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Franz Mehring 19000404 Kant und der Sozialismus

Franz Mehring: Kant und der Sozialismus

4. April 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Zweiter Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 183-188]

Unter diesem Titel hat Karl Vorländer eben bei Reuther und Reichard in Berlin eine Schrift erscheinen lassen, die im Nebentitel eine „besondere Berücksichtigung der neuesten theoretischen Bewegung innerhalb des Marxismus" verheißt. Sie will in knappen Zügen schildern, wie sich Kant am Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Zeichen des Sozialismus darstellt, und untersucht demgemäß. 1. ob und inwiefern der Sozialismus ein Recht hat, sich auf Kant zu berufen, 2. wie sich die Neukantianer zum Sozialismus stellen und 3. wie sich die „Rückkehr auf Kant" bei den jüngeren Marxisten oder Sozialisten vollzieht.

Was uns veranlasst, an dieser Stelle mit einiger Ausführlichkeit auf Vorländers Schrift einzugehen, ist in erster Reihe die persönlich loyale und sachlich anregende Weise, womit er sein Thema behandelt. Es lohnt sich in jeder Beziehung, mit ihm zu diskutieren; so wie er die Frage zu stellen weiß, lässt sie sich wohl beantworten; eine gänzliche Übereinstimmung wird sich nicht ergeben, aber vielleicht eine gewisse Annäherung und gewiss eine klare Feststellung dessen, worüber keine Einigung möglich ist. Jedoch sehen wir dabei gänzlich von dem dritten Abschnitt seiner Schrift ab, von der kritischen Würdigung der jüngeren Marxisten oder Sozialisten, die „Zurück auf Kant" wollen. Nicht nur weil die drei deutschen Parteischriftsteller, die Vorländer in diesem Zusammenhang behandelt, unter sich vielfach auseinandergehen und sich alle wieder von den bürgerlichen Neukantianern unterscheiden, so dass Vorländer viel an ihnen auszusetzen hat, sondern auch weil ihre Ansichten in diesen Spalten schon sehr ausgiebig erörtert worden sind. Das gilt nun freilich nicht von einer lateinisch geschriebenen Abhandlung, die Jaurès als Professor in Toulouse verfasst und Vorländer wieder ausgegraben hat. Indessen können wir auch auf sie nicht näher eingehen, da sie im Buchhandel nicht zu haben ist und nach den Proben, die Vorländer gibt, aus einer Zeit stammt, wo Jaurès dem historischen Materialismus noch fern stand. Darauf deuten unter anderem die von Vorländer angezogenen Sätze, dass sich die „ersten Grundlinien des Sozialismus" in Luthers Schrift über den Wucher befinden und dass „die Dinge aus den Ideen hervorgingen, die Geschichte von der Philosophie abhinge". Wie es immer sonst um die Schrift von Jaurès bestellt sein mag, so steht sie jedenfalls in keinem Zusammenhang mit den Fragen, die zwischen den Marxisten und den Neukantianern streitig sind.

Gehen wir nun zunächst auf das ein, was Vorländer über Kant und den Sozialismus zu sagen hat, so will er einerseits unter dem vieldeutigen Worte Sozialismus keine bestimmte politische Partei, mit der die philosophische Untersuchung nichts zu tun habe, sondern eine sittliche Weltanschauung und den Gesamtzusammenhang verstehen, der seines Erachtens auf dem Gebiet der Ethik zu suchen sei, und so hebt er andererseits hervor, dass Kants Wirken natürlich durch seine Zeit bestimmt gewesen sei, dass sich seine politische Philosophie vor allem gegen den absolutistischen Polizeistaat und die ständische Gesellschaftsordnung des achtzehnten Jahrhunderts gekehrt habe, dass zu einer Sozialphilosophie im modernen Sinne damals noch alle Vorbedingungen gefehlt hätten: kapitalistische Produktionsweise, Lohnarbeit, Maschinenindustrie etc. Innerhalb dieser Beschränkung aber, so meint Vorländer, finde der Sozialismus seine unmittelbarsten Anknüpfungspunkte in den Grundgedanken der Kantischen Ethik. Dafür werden „zahlreiche, zum größten Teile noch nicht beachtete Stellen" beigebracht, in der Hauptsache jedoch eine „in der Regel nicht genug beachtete Formulierung des kategorischen Imperativs", die so lautet: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauchst." Auf seine anderen Zitate legt Vorländer geringeren Wert als auf diese einfach-erhabene Formel, die den wahren und wirklichen Zusammenhang des Sozialismus mit Kant im „rein Moralischen" begründe; auf diesem Fundament müsse der Sozialismus bauen, wenn anders er überhaupt nach einer ethischen Begründung verlange. „Kann die Grundidee des Sozialismus, der Gemeinschaftsgedanke, einfacher ausgesprochen, deutlicher verkündet werden?" Noch weiter geht ein anderer Neukantianer, Professor Cohen in Marburg, der Kant um dieses Satzes willen als „den wahren und wirklichen Urheber des deutschen Sozialismus" feiert.

Nun ist der Satz zunächst einmal gar nicht solch vergessenes und erst von den Neukantianern wiederentdecktes Kleinod, wie Vorländer zu glauben scheint. Er gehört zu den allerbekanntesten Aussprüchen Kants und hat eine große Rolle in der politischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts gespielt, nur freilich in ganz anderem Sinne, als Vorländer und Cohen meinen. Zur Begründung des deutschen Sozialismus hat er nicht das Gewicht eines Sandkorns beigetragen, wohl aber manchen Stein heran gewälzt zur Begründung des Liberalismus und ganz speziell des antisozialistischen Liberalismus. Greifen wir aus dem Heere der Zeugen nur einige Liberale heraus, die zugleich heftige Sozialistenfeinde waren! In den „Hallischen Jahrbüchern" leitet Ruge ein Kapitel über „die ethische Seite der Kantischen Philosophie", ganz wie Vorländer, mit jenem Satze ein, dem er dann teilweise auch dieselben Zitate folgen lässt, jedoch mit einem zornigen Blicke auf die Nachfolger Kants, die „aus seiner Kritik nicht die Arbeit und die Qual der Widersprüche, sondern das Resultat der beschränkten und verworrenen Vernunft zogen, die in seiner Ethik die dornenvolle Politik dahingestellt sein ließen und die bequeme Moral predigten"; Ruge sieht in Kants Satze die Forderung einer Verfassung des Volkes und die Erhebung jedes Menschen zu ihrem Zweck. Ebenso stellt Treitschke den Satz in die Lehre von der politischen Freiheit; auf den Staat angewandt heiße er: die Wirksamkeit der Regierung ist vernünftig, wenn sie die Selbsttätigkeit der Bürger hervorruft, fördert, läutert; unvernünftig, wenn sie diese Selbsttätigkeit unterdrückt. Eher scheint sich Schmoller den Neukantianern zu nähern, wenn er „den Eckstein der modernen Ethik" erläutert: Kein Mensch soll nur Mittel zum Zwecke für andere sein, aber auch Schmoller fügt wohlweislich hinzu: wenn er daneben auch als dienendes Glied für andere Zwecke fungiert; er lehnt die sozialistische Auslegung des Kantischen Satzes noch offensichtlicher ab als Ruge und Treitschke.

Haben diese Liberalen nun ihren Kant richtig verstanden oder die Neukantianer? Vorländer ist so ehrlich, selbst die schlagende Antwort auf die Frage zu geben, indem er schreibt: „Kant tritt zwar für vollste gesetzliche Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit aller Staatsbürger ein, aber er betrachtet die ,Gesellen bei einem Kaufmann oder bei einem Handwerker', die privaten Dienstboten, Taglöhner, Zinsbauern und ,alles Frauenzimmer', kurz jedermann, der ‚Nahrung und Schutz' von anderen erhält, nicht als Staatsbürger, sondern als Staatsgenossen." Darnach haben Ruge, Treitschke und Schmoller ihren Kant nicht zu eng, sondern vielmehr noch zu weit ausgelegt, denn mindestens den Gesellen, Taglöhnern, Bauern wollten und wollen sie die staatsbürgerlichen Rechte nicht verweigern. Nun meint Vorländer zwar, ein billiger Beurteiler werde bei Kants Unterscheidung von Staatsbürgern und Staatsgenossen die Kulturzustände der damaligen Zeit erwägen: seien doch die Gesetzgeber der großen französischen Revolution nicht weiter gegangen als unser Philosoph, denn sie seien ihm, wie Jaurès gezeigt habe, mit jener Unterscheidung von aktiven und passiven Staatsbürgern vorangegangen. Aber so richtig das alles sein mag, sowenig trifft es den Kern der Sache.

Käme es nur auf die „billige" Beurteilung Kants an, so sollten sich die Neukantianer über die Marxisten gewiss nicht zu beklagen haben. Wie Marx selbst, so haben die Marxisten von Kant stets mit der gebührenden Hochachtung gesprochen. Um ein für den Schreiber dieser Zeilen nächstliegendes Beispiel anzuziehen, so zitiert er den hier erörterten Satz Kants in seiner Parteigeschichte mit dem Bemerken, Kant habe darin die kühnste und reinste Konsequenz der bürgerlichen Ideale gezogen, aber das sei nur in einem Lande möglich gewesen, wo die bürgerliche Klasse erst wenig und die proletarische Klasse noch gar nicht entwickelt gewesen sei. Das ist an „billigen Urteilen" hoffentlich so viel, wie Vorländer mit Recht verlangen mag. Allein die wirkliche Streitfrage zwischen Marxisten und Neukantianern besteht ja darin, ob und wie der Sozialismus mit Kant zusammenhängt, und sie wird eben durch die Entschuldigungen, die Vorländer zugunsten Kants anführt, in verneinendem Sinne entschieden. Es sei denn, dass die Neukantianer in der „Erklärung der Menschenrechte" die Mutter des Sozialismus erblicken wie in Kant seinen Vater.

Es ist eine weltbekannte und auch eine weltgeschichtliche Tatsache, dass sich die Vorkämpfer des revolutionären Bürgertums im achtzehnten Jahrhundert in der Illusion bewegten, mit der Emanzipation ihrer Klasse die bürgerliche Gesellschaft in ihrem ganzen Umfange zu emanzipieren. Der „dritte Stand" hielt sich für gleichbedeutend mit dem ganzen Volke, im Gegensatz zu den privilegierten Ständen; indem er die politischen Staatsformen schuf, die seinen sozialen Bedürfnissen entsprachen, glaubte er gleichmäßig für die Interessen aller Staatsbürger zu sorgen und sie alle gleichmäßig zu befriedigen. Diese Illusion war durchaus ehrlich und frei von aller Heuchelei; sie verdaute ohne alle Beschwerde die schreiendsten Widersprüche, so wenn die französische Konstitution von 1791 damit begann, jeden Menschen für frei und gleich an Rechten geboren zu erklären, und damit endete, die serviteurs à gages1 vom Wahlrecht auszuschließen.

Wie in der Französischen Revolution, so in der deutschen Philosophie. Wenn beiläufig die Neukantianer in den Schriften von Marx und Engels so ängstlich nach Äußerungen über Kant spähen, so übersehen sie ganz die vielleicht bezeichnendste Stelle, wo sie darüber, wenigstens was Kants Ethik und Politik betrifft, die erschöpfendste Auskunft erhalten können. Es heißt im Kommunistischen Manifest: „So hatten für die deutschen Philosophen des 18. Jahrhunderts die Forderungen der ersten französischen Revolution nur den Sinn, Forderungen der ‚praktischen Vernunft' im allgemeinen zu sein, und die Willensäußerungen der revolutionären französischen Bourgeoisie bedeuteten in ihren Augen die Gesetze des reinen Willens, des Willens, wie er sein muss, des wahrhaft menschlichen Willens."2 Demgemäß nahm jene Illusion der Französischen Revolution in der deutschen Philosophie eine ihren inneren Widerspruch noch schroffer gestaltende Form an. Insoweit die deutschen Philosophen von der historischen Bedingtheit des französischen Vorbildes ganz absahen, wurden sie theoretisch noch revolutionärer, aber insoweit sie nun in der historischen Bedingtheit der deutschen Zustände festen Fuß zu fassen suchten, wurden sie praktisch noch reaktionärer als die französische Bourgeoisie.

Kants Satz: Handle so etc. übertrifft an einfacher und klarer Konsequenz gewiss die „Erklärung der Menschenrechte", aber seine ständische Zerklüftung des Staates in Staatsbürger und Staatsgenossen geht auch weiter ins Mittelalter zurück als die Ausschließung der französischen Lohnarbeiter vom Wahlrecht. Ganz ähnlich bei Fichte. Man mag ihn auch „den wahren und wirklichen Begründer des deutschen Sozialismus" nennen, wenn man seinen Satz liest: „Der Mensch soll arbeiten, aber nicht wie ein Lasttier, das unter seiner Bürde in den Schlaf sinkt und nach der notdürftigsten Erholung zum Tragen derselben Bürde wieder aufgestört wird. Er soll angstlos, mit Lust und Freudigkeit arbeiten und Zeit übrigbehalten, seinen Geist und sein Auge zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist." Jedoch Fichtes „Geschlossener Handelsstaat" ist eine Utopie, vor deren praktischer Durchführung sich heute der ärgste Reaktionär bekreuzigen würde.

Sobald nun aber die Illusion der Französischen Revolution und der deutschen Philosophie von der historischen Entwicklung zerstört wurde, sobald die unmenschliche Wirklichkeit der bürgerlichen Praxis den menschlichen Idealen der bürgerlichen Theorie immer schärfer entgegentrat, entstand aus diesem Widerspruch der Sozialismus des neunzehnten Jahrhunderts, von St. Simon, Fourier und Owen bis auf Marx, Engels und Lassalle. Es ist überflüssig, bei dem einfachen, klaren, längst bekannten und hundertmal nachgewiesenen Sachverhalt lange zu verweilen. Man mag mit der „erhaben-einfachen Formel" Kants allerlei müßige Gedankenspiele treiben; man mag darin nach Ruges nicht unwitziger Nuancierung die Arbeit und die Qual der Widersprüche oder das Resultat der beschränkten und verworrenen Vernunft oder die dornenvolle Politik oder die bequemere Moral suchen, aber aus ihr historisch oder logisch den Sozialismus abzuleiten ist ein handgreifliches Unding. In dem Sinne der Cohen und Vorländer ist die „Rückkehr auf Kant" eine – natürlich nur illusorische – Erdrosselung des gesamten Sozialismus, ein – glücklicherweise nur imaginärer – Totensprung rückwärts in alle verhängnisvollen Selbsttäuschungen des achtzehnten Jahrhunderts, mit denen gründlich aufzuräumen die glorreichste Arbeit des neunzehnten Jahrhunderts gewesen ist.

Jedoch ist zu sagen, dass die Neukantianer die Sache nicht so schlimm meinen. Wenn nicht alle, so stehen doch einzelne, wie namentlich Vorländer selbst, dem Sozialismus sehr nahe; sie wollen ihm nicht an den Leib, sondern ihn nur aus seiner massiv-nüchternen Wirklichkeit in eine edlere Gedankenwelt erheben. Ihr guter Wille tritt unverkennbar hervor, wenn wir an der Hand Vorländers noch einen Blick auf die Neukantianer werfen.3

1 Lohnarbeiter und Angestellte.

3 Stellenweise unterschätzte Mehring die schädliche ideologische Wirkung des Neukantianertums innerhalb der deutschen Sozialdemokratie, dessen Verfechter ja zumeist auch in der Politik Vertreter des Bernsteinschen Revisionismus waren.

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