerkannt, während umgekehrt die eifrigsten Parteigänger Lamarcks die Selektionstheorie Darwins nicht als völlig hinfällig, sondern auch nur als nicht ausreichend bekämpft haben. Dieser ganze Streit trug also alle Vorbedingungen einer fruchtbaren Diskussion in sich, und Marx und Engels würden ihn, falls sie noch lebten, allerdings wohl mit lebhaftem Interesse verfolgt haben, so zum Beispiel die Mutationstheorie von de Vries, die übrigens der darwinistischen Theorie eine wichtige Stütze nur fort schlägt, um sie durch eine noch viel festere Stütze zu ersetzen.

Nun ist weiter die „Beseeltheit der Materie" keineswegs eine besondere Eigentümlichkeit Lamarcks. Im Gegenteil hat Lamarck nicht nur der anorganischen Materie „einen gewissen Grad von Empfindlichkeit" abgesprochen, sondern auch den Pflanzen, speziell den sogenannten Sinnpflanzen, wo die Sache sozusagen auf der Hand liegt wie bei der Mimosa pudica. Vielmehr geht die „Beseeltheit der Materie", wie ja Genosse Plechanow am besten weiß, auf Spinoza zurück, dessen Gedanken Genosse Stern treffend so erläutert: „Es ist völlig unerklärlich, dass in der Tierzelle die Empfindung wie aus der Pistole geschossen erscheint, sondern es muss notwendig geschlossen werden, dass auch dem Anorganischen eine freilich minimale und einfache psychische Qualität anhaftet, die sich auf der Skala der Lebewesen mehr und mehr potenziert und sublimiert." Diese „Beseeltheit der Materie" erkennen aber auch, wie Plechanow schon vor Jahren nachgewiesen hat, viele französische Materialisten an, während gerade Lamarck sie nicht anerkennt.

Deshalb und auch aus anderen Gründen nennen sich die Neulamarckisten, eine Gruppe von Privatdozenten und Professoren (France, Pauly, Ad. Wagner, J. G. Vogt und andere), die sich seit ein paar Jahren in der „Zeitschrift für den Ausbau der Entwicklungslehre" ein eigenes Organ geschaffen haben, nach Lamarck nur mit demselben Rechte, womit sich Herr Sombart und ähnliche Geister nach Marx benennen. Diese Neulamarckisten verwerfen die darwinistische Theorie ganz und gar; ihre kühnsten Geister nennen sie sogar eine „Biertischwissenschaft".** An ihre Stelle setzen sie eine neue Auflage der alten Lehre von der Lebenskraft, so dass es nicht „sonderbar", wie Plechanow meint, sondern vielmehr sehr logisch ist, wenn sie den Materialismus widerlegen zu können glauben. Ihre Lehre will in erster Reihe Philosophie sein; als solche steht sie aber in schreiendem Gegensatz zur Philosophie Feuerbachs; sie reiht sich vielmehr würdig jenen Philosophien an, die aus dem Bedürfnis geboren sind, den lieben Herrgott samt seinem Gefolge von „kundigen Staatenlenkern", von Rittern und Heiligen wieder ins Universum einzuführen. Sie ist eine entartete Tochter Schopenhauers und eine echte Schwester Eduard v. Hartmanns, den die Neulamarckisten denn auch als glorreichen Überwinder Darwins und bedeutendsten Philosophen der Gegenwart preisend auf den Schild heben.

Immerhin beweist diese sonderbare Blüte am Baume der Menschheit, von der Kehrseite her, weshalb Marx und Engels für die Naturwissenschaft stets am mechanischen Materialismus festgehalten haben. Deshalb mag sie im nächsten Hefte ein wenig genauer betrachtet werden. Für heute will ich nur noch bemerken, dass ich natürlich weit entfernt bin, den Genossen Plechanow für diese Philosophie verantwortlich zu machen. Sie widerspricht aufs schroffste allem, was er je geschrieben hat. Wenn er sie in den Sätzen, die ich bekämpfe, zwar nicht ohne ein gewisses unheimliches Gefühl, aber doch anerkennend erwähnt, so erklärt es sich wohl daraus, dass er seine Essays zu einer Zeit geschrieben hat, wo sich der Neulamarckismus noch im Keimzustand befand, sich eben erst aus der an sich zunächst fruchtbaren Diskussion zwischen Darwinismus und Lamarckismus entwickelte.

Ist es doch kaum ein Jahr her, seitdem Herr Adolph Wagner, Privatdozent an der Universität Innsbruck, alle holden Geheimnisse dieser Philosophie mit schellenlauter Naivität aufgedeckt hat.

1 Das unterschlägt völlig den grundlegenden Unterschied zwischen dem dialektischen Materialismus von Marx und Engels und einem mechanischen Materialismus. Mehring vertritt hier einen schiefen Begriff von mechanischem Materialismus. Weiter unten bezeichnet er Darwin als mechanischen Materialisten, der laut Engels ein unbewusster Dialektiker war.

* Beiläufig möchte ich dies Gleichnis Lessings der Aufmerksamkeit des Genossen Stern empfehlen, der in seiner ausgezeichneten Monographie Spinozas den Unterschied zwischen Materialismus und Spinozismus meines Erachtens viel zu scharf betont, dagegen gelegentlich von einem „psychophysischen Parallelismus" Spinozas spricht und sich dabei auf Wundt beruft. Wundt ist von der ersten bis zur zweiten, dreißig Jahre später erscheinenden Auflage seiner „Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele" vom Standpunkt Spinozas auf den Standpunkt Leibnizens übergegangen, was Haeckel, so wenig mit dessen Philosophie sonst Staat zu machen sein mag, doch mit Recht als einen totalen Prinzipienwechsel und gewaltigen Rückschritt auffasst.

2 Bei Lessing lautet die Stelle wörtlich: „Darin bin ich noch Ihrer Meinung, dass es Spinoza ist, welcher Leihnizen auf die vorherbestimmte Harmonie gebracht hat. Denn Spinoza war der erste, welchen sein System auf die Möglichkeit leitete, dass alle Veränderungen des Körpers bloß und allein aus desselben eigenen mechanischen Kräften erfolgen könnten. Durch diese Möglichkeit kam Leibniz auf die Spur seiner Hypothese. Aber bloß auf die Spur; die fernere Ausspinnung war ein Werk seiner eigenen Sagacität... Wollen Sie mir ein Gleichnis erlauben? Zwei Wilde, welche beide das erste Mal ihr Bildnis in einem Spiegel erblicken. Die Verwunderung ist vorbei, und nunmehr fangen sie an, über diese Erscheinung zu philosophieren. Das Bild in dem Spiegel, sagen beide, macht eben dieselben Bewegungen, welche ein Körper macht, und macht sie in der nämlichen Ordnung. Folglich, schließen beide, muss die Folge der Bewegungen des Bildes, und die Folge der Bewegungen des Körpers sich aus einem und eben demselben Grunde erklären lassen." (Gotthold Ephraim Lessing: Durch Spinoza ist Leibniz nur auf die Spur der vorherbestimmten Harmonie gekommen. In: Gesammelte Werke, Siebenter Band, Berlin 1956, S. 307, 309.)

** „Aber der Darwinismus? Die Selektionslehre? Sie ist künstliche Entwicklungslehre, sogar mehr: gekünstelte Entwicklungslehre. Der große Anhang, den diese Lehre, vielleicht eben ihrer Oberflächlichkeit wegen, in der großen Menge hat, beweist nichts. Der kundige Staatenlenker sieht verächtlich auf die Äußerungen der sogenannten Biertischpolitik herab und weiß die Kannegießerei zu würdigen. Es gibt auch eine Biertischwissenschaft." Ad. Wagner, Privatdozent an der Universität Innsbruck, Geschichte des Lamarckismus, als Einführung in die psycho-biologische Bewegung der Gegenwart. Franckhsche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, Seite 115.

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