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Franz Mehring 19080207 Kant und Spinoza

Franz Mehring: Kant und Spinoza

7. Februar 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 673-675. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 67-70]

Eduard David, Referentenführer. Eine Anleitung zum Erwerb des für die sozialdemokratische Agitationstätigkeit nötigen Wissens und Könnens. Berlin 1907, Verlag Buchhandlung Vorwärts, Berlin SW 68. 104 Seiten, Preis 1,50 Mark.

J. Stern, Die Philosophie Spinozas. Erstmals gründlich aufgestellt und populär dargestellt. Dritte, stark verbesserte Auflage. Stuttgart 1908, Verlag von J. H. W. Dietz Nachf. 192 Seiten, Preis gebunden 2 Mark.

Der Referentenführer des Genossen David hat namentlich wegen seiner Ausflüge aufs philosophische Gebiet eine lebhafte Erörterung in der Tagespresse der Partei hervorgerufen, auf die wir hier im Einzelnen nicht eingehen können und noch weit weniger eingehen wollen. Da Genosse David erklärt, nur darüber zu lachen, wenn der „bunte Wechsel" der philosophischen Systeme aus „der Entwicklung der Produktionsverhältnisse erklärt" werde, so gestehen wir offen, dass uns jede Möglichkeit einer Verständigung mit ihm fehlt. Ein letzter Versuch, den wir zu dieser Verständigung machten, indem wir das philosophische Buch zur Hand nehmen, das Genosse David als Leitfaden für Anfänger empfiehlt, nämlich F. A. Langes „Geschichte des Materialismus", scheiterte daran, dass dieser Leitfaden gleich auf seinen ersten Seiten der Lächerlichkeit verfällt, den antiken Materialismus aus den damaligen Produktionsverhältnissen zu erklären.

Auf gleichen Fuß mit dieser Lächerlichkeit stellt Genosse David den Versuch einer gewissen „Richtung", sich Spinoza zum philosophischen Kirchenvater zu erkiesen. Er will dagegen nichts einwenden, aber nur so, wie ein vernünftiger Mann sich nicht erst in eine Diskussion mit Leuten einlässt, die nicht recht bei Troste sind; sonst bleibt er bei seinem geliebten und vergötterten Kant, in dessen Gefolge er sogar Goethe erblickt, was bisher noch keinem sterblichen Auge vergönnt war. Nun erscheint aber eben jetzt die vortreffliche Schrift des Genossen Stern über die Philosophie Spinozas in dritter, stark verbesserter Auflage, die unseren Lesern anzuzeigen uns obliegt, und da wäre es eine auffällige Unhöflichkeit, an dem Bannfluch des Genossen David gegen den philosophischen Kirchenvater Spinoza schweigend vorüberzugehen.

Genosse Stern hat seine Schrift zum ersten Male vor bald zwanzig Jahren veröffentlicht, und sie ist damals ziemlich scharf, unseres Erachtens sogar zu scharf, in der „Neuen Zeit" besprochen worden. Jedoch Genosse Stern gehört zu den Leuten, die Kritik vertragen und sogar von der Kritik lernen; was damals mit Recht an seiner Arbeit getadelt wurde, das hat er beseitigt oder verbessert, und was ihm unbilliger Tadel zu sein schien, das hat er nicht beachtet. So wie das Büchlein heute von neuem erscheint, so knapp in der Form wie klar im Inhalt, durchsichtig überall, wird es von jedem, der sich für philosophische Fragen interessiert, mit lebhaftem Genuss gelesen werden, und wir wünschten wohl, alle großen Philosophen würden in ähnlichen kleinen Monographien abgehandelt; unsere Parteiliteratur könnte dadurch eine sehr wertvolle Bereicherung erhalten, und solche Kapitel über Philosophie, wie sie im Referentenführer des Genossen David enthalten sind, wären unmöglich oder mindestens, wenn sie noch möglich wären, so würde die Kritik daran so überflüssig sein, wie sie heute leider noch notwendig ist.

Freilich lassen sich so wohl gelungene Bücher nicht schreiben, wie dies Buch des Genossen Stern über Spinoza, wenn der Verfasser nicht mit hingebender Begeisterung seinem Gegenstand zugetan ist. Und dieses Licht hat denn auch seinen Schatten. Ohne bei dem bescheidenen Scherze von dem „philosophischen Kirchenvater" irgendeine Anleihe zu machen, so müssen wir doch gestehen, dass Genosse Stern nicht historisch – darauf kommen wir noch zurück –, aber philosophisch die Philosophie Spinozas überschätzt. Wir sind nicht der Ansicht, dass es nur eine wahre theoretische Philosophie geben kann, sondern gestehen jeder theoretischen Philosophie eine Wahrheit, aber jeder auch nur eine bedingte Wahrheit zu. Keine kann eine „endgültige Wahrheit letzter Instanz" sein, und wir glauben, dass, wer auf dem Boden des historischen Materialismus steht – der seinerseits eine wissenschaftliche Methode ist, aber kein geschlossenes System sein will, was zu sein Genosse Stern für den Spinozismus beansprucht –, gegenüber Spinoza eben nur so weit kommt, wie schon Lessing kam: Wenn ich mich nach jemand nennen soll, so weiß ich keinen anderen.1

Ohne seine große Liebe für Spinoza hätte Genosse Stern sein schönes Buch nicht schreiben können; so mag es unbillig erscheinen, bei den Schatten dieses Lichtes zu verweilen. Jedoch darf der Kritiker nicht ganz dazu schweigen, soweit andere philosophische Richtungen dadurch zu kurz kommen, namentlich der naturphilosophische Materialismus, auf den Genosse Stern allzu schlecht zu sprechen ist. Begreiflich genug, da der Spinozismus so häufig mit jenem Materialismus zusammengeworfen worden ist, dass ein begeisterter Verehrer Spinozas wohl versucht sein mag, vor allem die Unterschiede beider Weltanschauungen zu betonen. Allein Genosse Stern verschüttet dabei ein wenig das Kind mit dem Bade. Die „Beseeltheit der Materie", wodurch sich der Spinozismus entscheidend vom Materialismus trennt, ist von Spinoza, wie Stern selbst sagt, „ohne weiteres", das heißt also ohne Beweis, „vorausgesetzt" worden, und wenn Stern hinzufügt, diese Beseeltheit der Materie werde von den modernen Naturforschern mehr und mehr anerkannt, so hat sie auch manchen dieser Naturforscher in den alten Gespensterglauben des Dualismus zurückgeführt. Siehe zum Beispiel Wundt, den Stern als Schwurzeugen für Spinozas „psychophysischen Parallelismus" anführt. Sein Gespenst hat jedes philosophische System im Hause, das eine „endgültige Wahrheit letzter Instanz" sein will.

Wenn wir also philosophisch nicht ganz mit dem Spinozismus des Genossen Stern übereinstimmen können, so möchten wir die historische Bedeutung Spinozas fast noch höher stellen, als er in seinem Buche wenigstens ausdrücklich betont. Man kann unmöglich den Einfluss überschätzen, den die großen Grundgedanken Spinozas: die Einheit alles Seienden, die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens, die Einerleiheit von Geist und Natur, auf die moderne Kulturentwicklung gehabt haben. Darin lässt sich Kant nicht entfernt mit ihm vergleichen, wie Kant auch als Charakter und Denker beträchtlich unter Spinoza steht. Spinoza war ein armer Schelm, ein viel ärmerer Schelm als Kant, aber er hatte keine Spur vom ängstlichen Philister, und seinem unersättlichen Wissensdurst hätte er nie das demütige Geständnis an die hohe Obrigkeit abgezwungen: „Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen."

Mit dem modernen Sozialismus ist Spinoza durch drei mächtige Ströme verbunden: durch seinen Einfluss auf fast alle großen Geister unserer klassischen Literatur, auf Goethe, Lessing, Herder – die so gut wie einzige Ausnahme bildete Schiller, der zeitweise Kantianer war –; dann durch seinen nicht minder bedeutenden Einfluss auf die großen französischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts, und endlich dadurch, dass er, nachdem Kant den Karren unserer klassischen Philosophie in der, wie Genosse David sagt, „generellen Begrenztheit alles menschlichen Wissens" festgefahren hatte, ihn durch seinen Einfluss auf Schelling, Hegel, Ludwig Feuerbach wieder ins richtige Geleise brachte, bis an die Schwelle des wissenschaftlichen Sozialismus.

Dagegen sind die Fäden, die Kant mit dem modernen Sozialismus verbinden, sehr dünn und spärlich, sowenig wir sie ganz leugnen wollen. Wir wagen jedoch nicht, uns über dies Thema zu verbreiten, solange es uns nicht geglückt ist, nach dem Rate des Genossen David die Werke Langes und Kants zu studieren, um Marx, Engels und Dietzgen zu verstehen. Umgekehrt ginge es schon eher, denn bei Dietzgen lesen wir: „Das reaktionäre Getute: Auf Kant zurück! das von allen Seiten in die Gegenwart hineingeblasen wird, geht aus der monströsen Tendenz hervor, die Wissenschaft umzukehren", und ferner: „Wahrhaft Klassisches aber leistet im Konfusen die Geschichte des Materialismus von F. A. Lange. Abgesehen von vielen nebensächlichen Schönheiten und Vortrefflichkeiten des Werkes ist doch der philosophische Standpunkt Langes die erbärmlichste Zappelei in metaphysischer Schlinge, die je gesehen wurde." Das ist wenigstens ein kurzer Weg der Verständigung, und da Genosse David die Schriften Dietzgens „positiv-schöpferisch" nennt, so ist es auch vielleicht der richtige.

Indessen wer weiß? Einstweilen wollen wir nur um des braven Kant willen uns nicht unseren braveren Spinoza verkümmern lassen.

1 Mehring relativiert hier völlig unhistorisch die gesamte Geschichte der Philosophie und die Bedeutung der einzelnen philosophischen Lehren. Damit verwischt er den grundlegenden Unterschied zwischen Materialismus und Idealismus und übersieht außerdem auch den gänzlich verschiedenen Wahrheitsgehalt der materialistischen und der idealistischen Philosophie.

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