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Franz Mehring 19041026 John Locke

Franz Mehring: John Locke

26. Oktober 1904

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 129-133. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 33-37]

Es gibt viele Geschichten der Philosophie, gelehrte und ungelehrte, gescheite und törichte, interessante und langweilige, aber es fehlt noch immer die Geschichte der Philosophie. Um sie zu schreiben, ist in erster Reihe notwendig, die Philosophie vom Kopfe, auf dem sie in all ihren bisherigen historischen Darstellungen steht, auf die Füße zu stellen. Mit anderen Worten: man darf nicht in den Hirnwebereien der philosophischen Systeme den Schwerpunkt der Philosophie suchen, sondern man muss von dem Standpunkt ausgehen, den F. A. Lange einmal – freilich ohne daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen – mit den Worten andeutet: „Es gibt keine sich aus sich selbst, sei es in Gegensätzen, sei es in direkter Linie, fortentwickelnde Philosophie, sondern es gibt nur philosophierende Männer, welche mitsamt ihren Lehren Kinder ihrer Zeit sind."

Oder mit noch anderen Worten: die Philosophie ist eine ideologische Begleiterscheinung der Klassenkämpfe, eine der ideologischen Formen, in denen die Menschen sich dieser Kämpfe bewusst werden und sie ausfechten.1 Es hat keine Philosophie gegeben, solange es keine Klassengegensätze gab, und sobald die Klassengegensätze beseitigt sein werden, wird es keine Philosophie im historischen Sinne dieses Wortes mehr geben. Erst aus der Geschichte der Klassenkämpfe fällt das scheidende und sondernde Licht in die scheinbar unübersehbare Wirrnis der philosophischen Systeme, und man findet dann – was Schopenhauer einmal andeutet, auch er, ohne daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen –, dass die wenigen Fundamentalsätze aller Philosophie in unzähligen Variationen immer wiederkehren und dass auch die bedeutendsten Werke der bedeutendsten Philosophen von ewigen Wiederholungen wimmeln. Alles das ist für den modernen Menschen, der mitten in Klassenkämpfen steht, die längst ihre ideologischen Schleier abgeworfen haben, mehr oder weniger ungenießbar, aber unter dem Gesichtspunkt betrachtet, unter dem die philosophischen Systeme je für ihre Zeit Gestalt und Leben gewonnen haben, ließe sich die Geschichte der Philosophie als ein bedeutsames und lehrreiches Stück der menschheitlichen Geschichte schreiben.

Nur für die Anfänge der Philosophie, die griechische Naturphilosophie, versagt dieser Maßstab insofern, als sie uns nur in sehr trümmerhaften Bruchstücken überliefert und wir gar zu wenig von den Zeitumständen wissen, unter denen sie entstanden ist. Aus diesem nicht innerlichen, sondern rein äußerlichen Grunde vermögen wir die erste Form der griechischen Philosophie nur in den allgemeinsten Umrissen als eine Widerspiegelung gleichzeitiger Klassenkämpfe zu erkennen. Aber gleich in der zweiten Periode tritt der Idealismus des „göttlichen Platon", dessen Wirkungen sich bis in unsere Zeit erstrecken, als die ideologische Begleiterscheinung der grausamsten und rohesten Klassenherrschaft auf, die es in der damaligen griechischen Welt gegeben hat. Nichts törichter als das Geflenne, das sich von einem philosophischen Lehrbuch ins andere über den „Märtyrertod" des Sokrates schleppt, über den „Justizmord", den die törichte Menge an dem großen Weisen begangen haben soll. Sokrates ist gerichtet worden als der Wortführer einer Klasse, die durch eine Unsumme von bluttriefender Grausamkeit, Tücke und Verrat, wobei gerade Lieblingsschüler des Sokrates, wie Alcibiades und Kritias, in erster Reihe standen, die Stadt Athen in ihrer Kraft gebrochen und in einen tiefen Abgrund des Elends gestürzt hatte. Statt die Würde eines „Märtyrers" zu zeigen, hat Sokrates seine Richter vielmehr – wenn anders seinem Schüler Platon zu glauben ist – noch durch frivole Herausforderungen gereizt, und Justizmord hin, Justizmord her – wenn es in der Geschichte der Klassenkämpfe keinen schlimmeren Justizmord gäbe als die Hinrichtung des Sokrates, so sähe sie in diesem Punkte beinahe noch wie ein harmloses Idyll aus.

In der Geschichte der neueren Philosophie können gar so tolle Verschiebungen des historischen Sachverhalts nicht mehr vorkommen. Der Zusammenhang zwischen den ökonomisch-politischen Klassenkämpfen einer Zeit und ihrer jeweiligen Philosophie tritt hier so klar hervor, dass er sich auch dem blödesten Auge aufdrängt. Aber in den herkömmlichen Geschichtsbüchern über Philosophie wird das, was neuere Philosophen über Ökonomie und Politik zu sagen gehabt haben, regelmäßig in den Hintergrund gedrängt gegen ihre allgemeine Hirnweberei in irgendwelchen Ismen, die nicht die Ursache, sondern vielmehr die Folge ihrer praktischen Stellung zu den praktischen Fragen ihrer Zeit ist. So wird John Locke, dessen zweihundertster Todestag übermorgen wiederkehrt, als Philosoph des Sensualismus einregistriert, und eben in diesen

Sensualismus der Schwerpunkt seiner historischen Stellung gelegt, womit an und für sich gar nichts gesagt ist. Denn die Annahme, dass unsere gesamten Vorstellungen ursprünglich auf sinnlicher Wahrnehmung, auf den Affektionen der Sinne beruhen, bringt die historische Entwicklung nicht um einen Flohsprung vorwärts, während John Locke tatsächlich einen großen Einfluss namentlich auf das 18. Jahrhundert gehabt hat.2

Er war der klassische Typ des englischen Bourgeois um die Wende des 17. zum 18. Jahrhundert. Das Lebenswerk, das er vollbracht hat, bestand in der Rechtfertigung und Verteidigung des Kompromisses, womit die englische Bourgeoisie die englische Revolution des 17. Jahrhunderts abschloss, indem sie gemeinsam mit dem Adel ein Schattenkönigtum schuf, aber alle politische Macht in das Parlament verlegte, ökonomisch gehörte Locke zu den Vorläufern des physiokratischen Systems, über das Marx schreibt: „Es ist in der Tat das erste System, das die kapitalistische Produktion analysiert und die Bedingungen, innerhalb deren Kapital produziert wird […], als ewige Naturgesetze der Produktion darstellt. Andrerseits erscheint es vielmehr als eine bürgerliche Reproduktion des Feudalsystems, der Herrschaft des Grundeigentums; und die industriellen Sphären, innerhalb deren das Kapital sich zuerst selbständig entwickelt, erscheinen vielmehr als ,unproduktive' Arbeitszweige, bloße Anhängsel der Agrikultur. Die erste Bedingung der Kapitalentwicklung ist die Trennung des Grundeigentums von der Arbeit, das […] Gegenübertreten der Erde – dieser Urbedingung der Arbeit – als selbständige Macht, in der Hand einer besondren Klasse befindliche Macht, gegenüber dem freien Arbeiter. In dieser Darstellung erscheint daher der Grundeigentümer als der eigentliche Kapitalist, das heißt als der Aneigner der Surplusarbeit. Der Feudalismus wird so sub specie [unter dem Gesichtspunkt] der bürgerlichen Produktion reproduziert und erklärt wie die Agrikultur als der Produktionszweig, worin sich die kapitalistische Produktion, das heißt die Produktion des Mehrwerts, ausschließlich darstellt. Indem so der Feudalismus verbürgerlicht wird, erhält die bürgerliche Gesellschaft einen feudalen Schein."*3

Das physiokratische System entfaltete seine eigentliche Blüte in Frankreich, in einem vorherrschend ackerbauenden Lande, nicht in England, einem vorherrschend industriellen, kommerziellen, seefahrenden Lande. Bei dem Ökonomen Locke zeigt sich vielmehr ein polemisches Interesse gegen das Grundeigentum, dessen Rente sich durchaus nicht von dem Wucher unterscheide. Aber wie Locke zwei Menschenalter hindurch als Arzt, Erzieher und Sekretär im Hause des Lords Shaftesbury lebte, so war er der Interpret der „glorreichen Revolution" von 1688, von der man wohl sagen kann, dass sie den Feudalismus verbürgerlichte, aber der bürgerlichen Gesellschaft einen feudalen Schein gab. Gewiss hat Locke für die politische und religiöse Freiheit gekämpft, jedoch wie matt und nüchtern erscheint dieser Kampf neben den flammenden Schriften, die Milton gegen das patriarchalische Königtum von Gottes Gnaden gerichtet hatte. In anderem Sinne, als es ursprünglich gemeint war, aber deshalb nicht minder schlagend erfüllte sich Miltons Wort, die Briten seien unversehrt durch das Feuer gegangen, um dann am Qualm zu sterben. In der Tat verqualmte das republikanische Feuer im Konstitutionalismus, als dessen Vater oder richtiger als dessen literarischer Taufpate sich Locke den lautesten Ruhm erworben hat.

Er hat diesen Konstitutionalismus einfach dem Kompromiss abgeschrieben, das die englische Revolution geschlossen hatte. Seine berühmte „Trennung der Gewalten", wonach die regierende, die gesetzgebende und die richterliche Gewalt streng voneinander geschieden werden und sich gegenseitig im Gleichgewicht halten sollten, hieß weiter nichts, als dass dem König jede Gewalt über Gesetzgebung und Rechtsprechung genommen und regierende, gesetzgebende und richterliche Gewalt der herrschenden Aristokratie und Bourgeoisie übertragen werden sollten. Es gibt wenig gleich einleuchtende Beweise für die verblendende Macht der Phrase, als dass ein paar Jahrhunderte lang die englische Verfassung als Muster für die „Trennung der Gewalten" gegolten hat, während jedes Kind weiß oder doch wissen sollte, dass in England regierende und gesetzgebende Gewalt eben nicht getrennt ist, dass der Vertrauensmann der Parlamentsmehrheit unweigerlich leitender Minister wird. Lockes konstitutionelles Rezept, angewandt auf Monarchien, deren reale Macht noch nicht gebrochen war, hat denn auch regelmäßig die schmerzlichsten oder auch die lächerlichsten Enttäuschungen hervorgerufen, wovon namentlich die deutschen Revolutionsjahre zu erzählen wissen.

Dem Konstitutionalismus Lockes entsprach die Halbheit seiner bürgerlichen Toleranz. Sicherlich war sie etwas anderes als die sogenannte Toleranz des aufgeklärten Despotismus, wie sie etwa von dem alten Fritz geübt wurde, aber sie erstreckte sich doch nicht auf — Atheisten. Hier war der sterbliche Punkt der bürgerlichen Aufklärung, wie sie Locke und sein größerer Schüler Voltaire vertreten, mit einzelnen glänzenden Ausnahmen, wie Pierre Bayle. Gegen ihn sagte Voltaire, man möge ihm nur vier- oder fünfhundert Bauern zu regieren geben, und Bayle würde alsbald die Lehre von der göttlichen Vergeltung predigen lassen. Es ist derselbe Pferdefuß, der dann auch in Kants Philosophie wieder erschien, die erst die radikale Unmöglichkeit Gottes demonstrierte und dann das Dasein Gottes als die notwendige Voraussetzung alles sittlichen Handelns bewies. Das „vernunftmäßige Christentum" Lockes war nichts anderes als das dem Herrschaftsbedürfnis der „glorreichen Revolution" angepasste Christentum.

Alle harten Ecken und Kanten der rauen Wirklichkeit glättete Locke nun durch seinen Sensualismus. Der Satz selbst, dass im Geiste nichts sein könne, was nicht vorher in den Sinnen gewesen sei, war durchaus nicht neu, war schon im Aristoteles zu finden. Was Locke daraus machte, war einfach dies: dass der Mensch nur durch die Erfahrung klug werde, dass er sich also hüten solle, mit dem Kopfe durch die Wand zu rennen, dass alle Begeisterung und Schwärmerei von Übel sei, dass nichts über den gesunden Menschenverstand des guten Bürgers gehe.

So stellt sich Lockes Weltanschauung als höchst prosaisch, als ganz starr und steril dar. Allerdings hat man auch „sozialistische" Anklänge in seinen Schriften nachweisen wollen, weil er gewisse Schranken des Privateigentums anerkannte, weil er die Naturdinge für gemeinschaftliches Eigentum erklärte und das individuelle Eigentum nur insoweit verteidigte, als es der einzelne Mensch durch seine Arbeit verwerten könne, weil er das Eigentum an einem größeren Umfang der Produktionsmittel als dem eben angedeuteten im Widerspruch mit der naturrechtlichen Basis des Eigentums oder des Rechtes am Privateigentum fand. Allein das waren keine ökonomischen Forderungen der sozialistischen an die kapitalistische, es waren Rechtsansprüche der bürgerlichen an die feudale Gesellschaft; es waren die Illusionen des Naturrechtes, das mit den Anfängen der kapitalistischen Produktionsweise Hand in Hand ging und in dem Maße zerstob, worin sich ihre holden Geheimnisse entschleierten. Von nichts war Lockes harter und trockener Geist weiter entfernt als von kommunistischen und sozialistischen Schwärmereien, wie sie zu seiner Zeit überhaupt erst möglich waren.

Aber eben in dieser Beschränkung war er doch wieder ein Meister der bürgerlichen Aufklärung, der auf ungleich reichere und vielseitigere Geister, wie Montesquieu, Voltaire, Diderot und überhaupt die französische Geistesbewegung des 18. Jahrhunderts, den stärksten Einfluss gehabt hat. Das dürfen wir umso eher anerkennen, je glücklicher wir sind, ganz und gar aus seinem Gedankenkreise hinausgewachsen zu sein.

2 Man kann Mehrings Auffassung hier nicht beipflichten. Der Erkenntnistheorie Lockes, die der idealistischen Lehre Descartes' von den „eingeborenen Ideen" entgegentrat, kommt in der Geschichte des philosophischen Denkens große Bedeutung zu.

* Diese glänzende Schilderung, die Marx von dem physiokratischen System entwirft, ist seiner Nachlassschrift über die „Theorien des Mehrwerts" entnommen, die Kautsky demnächst herausgeben wird.

3 Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, Erster Teil. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 26.1, S. 20.

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