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Franz Mehring 19040127 Immanuel Kant

Franz Mehring: Immanuel Kant

Januar/Februar 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Erster Band, S. 553-559 u. 627-633. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 41-56]

I

Als Lassalle seine bekannte Festrede zu Fichtes hundertstem Geburtstag hielt, erklärte er es für seine Aufgabe, in Fichtes Tracht und Gewandung einherzugehen und Fichtes Farben zu tragen. Das war im Jahre 1862 die würdigste Art, Fichtes Andenken zu ehren. Aber wenn wir heute in gleichem Sinne Kants Andenken ehren wollten, dessen hundertster Todestag auf den 12. Februar dieses Jahres fällt, so würden wir einen Anachronismus der ärgsten Art begehen. Was einen Mann wie Lassalle vor vierzig Jahren noch mit Fichte verband, das verbindet uns heute nicht mehr mit Kant, dank nicht zum wenigsten auch dem Denker und Kämpfer Lassalle. Mit der ganzen Weltanschauung Kants verknüpft uns nichts mehr als das rein historische Gefühl dankbarer Anerkennung, das wir den bahnbrechenden Männern der bürgerlichen Aufklärung schulden. Und ganz im Banne dieses Gefühls leben von allen, die auf dem Boden des modernen Sozialismus stehen, am Ende auch nur wir Deutsche.

Keiner von uns wird sich überwinden, in Kant einen „bürgerlichen Sophisten" zu sehen, wie es Genosse Lafargue vor einigen Jahren einmal getan hat. Aber gleichwohl war nichts wohlfeiler als die sittliche Entrüstung, die sich außerhalb und innerhalb der ilischen Mauern über das Urteil Lafargues erhoben hat. Wie ganz andere Ehrentitel sind von den ehrbarsten und sittsamsten Männern der deutschen Gelehrsamkeit über die d'Alembert und Diderot und Voltaire und nun gar über die Helvétius und Holbach und Lamettrie ausgeschüttet worden, ohne dass je ein Hahn danach gekräht hätte. Und doch stehen diese Männer historisch durchaus in gleicher Reihe mit Kant. Es kommt hinzu, dass Lafargue sein schroffes Urteil über Kant in sehr berechtigter Abwehr des Anspruchs gefällt hat, dass wir von Marx auf Kant zurückgehen sollen, und wenn uns Deutschen jemand zumuten wollte, von Marx auf Voltaire zurückzugehen, so würden wir am Ende auch antworten, dass die „bürgerliche Sophistik" das Gift gewesen sei, das der bürgerlichen Aufklärung, bewusst oder unbewusst, im Leibe rumort habe.

Freilich mutet uns niemand zu, von Marx auf Voltaire oder sonst einen französischen oder auch nur deutschen Aufklärer zurückzugehen. Dieser Anspruch wird allein für Kant erhoben, und er gestattet uns nun doch, an Kants hundertstem Todestag seine Farben zu tragen, wenn auch in einem anderen Sinne, als einst Lassalle die Farben Fichtes trug. Soll es Kants Ruhm sein, über alle Flucht der Zeiten hinweg die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens festgestellt zu haben, so verfahren wir ganz im Geiste seines Kritizismus, wenn wir zunächst einmal die Grenzen seines Erkenntnisvermögens untersuchen. Wir betreten damit einen sehr einsamen Pfad, aber wir glauben, einen Denker mehr dadurch zu ehren, dass wir in seinem Geiste handeln, als dass wir seine Worte nachbeten, was ohnehin zu seinem hundertsten Todestag in reichlichstem Maße geschehen wird.

II

Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben. Denn er hatte weder Leben noch Geschichte. Er lebte ein mechanisch geordnetes, fast abstraktes Hagestolzenleben in einem stillen abgelegenen Gässchen zu Königsberg, einer alten Stadt an der nordöstlichen Grenze Deutschlands. Ich glaube nicht, dass die große Uhr der dortigen Kathedrale leidenschaftsloser und regelmäßiger ihr äußeres Tagewerk vollbrachte als ihr Landsmann Immanuel Kant. Aufstehen, Kaffeetrinken, Schreiben, Kollegienlesen, Essen, Spazierengehen, alles hatte seine bestimmte Zeit, und die Nachbarn wussten ganz genau, dass die Glocke halb vier sei, wenn Immanuel Kant in seinem grauen Leibrock, das spanische Röhrchen in der Hand, aus seiner Haustür trat und nach der kleinen Lindenallee wandelte, die man seinetwegen noch jetzt den Philosophengang nennt." So Heinrich Heine, der damit in seiner genialen Weise den Punkt herausgegriffen hat, von dem aus man allein den Schlüssel zum Verständnis des historischen Kant gewinnt. Jedoch ist es irrtümlich oder allzu epigrammatisch ausgedrückt, wenn Heine sagt, dass Kant weder Leben noch Geschichte gehabt habe. Kants Lebensgeschichte ist sehr wohl zu beschreiben, wenn auch mehr in negativem als in positivem Sinne, mehr in dem Sinne dessen, was er nicht gelebt, als was er gelebt hat, immerhin aber doch in dem Sinne Spinozas: Omnis negatio est determinatio, jede Verneinung ist eine Bestimmung.

Kant war das Kind einer armen, wenn auch nicht so armen Handwerkersfamilie, dass er allzu arg von des Lebens Not bedrängt gewesen wäre. Die reiche Begabung, die er frühzeitig verriet, verschaffte ihm einige Freunde, die ihm förderlich waren, die gelehrte Laufbahn einzuschlagen. Zum Studium der Theologie bestimmt, erwarb er sich doch schon auf der Königsberger Universität philosophische, mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse. Namentlich Astronomie und Physik lernte er gründlich kennen, zum Teil auch Chemie und Mineralogie. Ob Haeckels Meinung, dass Kant das weite Gebiet der Biologie, selbst nach dem Maßstab der damaligen Zeit, vernachlässigt habe, zutreffend ist oder nicht, muss hier dahingestellt bleiben; soweit es sich dabei um Kants etwaige Schuld handelt, darf nicht der unglaublich verwahrloste Zustand der preußischen Universität unter Friedrich II. und auch nicht die Tatsache übersehen werden, dass ein Studium auf außerpreußischen Städten, zu dem Kant ohnehin nicht die Mittel gehabt hätte, strenge verboten war. Da Kant sich nicht überwinden konnte, die Kanzel zu besteigen, so lebte er nach Beendigung seiner Universitätsstudien im Hause ostpreußischer Junker als Hauslehrer, bis er sich als Privatdozent in Königsberg niederließ. Es geschah im Jahre 1755, wo er auch schon die Schrift über die Theorie des Himmels herausgab, die seinen Namen voraussichtlich am längsten in der Geschichte der Wissenschaften erhalten wird, damals aber ganz unbeachtet blieb, zum Teil allerdings oder auch vorzugsweise aus äußeren Gründen, da der Verleger während des Drucks fallierte und die Schrift nicht auf die Leipziger Messe gelangte. Professor wurde Kant erst im Jahre 1770, und wieder erst im Jahre 1781 veröffentlichte er die „Kritik der reinen Vernunft", die auch einige Jahre brauchte, um durchzudringen, so dass sie ihr allgemeines Ansehen erst gegen Ende dieses Jahrzehnts erobert hatte, etwa zugleich mit dem Ausbruch der Französischen Revolution.

In den nahezu fünfzig Jahren, seit der Rückkehr Kants nach Königsberg bis zu seinem Tode, hat er nun jenes einförmige und eintönige Dasein geführt, das Heine in wenigen Sätzen erschöpfend schildert. Das einzelne, was Kants Biographen darüber berichten, ist anekdotisches Material ohne historischen Wert. Dagegen ist von entscheidender historischer Bedeutung, was diesem Leben gefehlt hat. öffentliche Interessen in irgendeinem nationalen, politischen oder sozialen Sinne hat es für Kant nie gegeben. Es hat ihn nie gekümmert, dass er einige Jahre hindurch auf dem Wege gewaltsamer Eroberung russischer Untertan wurde; hatte er im Jahre 1755 seine Schrift über die Theorie des Himmels dem preußischen König Friedrich gewidmet, „unausgesetzt bestrebt", wie er in seinem alleruntertänigsten Huldigungsschreiben sagte, als „der niedrigste und ehrfurchtsvollste Untertan" „sich dem Nutzen seines Vaterlandes einigermaßen brauchbar zu machen", so kostete es ihn gar nichts, drei Jahre später, als Ostpreußen dem russischen Reiche einverleibt war, bei der Zarin Elisabeth in gleich ehrfurchtsvoller und niedriger Weise um eine Professur zu bitten. Man darf diese Dinge selbstverständlich nicht mit dem heutigen Maßstab messen und etwa einen Vorwurf gegen Kant daraus schmieden, dass er dem glorreichen Preußenkönig mit dem Gefühl vollkommener Wurstigkeit gegenübergestanden hat; eher ließe sich gegen ihn geltend machen, dass er nicht die Empörung eines Lessing oder Herder gegen den friderizianischen Despotismus empfunden hat. Aber es kommt hier weder auf Lob und Tadel, sondern auf die objektive Feststellung der Tatsache an, dass Kant von jedem Interesse und Verständnis für nationale und politische Fragen frei war.

Dabei war er eine durchaus unsoziale Natur, unsozial in dem Sinne, dass ihm jedes menschliche Gemeinschaftsleben gleichgültig oder gar verhasst war. Er verwarf die Ehe und ließ sie höchstens als Versorgungsanstalt gelten, indem er seinen Schülern empfahl, sich etwa durch das Vermögen der Frau fortzuhelfen, und er hat, wenn seine Biographen recht unterrichtet sind, in dieser Beziehung sogar einige Male den Kuppler gespielt. Seinen Blutsverwandten, so namentlich auch seinen Geschwistern gegenüber, hielt er sich äußerst reserviert und wies jeden Annäherungsversuch von ihrer Seite geflissentlich zurück. Wenn aber seine Biographen dies Verhalten damit erklären, dass Kant als ein geistig überaus hochstehender Mann nicht mit geistig tief stehenden Individuen habe verkehren mögen, mit denen er nur durch den Zufall der Blutsverwandtschaft verbunden gewesen sei, und dass er deshalb den Verkehr mit Fremden vorgezogen habe, die ihm geistig etwas hätten sein können, so ist doch zu sagen, dass auch dieser Freundschaftsverkehr bei Kant nur in sehr rudimentärer Form entwickelt war. Sowenig er je das Weichbild von Königsberg überschritt, so schränkte er auch den brieflichen Meinungsaustausch mit verwandten Geistern aufs äußerste ein, und er lehnte es ab, wenn einer seiner Königsberger Freunde gestorben war, ein Wort der Erinnerung an den Toten auch nur zu hören. Er meinte, man müsse die Toten ihre Toten begraben lassen.

Von der verzehrenden und wilden Ungeduld, womit sich nicht nur die Lessing und die Herder, sondern auch die Schiller und Goethe, namentlich in ihren jungen Jahren, gegen die soziale Unnatur des damaligen Philisterlebens aufbäumten, war nichts in Kant. Er schickte sich gern in dieses Leben und erhob die philiströse Gesinnung auf die Höhe des kategorischen Imperativs. Einen hervorragenden Titel seiner persönlichen Tugend sah er darin, dass er nie in seinem Leben irgendeinem Menschen einen Heller schuldig gewesen sei. „Mit ruhigem und freudigem Herzen konnte ich immer Herein! rufen, wenn jemand an meine Tür klopfte", pflegte Kant nach der Versicherung seiner Biographen oft zu erzählen, „denn ich war gewiss, dass kein Gläubiger draußen stand." Zu diesem Genuss reiner Tugendfestigkeit ist der arme Lessing freilich nie gelangt, denn er hatte all sein Lebtag Schulden wie ein Major, und ebenso Herder. Nun ist es gewiss nicht das untrügliche Zeichen eines Genies, Schulden zu machen. Aber wer sich in den Tagen Kants, Lessings und Herders den Philisternetzen entreißen wollte und sonst ein armer Teufel war, konnte es nur auf die Gefahr hin, auch einmal einen Pump zu riskieren, und es war damals allerdings das untrügliche Zeichen eines Philisters, sich in der Überwindung dieser Gefahr wohlgefällig zu spiegeln.

Nicht einmal auf dem öffentlichen Gebiet, wo auch damals schon, bei aller eisernen Härte des Despotismus, ein Kampf gegen eine seiner Begleiterscheinungen möglich war, hat Kant diesen Kampf aufgenommen. Er ist niemals weder den orthodoxen noch den rationalistischen Pfaffen in die Haare gefahren, wie es Lessing und Herder, jeder in seiner Art, getan haben. Brachte er es dem weltlichen Despotismus gegenüber nicht einmal zum Gefühl der Empörung, so brachte er es dem geistlichen Despotismus gegenüber nur zur Empfindung vorsichtiger Scheu. Sieht man von seiner Schrift über die Theorie des Himmels ab, so revolutionierte er allein auf philosophischem Gebiet, und auch hier hüllte er seine Revolution in eine düstere und verkrachte Schulsprache, wodurch er sich an der deutschen Sprache arg versündigt hat, umso ärger, als er, wie manche namentlich seiner früheren Schriften zeigen, lebhaft und munter schreiben konnte. Buckle macht in seiner „Geschichte der englischen Zivilisation" die Bemerkung, dass zur Zeit, wo die englischen Aufklärer sich von dem pedantischen und schwerfälligen Gelehrtenstil emanzipiert hätten, um einfach, klar und leicht zu schreiben, die großen Schriftsteller der Deutschen ihre Muttersprache in einen Dialekt verwandelt hätten, so voll von verwickelten Wendungen, dass er den niederen Klassen ihres eigenen Landes völlig unverständlich sei. Dieser Vorwurf trifft aber nicht die großen Schriftsteller der Deutschen als solche, sondern wesentlich nur die Schriftsteller der klassischen Philosophie und unter ihnen in erster Reihe Kant, der dabei als Zweck verfolgte, was Buckle als Wirkung dieses Dialektes hervorhebt.

Trotz alledem kam Kant zuletzt in einen Konflikt mit der preußischen Zensur. Dass der siebzigjährige Mann nach dem ganzen Verlauf seines Lebens diesen Konflikt nicht gerade als Held bestand, ergibt sich zu sehr aus den Umständen selbst, als dass darüber ein Wort verloren zu werden brauchte. Bemerkenswerter ist, dass Kant viel mehr nachgab, als von ihm verlangt wurde, und an den König Friedrich Wilhelm II. schrieb: „Um auch dem mindesten Verdacht vorzubeugen, so halte ich es für das Sicherste, Ew. Königliche Majestät feierlich zu erklären, dass ich mich fernerhin aller öffentlichen Vorträge, die Religion betreffend, die natürliche wie die geoffenbarte, sowohl in Vorlesungen wie in Schriften als Ew. Majestät getreuester Untertan gänzlich enthalten werde." Mit den Worten „als Ew. Majestät getreuester Untertan" wollte Kant sich die Möglichkeit offenhalten, nach dem Tode des Königs wieder über Religion zu sprechen und zu schreiben.

Hierzu ließe sich vielleicht eher eine moralische Anmerkung machen, indessen hat es ja schon der antike Weltweise Sokrates verstanden, je nach Gelegenheit die Sophisten auf ihrem eigensten Gebiet zu übertrumpfen.

III

Mit diesen Feststellungen, die jeder Leser an jeder beliebigen Biographie Kants kontrollieren kann, zielen wir in keiner Weise auf eine moralische Verkleinerung Kants ab. Um es noch einmal zu wiederholen, so kommt es uns weder auf Lob noch Tadel an; wir wollen einfach das Erkenntnisvermögen Kants und die Grenzen dieses Vermögens feststellen.

Seine unbedingten Bewunderer machen sich diese Aufgabe sehr leicht, indem sie sagen: Gerade dadurch, dass Kant sich allem zerstreuenden Weltleben fernhielt und sich in sich selbst konzentrierte, wurde er der reine, interesselose, wissenschaftliche Denker, der über den Völkern und Zeiten thront. Diese Theorie, wonach sich die Aussicht des Menschen auf reine, interesselose, wissenschaftliche Denkfähigkeit in dem Grade steigert, worin er selbst sich verphilistert, mag sonst sehr genial sein, ist aber das gerade Gegenteil von Kants Ansicht. Nach Kant ist das menschliche Erkenntnisvermögen an sich leer und füllt sich erst durch die praktische sinnliche Erfahrung; alle Erkenntnis von Dingen, aus bloßem, reinem Verstand, ist ihm nichts als lauter Schein, und nur in der Erfahrung ist ihm Wahrheit. Wenn nun Kant allen Gebieten, auf denen heute der Kampf um die Befreiung der Menschheit geführt wird, vollkommen fern stand, wenn er auf ihnen nicht die geringste Erfahrung besaß, wenn er alles, was er darüber zu sagen hatte, aus fremden Quellen schöpfte, und was er daran änderte, nur aus „bloßem reinem Verstand" ändern konnte, so ergibt sich hieraus schon die ganze Sinnwidrigkeit des gassenläufigen Lärmes: Zurück auf Kant!, womit heute der proletarische Emanzipationskampf belästigt wird. Ebendeshalb aber waren jene tatsächlichen Feststellungen nötig, die gewiss nur die Grenzen von Kants Erkenntnisvermögen kennzeichnen, aber von seinem Erkenntnisvermögen an sich noch keinen Begriff geben.

Am großartigsten tritt dies Erkenntnisvermögen in der „ Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" hervor, der ersten Schrift von bleibender Bedeutung, die Kant überhaupt veröffentlicht hat. Er unternahm darin den Versuch, „die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newtonschen Grundsätzen abzuhandeln". Kant wies die Entstehung der Sonne und aller Planeten aus einer rotierenden Nebelmasse nach, was später von dem französischen Astronomen und Mathematiker Laplace weiter ausgeführt und mathematisch begründet wurde. Wir müssen die Kant-Laplacesche Theorie hier als bekannt voraussetzen und begnügen uns mit der tatsächlichen Bemerkung, dass sie noch heute in fast allgemeiner Geltung steht, jedenfalls noch durch keine bessere ersetzt ist. Wenn man nun aber erwägt, dass Kant nur die äußerst dürftige Universitätsbildung genossen hatte, die ihm seine Vaterstadt geben konnte, und dass er demnach neun Jahre lang nur bei ostpreußischen Junkern den Hauslehrer gespielt hatte – unter den drückenden und zwingenden Bedingungen, die mit dieser Sorte Hofmeisterei damals verbunden waren –, so gehört gleich sein erstes Auftreten mit einer Leistung, wie der Theorie des Himmels, zu den großartigsten Kundgebungen menschlichen Geistes, von denen die Geschichte der Wissenschaften zu berichten weiß.

Allein wenn diese Schrift das Erkenntnisvermögen Kants im glänzendsten Lichte zeigt, so zeigt sie auch in schärfster Weise die Grenzen seines Erkenntnisvermögens. Kant stellte sich tatsächlich mit der Schrift auf den Boden des Materialismus; seine „kosmologische Gastheorie" stützte sich ganz auf die mechanischen Bewegungserscheinungen der Gravitation. Hatte Newton noch eine ewige Dauer des Sonnensystems angenommen und dem lieben Gott den Beruf übrig gelassen, dies Uhrwerk einmal aufgezogen zu haben, so ging Kant darüber hinaus, indem er den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes, also die göttliche Tat, als einen geschichtlichen Vorgang nachwies. Indem Kant das Prinzip der Entwicklung in die Natur einführte, erreicht er eine Höhe materialistischen Denkens wie noch niemand vor ihm, seitdem Demokrit die materialistische Weltanschauung begründet hatte. Dass seine Theorie des Himmels im letzten Ende auf Demokrits Atomistik zurückging, konnte Kant auch nicht leugnen. Aber gleichwohl ohrfeigte er in dieser Schrift Demokrit und Epikur rechts und links als „ungereimt" und „unverschämt", da sie nicht begriffen hätten, dass eben deswegen ein Gott sei, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren könne.

Diese Tiraden sind Sophistereien der ärgsten Art, und die Bewunderer Kants täten klüger daran, anzuerkennen, dass hier eine wirkliche Grenze seines Erkenntnisvermögens vorliegt, in der sich scheuer und vorsichtiger Philistersinn objektivierte, als etwa zu sagen, dass Kant eine erlaubte Deckung gegen die Zensur gesucht hätte. Denn in diesem Falle sprächen sie ihrem Helden die allergewöhnlichste Loyalität und Klugheit ab, die ihn hätte hindern müssen, mit solcher Heftigkeit gegen die „allerunsinnigsten Meinungen" der Demokrit und Epikur loszugehen. Bestärkt werden wir in unserer wohlwollenderen Auffassung dadurch, dass sich in diesen grimmigen Ausfällen auch gleich eine andere Grenze des Kantischen Erkenntnisvermögens offenbart: nämlich sein gänzlicher Mangel an historischem Sinne, jene bekannte Schwäche der bürgerlichen Aufklärung, die vielleicht an keinem ihrer Vertreter so krass hervortritt wie an Kant, was sich ja auch vollkommen aus seinem ganzen Lebenslauf erklärt. Gerade an dieser Seite seines Erkenntnisvermögens lässt sich studieren, wie sehr sie durch die sozialen Verhältnisse, worin Kant lebte, verkümmert worden ist. In derselben Schrift, worin Kant die Entstehung des Weltgebäudes als einen geschichtlichen Vorgang erläutert, zeigt er sich in der Geschichte des menschlichen Denkens so unbewandert, dass er Demokrit und Epikur durcheinanderwirft, ohne etwas von dem weltweiten Unterschied zwischen der Philosophie Demokrits und der Philosophie Epikurs zu ahnen, wie er denn auch noch einige Jahrzehnte später, in gänzlicher Umkehrung der historischen Richtigkeit, in Epikur den eigentlichen Vater des Materialismus gesehen hat. Da hätte er sich selbst von dem König Friedrich, dem die Schrift gewidmet ist, bessere Auskunft holen können, denn der wusste sehr gut, wo der eigentliche Schwerpunkt der epikureischen Philosophie lag.

Nicht mehr so glänzend wie in der Theorie des Himmels tritt Kants Erkenntnisvermögen in der „Kritik der reinen Vernunft" auf, die seinen Ruhm begründet hat. Dafür zeigen sich in ihr umso schärfer die Grenzen seines Erkenntnisvermögens, worauf wir demnächst zurückkommen.

In seinen jüngeren Jahren war Kant ein Anhänger der dogmatischen Philosophie gewesen, die, in Deutschland durch die Leibnizisch-Wolffische Schule vertreten, im philosophischen Denken ein Mittel zu haben glaubte, über den Sinnenschein hinaus zu dringen und das wahre Wesen der Dinge richtig zu erfassen, namentlich aus bloßen Begriffen die Wirklichkeit von Gott, Unsterblichkeit und Willensfreiheit zu beweisen. Aus diesem „dogmatischen Schlummer" wurde Kant durch den englischen Skeptizismus aufgeschreckt, der ganz und gar an der Erkennbarkeit der Dinge zweifelte, und in fortgesetzter Prüfung der, namentlich durch Hume, in ihm erregten Bedenken gelangte Kant zur „Kritik der reinen Vernunft", die im Jahre 1781 erschien und anfangs gar nicht beachtet wurde, aber dann nach einigen Jahren durchdrang und Kants Ruhm nun umso fester begründete.

Der Kern seiner Lehre bestand darin, um mit dem bedeutendsten Neukantianer, mit F. A. Lange (in seinem Kommentar zu Schillers philosophischen Gedichten), zu sprechen, dass die ganze Erscheinungswelt, wie wir sie mit unseren Sinnen und unserem Verstand auffassen, vollständig durch die Einrichtung unserer Sinne und unseres Verstandes bedingt wird und dass wir daher das wahre Wesen der Dinge (das „Ding an sich") nicht erkennen können, dass aber unsere Erkenntnis deshalb doch keineswegs zweideutig und wertlos, sondern vielmehr durch unabänderliche Gesetze geregelt, notwendig und von unserem Wesen unzertrennlich ist. Diese empirische Erkenntnis ist die einzige Art, wie wir von den Dingen überhaupt Kenntnis erhalten, wenn sie uns auch die Dinge nicht so zeigt, wie sie an sich sind, sondern wie der Mensch sie vermöge seiner Organisation notwendig sehen muss. Die Metaphysik, die diese Schranken übersteigen will, gerät notwendig in Irrtümer, so namentlich, wenn sie beweisen will, dass unseren Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit eine außerhalb liegende Wirklichkeit entspricht.

Will man die historische Bedeutung von Kants Vernunftkritik richtig würdigen, so darf man vor allen Dingen nicht übersehen, dass ihre Wirkung auf die Zeitgenossen in der Zertrümmerung der dogmatischen Philosophie lag, die wie ein Alp auf den geweckten Köpfen unter diesen Zeitgenossen lastete. Begreiflich genug, dass die Mitlebenden in Kants Kritizismus eine unumstößliche Wahrheit sahen, die ein einsamer Genius aus den Tiefen seines Denkens geschöpft habe, aber unbegreiflich genug, dass heute noch die „Zeitlosigkeit" der Kantischen Erkenntnistheorie überschwänglich gefeiert wird! Kants Ruhm strahlt in hellerem Lichte, wenn man die historische Tatsache feststellt, dass er einen die Geister verheerenden Wahn seiner Zeit zerstört hat, als wenn man ihn durch den Widersinn zu verherrlichen glaubt, dass er über seine Zeit erhaben gewesen sei.

Die „Zeitlosigkeit" der Kantischen Erkenntnistheorie zerschellt schon an der einfachen Tatsache, dass sie einen Anfang in der Zeit gehabt hat. Ihr Grundgedanke, dass wir die Dinge nicht erkennen, wie sie sind, sondern wie sie unseren Sinnen erscheinen, war lange vor Kant von Helvétius, Holbach und anderen französischen Materialisten ausgesprochen worden, wie er denn recht eigentlich dem Materialismus angehört.1 Schon Demokrit hat ihn verkündet, mit dem kleinen Unterschiede nur, dass Demokrit als das wirklich Seiende die Atome und das Leere auffasste – eine geniale Hypothese, die bekanntlich auf dem Gebiete der Naturwissenschaften zu den größten Entdeckungen geführt hat, wie besonders auch zu Kants Theorie des Himmels –, während Kant das wirklich Seiende als unerkennbares „Ding an sich" erklärte.

Um überhaupt davon zu reden, so bestand der große Fortschritt unserer klassischen Philosophie über den französischen Materialismus darin, dass sie das Prinzip der historischen Entwicklung in Natur und Geschichte einführte. Für die Geschichte hat Kant daran gar kein Verdienst, wohl aber das alleinige für die Natur. Seine Theorie des Himmels war ein gewaltiger Fortschritt über den Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts hinaus; durch sie wurde Kant ein Vorläufer Darwins, dessen einstmaliges Erscheinen als eines „Newtons der organischen Natur" er freilich als schlechter Prophet für eine „ungereimte" Hoffnung erklärte. Allein mit dem „Ding an sich" machte Kant – und zwar, wie wir gleich zeigen werden, aus nichts weniger als wissenschaftlichen Beweggründen – einen gewaltigen Rückschritt gegen den Materialismus. So hat Engels in Kant als dem Verfasser der Theorie des Himmels stets einen Ahnen des historischen Materialismus anerkannt, aber für das „Ding an sich" nur Worte scherzender Abfertigung übrig gehabt.

Nun wollen allerdings auch die Neukantianer von dem „Ding an sich" nicht gern mehr etwas wissen. Sie sagen, Kant habe damit nur die „unendliche Aufgabe der Erkenntnis" bezeichnen wollen. Es sei nicht das x eines fragwürdigen Rätsels, sondern das x einer unendlichen Gleichung, die wir in immer weiter schreitender Forschung zu lösen hätten. Wäre dies Kants Meinung gewesen, so wäre die Polemik, die Engels gegen das „Ding an sich" geführt hat, insofern zwar nicht hinfällig, aber überflüssig, als sie offene Türen eingestoßen hätte.2 Allein jene Auslegung der Neukantianer ist keineswegs Kants eigene Meinung. Freilich hat Kant, um sich aus dem Dickicht von Widersprüchen heraus zu wickeln, in die ihn sein „Ding an sich" verwickelte, gelegentlich auch Sätze geäußert, die sich im Sinne der Neukantianer deuten lassen, jedoch deshalb bleibt es nicht weniger wahr, dass die Unerkennbarkeit des „Dings an sich" das A und O seiner Erkenntnistheorie war, schon deshalb, weil er diese Unerkennbarkeit notwendig brauchte, um Gott, Unsterblichkeit und Willensfreiheit, die er eben durch die „Kritik der reinen Vernunft" vernichtet hatte, durch die „Kritik der praktischen Vernunft" wiederherzustellen. Wenn wir die „Dinge an sich" auch nicht erkennen können, so müssen wir sie uns doch denken können, und da bringt unsere praktische Vernunft, die über der reinen Vernunft steht, Gott, Unsterblichkeit und Willensfreiheit als notwendige Forderungen hervor.

Kant lässt sich darüber mit aller Deutlichkeit in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner „Kritik der reinen Vernunft" aus. Er hat sie im April 1787 geschrieben, zu einer Zeit, wo er noch gar nicht behelligt worden war, aber in seiner ängstlichen Natur doch das Bedürfnis fühlte, die hohe Obrigkeit zu beruhigen und, wenn möglich, auch die gesträubten Perücken der dogmatischen Philosophieprofessoren zu glätten. Er sagt hier, wenn wir von keinem Gegenstand als Dinge an sich selbst, sondern nur, sofern er Objekt der sinnlichen Anschauung sei, das ist als Erscheinung, Erkenntnis haben könnten, so bleibe dabei gleichwohl immer vorbehalten, dass wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenngleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können. „Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des notwendigen, praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwänglicher Einsichten benehme … Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen." Man sieht hier leibhaftig das Gespenst, das immer im Hause des deutschen Idealismus gespukt hat, in seiner Geburtsstunde mit Kants eben zitiertem Satze, wie in seiner Sterbestunde mit Stahls Satze: Die Wissenschaft muss umkehren.

Kant fährt dann weiter fort, der Verlust, den er der spekulativen Vernunft an ihrem bisherigen eingebildeten Besitz beigebracht habe, treffe nur das Monopol der Schulen, keineswegs aber das Interesse der Menschen: das unzulängliche Diesseits werde immer die Hoffnung eines künftigen Lebens, die bloße klare Darstellung der Pflichten im Gegensatz aller Ansprüche und Neigungen immer das Bewusstsein der (Willens-) Freiheit und die herrliche Ordnung, Schönheit und Vorsorge, die allerwärts in der Natur hervorblicke, immer den Glauben an einen weisen und großen Welturheber aufrechterhalten. Dann heißt es wörtlich so:

So bleibt ja nicht allein dieser Besitz ungestört, sondern er gewinnt vielmehr dadurch noch an Ansehen, dass die Schulen nunmehr belehrt werden, sich keine höhere und ausgebreitetem Einsicht in einem Punkte anzumaßen, der die allgemeine menschliche Angelegenheit betrifft, als diejenige ist, zu der die große (für uns achtungswürdigste) Menge auch ebenso leicht gelangen kann, und sich also auf die Kultur dieser allgemein fasslichen und in moralischer Absicht hinreichenden Beweisgründe allein einzuschränken. Die Veränderung betrifft also bloß die arroganten Ansprüche der Schulen, die sich gern hierin (wie sonst mit Recht in vielen anderen Stücken) für die alleinigen Kenner und Aufbewahrer solcher Wahrheiten möchten halten lassen, von denen sie dem Publikum nur den Gebrauch mitteilen, den Schlüssel derselben aber für sich behalten. Gleichwohl ist doch auch für einen billigeren Anspruch des spekulativen Philosophen gesorgt. Er bleibt immer ausschließlich Depositär einer dem Publikum, ohne dessen Wissen, nützlichen Wissenschaft, nämlich der Kritik der Vernunft; denn die kann niemals populär werden, hat aber auch nicht nötig, es zu sein; weil sowenig dem Volke die fein gesponnenen Argumente für nützliche Wahrheiten in den Kopf wollen, ebenso wenig kommen ihm auch die ebenso subtilen Einwürfe dagegen jemals in den Sinn; dagegen, weil die Schule, so wie jeder zur Spekulation sich erhebende Mensch, unvermeidlich in beide gerät, jene dazu verbunden ist, durch gründliche Untersuchung der Rechte der spekulativen Vernunft einmal für allemal dem Skandal vorzubeugen, das über kurz oder lang selbst dem Volke aus den Streitigkeiten aufstoßen muss, in welche sich Metaphysiker (und als solche auch wohl Geistliche) ohne Kritik unausbleiblich verwickeln und die selbst nachher ihre Lehren verfälschen. Durch diese kann man allein dem Materialismus, Fatalismus, Atheismus, dem freigeisterischen Unglauben, der Schwärmerei und Aberglauben, die allgemein schädlich werden können, zuletzt auch dem Idealismus und Skeptizismus, die mehr den Schulen gefährlich sind und schwerlich ins Publikum übergehen können, selbst die Wurzel abschneiden. Wenn Regierungen sich je mit Angelegenheiten der Gelehrten zu befassen gut finden, so würde es ihrer weisen Vorsorge für Wissenschaften sowohl als Menschen weit gemäßer sein, die Freiheit einer solchen Kritik zu begünstigen, wodurch die Vernunftbearbeitungen allein auf einen festen Fuß gebracht werden können, als den lächerlichen Despotismus der Schulen zu unterstützen, welche über öffentliche Gefahr ein lautes Geschrei erheben, wenn man ihre Spinneweben zerreißt, von denen doch das Publikum niemals Notiz genommen hat und deren Verlust es also auch nie fühlen kann.

Das alles ist vollkommen verständlich und tut der historischen Größe Kants keinen Eintrag, wenn man ihn als das nimmt, was er historisch war, als einen bürgerlichen Aufklärer. Die Art dieser Aufklärer war es nun einmal, für das Volk als die für sie „achtungswürdigste Menge" zu schwärmen, aber gleichwohl die Zumutung abzulehnen, die Perlen ihres Geistes vor Schuster und Schneider zu werfen, wie das Voltaire nicht anders als Kant getan hat. Kant geht freilich ein wenig weit, wenn er seine Vernunftkritik den Regierungen anpreist als das sicherste Mittel, das Volk in der Unvernunft zu erhalten, so dass es gegen Atheismus und Materialismus und freigeisterischen Unglauben immun werde, ja selbst nicht einmal durch Philosophen- und Pfaffengezänk argwöhnisch gemacht werden könne. Allein Kant war bürgerlicher Aufklärer eben nur unter den äußerst einschränkenden Bedingungen des preußischen Despotismus, was die Art seiner Aufklärung hinlänglich aufklärt.

Unverständlich wird die Sache erst, wenn der heutigen Arbeiterklasse geraten wird, von Marx, „dem Gefangenen der Doktrin", auf den unbestechlichen und unerschütterlichen Wahrheitsforscher Kant zurückzugehen.

V

Doch seien wir großmütig und lassen wir Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als „Postulate der praktischen Vernunft" laufen, zumal da die Neukantianer von ihnen so wenig hören mögen wie von dem „Dinge an sich".

Umso dringender verlangen sie, dass Kants Ethik um ihrer erhabenen Reinheit willen zum Eckstein der modernen Arbeiterbewegung gemacht werde. Nun ist diese Erhabenheit von jener Art, die nur einen Schritt zum Lächerlichen gebraucht. Nirgends ist Kant so sehr Philister wie gerade in seiner Ethik, und noch dazu ein Philister, dem alles schlechte Blut der Theologie in den Adern rinnt. Seine Pflichtenlehre mit ihren kategorischen Imperativen ist weiter nichts als der mosaische Dekalog, und seine Lehre von dem radikal Bösen der Menschennatur weiter nichts als das Dogma von der Erbsünde. Nicht einmal das Neue, sondern nur das Alte Testament hat Kants Ethik aus der Taufe gehoben. Goethe, der freilich dem Kantschen Dualismus sehr skeptisch gegenüberstand, meinte einmal, dass Kant sich durch seine Lehre vom radikal Bösen seinen reinen Philosophenmantel freventlich beschlabbert habe, aber selbst Schiller, der begeisterte Kantianer, spottete über die echte Philisterschrulle, dass nicht der tugendhaft handle, der sich aus dem Triebe eines mitfühlenden Herzens seinen Mitmenschen hilfreich erweise – denn er befriedige nur seine eigene Neigung –, sondern etwa der Geizhals, der unter dem Gebote des kategorischen Imperativs mit äußerstem Widerstreben ein Almosen spende. Siehe die Epigramme Schillers:

Gewissensskrupel

Gerne dien' ich den Freunden, doch tu' ich es leider mit Neigung,

Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.

Entscheidung

Da ist kein anderer Rat, du musst suchen sie zu verachten,

Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.

Selbst Schopenhauer, der sich als echten und wahren Thronerben Kants proklamierte – in vieler Beziehung auch mit Recht –, empörte sich gegen Kants Ethik und fügte dem Satze Kants: „Die Gesinnung, die dem Menschen, das moralische Gesetz zu befolgen, obliegt, ist, es aus Pflicht, nicht aus freiwilliger Zuneigung und auch allenfalls unbefohlener, von selbst gern unternommener Bestrebung zu befolgen", die schlagende Bemerkung hinzu: „Befohlen muss es sein! Welche Sklavenmoral!" Und diese Sklavenmoral soll heute dem proletarischen Emanzipationskampf eingeimpft werden!

Vorgeschrittener erscheint Kants Rechts- und Staatslehre, doch fehlte ihm auf diesem Gebiet alle praktische Erfahrung und selbst die Möglichkeit einer praktischen Erfahrung, so dass er nur das Echo der französischen Aufklärung war. So zwar, dass er einerseits, eben weil er gar keinen festen Boden unter den Füssen hatte, die Auffassungen der französischen Aufklärung aus „bloßem reinem Verstand" erweiterte, aber da dieser „bloße reine Verstand" schließlich doch nur der Verstand eines Königsberger Magisters war, der unter dem erstickenden Banne des preußischen Despotismus lebte, auch wieder sehr verphilisterte. Bezeichnend dafür ist seine Stellung zur Französischen Revolution. Er ist ihr über die Schreckensherrschaft hinaus treu geblieben; er meinte von ihr noch im Jahre 1797: „Sie mag mit Elend und Gewalttaten dermaßen angefüllt sein, dass ein wohl denkender Mensch sie, wenn er sie zum zweiten Mal unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann." Aber derselbe Kant verwarf das Recht des Widerstandes hart und unbedingt: „Durch eine Revolution wird vielleicht ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen, sondern neue Vorurteile werden so gut als die alten zum Leitband des gedankenlosen großen Haufens werden." Solche Widersprüche sind an Kant selbst vollkommen erklärlich, weniger verständlich sind sie an den Neukantianern, die den proletarischen Klassenkampf „ethisieren" wollen.

Verweilen wir noch einen Augenblick bei dem Satze, wegen dessen Kant als „der wahre und wirkliche Urheber des deutschen Sozialismus" gefeiert wird. Er lautet bekanntlich: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person jedes anderen jederzeit zugleich als Zweck, nie bloß als Mittel gebrauchst. Dieser Satz wird zur ethischen Grundlage des Sozialismus gemacht, indem man argumentiert, in der sozialistischen Gesellschaft würden alle Menschen zugleich Mittel und Zwecke sein. Allein diese Argumentation bestätigt nur die Tatsache, dass Kant auf seine Jünger, mochten sie auf philosophischem Gebiete arbeiten, wie Schopenhauer und die Neukantianer, oder auf politischem Gebiete, wie Theodor v. Schön und Johann Jacoby, seinen gänzlichen Mangel an historischem Sinn vererbt hat. Die einzige Ausnahme bildet Schiller, und diese Ausnahme ist auch nur scheinbar. Denn Schillers historischer Sinn entsprang durchaus nur seiner dichterischen Intuition, wie ein Vergleich zwischen seiner dilettantenhaften Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und seiner genialen Wallenstein-Trilogie zeigt.

Für den historischen Blick ergibt sich jener Satz Kants sofort als der ideologische Niederschlag der ökonomischen Tatsache, dass die Bourgeoisie, um ein für ihre Produktionsweise taugliches Ausbeutungsobjekt zu erlangen, die Arbeiterklasse nicht bloß als Mittel gebrauchen, sondern auch als Zweck setzen, das heißt, sie im Namen der Menschenfreiheit und Menschenwürde von den feudalen Fesseln befreien musste. Kant mag sich dieses Zusammenhangs nicht bewusst gewesen sein, aber wir sehen hier wieder, wie er als Echo der französischen Aufklärung deren Auffassung teils ideologisch erweitert, teils aber auch praktisch verengt. Denn trotz jenes preiswürdigen Satzes, der von weitem beinahe sozialistisch im modernen Sinne aussieht, forderte Kant volle Freiheit und Selbständigkeit nur für die Staatsbürger, nicht aber für die Staatsgenossen, zu denen er die ganze arbeitende Klasse rechnet, Dienstboten, Gesellen bei einem Kaufmann oder einem Handwerker und namentlich auch die Zinsbauern, die von der Französischen Revolution doch tatsächlich befreit worden waren.

In dem hier entwickelten Sinne ist der Satz Kants, durch den er zum Vater des deutschen Sozialismus geworden sein soll, denn auch vom deutschen Liberalismus und nicht zuletzt in sozialistenfeindlicher Tendenz das ganze vorige Jahrhundert durchgedroschen worden, so dass wir es wohl als eine eigene Zumutung empfinden dürfen, diese abgehauste Weisheit zum Leitsterne der sozialistischen Gedankenwelt machen zu sollen.

VI

Zeigt die Ethik Kants durchaus nur die Grenzen seines Erkenntnisvermögens, so zeigt sich dieses Erkenntnisvermögen selbst wieder wahrhaft großartig an Kants Ästhetik. Hier hatte er die Möglichkeit praktischer Erfahrung an dem reichen Leben, das sich, als er seine „Kritik der Urteilskraft" schrieb, seit einem Menschenalter auf dem Gebiete künstlerischen Schaffens in Deutschland entfaltet hatte. Kant hat die Gesetze dieses Schaffens in der bewundernswertesten Weise zu entdecken gewusst; es war das schmeichelhafteste Zeugnis für ihn, dass Goethe, der, wie wir schon erwähnten, sonst nicht viel für ihn übrig hatte, dennoch gestand, der „Kritik der Urteilskraft" „eine höchst frohe Epoche seines Lebens" zu verdanken, indem er hier mit theoretischer Klarheit auseinandergesetzt fand, was er im dunklen Drange seines Genius praktisch geübt hatte.

Als wir vor einigen Jahren auf diesen Zusammenhang hinwiesen, wurden wir von gewissen Neukantianern wegen „grauenhafter Unkenntnis" und dergleichen mehr abgekanzelt, aus dem höchst überzeugenden Grunde, dass Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft" die zeitgenössischen Dichter gar nicht oder so gut wie gar nicht zitiert habe. Daraus wurde geschlossen, dass Kant sie auch nicht gekannt und seine Ästhetik in einsamer Selbstherrlichkeit aus seinem Kopfe gesponnen haben solle. Inzwischen ist diese Beweisführung durch Kants Kollegienhefte zerstört worden, aus denen sich ergibt, dass er die Dichtung seiner Zeit sehr gut gekannt hat. Indessen ist der Zwischenfall nur als tragikomisches Malheur der Neukantianer bemerkenswert; für die historische Auffassung ist er ganz überflüssig, denn wer Kants „Kritik der Urteilskraft" je mit sehenden Augen gelesen hat, musste sich von vornherein klar darüber sein, dass hier kein überweltlicher Genius sprach, sondern ein ungemein scharfsinniger Denker, dessen Erkenntnisvermögen sich an unserer klassischen Dichtung mit den tiefsten Einsichten bereichert hatte.

Da kein Mensch je ganz aus seiner Haut heraus kann, so fehlt es der Ästhetik Kants keineswegs an philisterhaften Zügen; so stellt er die Musik am tiefsten unter den Künsten, aus keinem anderen Grunde, als weil ein klimperndes Frauenzimmer aus seiner Nachbarschaft ihn in seinen Meditationen zu stören pflegte. Auch sonst ist seine Ästhetik in manchen Punkten überholt oder lässt sich heute viel tiefer begründen, als er sie zu seiner Zeit begründen konnte. Aber es bleibt sein bahnbrechendes Verdienst, die Kunst, die bis dahin auf die platte Nachahmung der Natur verwiesen oder mit der Moral verquickt oder als verhüllende Form der Philosophie betrachtet worden war, als ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit nachgewiesen zu haben.3

Die wissenschaftliche Begründung der Ästhetik, die Zertrümmerung der dogmatischen Philosophie und die Theorie des Himmels sind die drei großen Taten Kants, die ihm einen unsterblichen Namen in der Wissenschaft und einen hervorragenden Platz im großen Gange des menschheitlichen Befreiungskampfes sichern. Es ist Lorbeer genug für ein Menschenleben, und Kant hat es wahrlich nicht nötig, über das, was er wirklich geleistet hat, noch hinaufgeschraubt zu werden. Wo es dennoch geschieht, da ehrt man ihn mehr durch eine ehrliche Kritik seines Kritizismus als durch nichtssagende Jubelhymnen. Und so glaubten wir, an seinem hundertsten Todestage nicht würdiger seine Farben tragen zu können, als indem wir Kant gegen Kant oder, um ein liebliches Wortspiel zu zitieren, Kant gegen Cant4 verteidigten.

1 Mehring irrt hier. Die Materialisten haben in ihrer überwältigenden Mehrheit stets die Möglichkeit der Erkenntnis der objektiven Wahrheit (der Dinge, wie sie sind) anerkannt.

2 Mehring verkannte, dass das Abrücken mancher Neukantianer von Kant sich auf einer anderen Linie vollzog als die Kritik des dialektischen Materialismus an der Kantschen Erkenntnistheorie. Neukantianer und Machianer leugneten mit dem „Ding-an-sich" die auf unsere Sinne einwirkende objektive Realität, also die materialistischen Tendenzen der Kantschen Philosophie. Der dialektische Materialismus hingegen erkennt die Existenz der außerhalb und unabhängig von unserem Bewusstsein vorhandenen Gegenstände an, leugnet aber die von Kant behauptete Unerkennbarkeit dieser „Dinge-an-sich". Ebenso wenig ist der Relativismus der Neukantianer identisch mit dem Relativismus der marxistischen Erkenntnistheorie. Der Standpunkt der Neukantianer war der eines unbedingten Relativismus. Er beruhte auf der Leugnung der Möglichkeit, die objektive und absolute Wahrheit zu erkennen, während der dialektische Materialismus von der Möglichkeit der Erkenntnis der objektiven und absoluten Wahrheit ausgeht, aber zugleich den historischen Charakter der menschlichen Erkenntnis, den unendlichen Prozess der Annäherung des menschlichen Wissens an die absolute Wahrheit hervorhebt.

3 Mehring überschätzt die gewiss bedeutenden Verdienste Kants auf dem Gebiete der Ästhetik. Ihre „wissenschaftliche Begründung" hat Kant nicht gegeben. Das Verdienst Kants war es, den schöpferischen Charakter der Kunst, ihre eigenständige Bedeutung als spezifisches Vermögen der Menschheit hervorgehoben zu haben. Aber die Grundlagen der Kantschen Ästhetik waren durch und durch idealistisch, Kant trennte die Kunst vom gesellschaftlichen Leben, den Inhalt von der Form, und durch die Reduzierung des Ästhetischen auf die Form wurden seine Anschauungen zur Quelle vieler subjektivistischer, formalistischer ästhetischer Auffassungen.

4 Cant (engl.) - scheinheiliges Gerede, Heuchelei.

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