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Franz Mehring 19140115 Kirche und Sozialdemokratie

Franz Mehring: Kirche und Sozialdemokratie

15. Januar 1914

[gezeichnet: F. M., Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 7, 15. Januar 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 434-437]

Die Bewegung, die sich innerhalb der Partei für den Austritt aus der Kirche bemerkbar macht, lenkt wieder einmal die Aufmerksamkeit auf den Satz unseres Programms: Religion ist Privatsache.

Dieser Satz, so einfach oder selbst trivial er klingt, ist die Frucht jahrhundertelanger Kämpfe, die Ströme von Blut gekostet haben. Es war ein großer geschichtlicher Fortschritt, als die europäischen Klassenkämpfe die religiösen Schleier abwarfen, in die sie bis tief in die erste Periode des Kapitalismus gehüllt waren. Dieser Fortschritt vollzog sich namentlich in den Tagen der bürgerlichen Aufklärung und der großen französischen Revolution. Lessing verwarf jeden Versuch, auf dem Wege religiösen Haders die Geister zu befreien, und selbst vor der konsequenten Orthodoxie hatte er noch größere Achtung als vor jenem vernünftigen Christentum, von dem niemand wisse, weder wo ihm das Christentum noch wo ihm die Vernunft säße; so waren auch Danton und Robespierre die abgesagtesten Feinde aller Agitationen, die dem Volke die Religion verleiden wollten.

In der modernen Arbeiterbewegung hat sich diese reinliche Scheidung von Politik und Religion vollends durchgesetzt. Aber wenn die Sozialdemokratie die Kirche ungeschoren lässt, so wird sie von der Kirche nicht ungeschoren gelassen. Es ist wahr: sie fordert die Trennung der Kirche vom Staat, in richtiger Folgerung aus ihrem Grundsatze, dass Religion Privatsache sei. Allein diese Forderung greift die Kirche als solche nicht an. Im Gegenteil: jede aufrichtige, von der inneren Wahrheit ihrer Glaubenssätze durchdrungene Kirche will auf eigenen Füßen stehen und verschmäht die Almosen aus dem öffentlichen Säckel, die zum mehr oder minder großen Teil von Andersgläubigen oder gar von Ungläubigen aufgebracht werden. Indessen die geschichtliche Entwicklung hat es mit sich gebracht, dass von allen Kirchen gilt, was Marx von der englischen Hochkirche sagt, sie verzeihe eher die Angriffe auf 38 von ihren 39 Glaubensartikeln als auf 1/39 ihres Geldeinkommens. Und schon aus diesem Grunde, von andern Gründen ganz abgesehen, findet die Sozialdemokratie auf ihren Wegen die Kirche als Gegnerin.

Diesen Angriffen muss die Partei begegnen, aber sie gibt deshalb mitnichten ihren Grundsatz auf, dass Religion Privatsache sei. Sie widersetzt sich den Angriffen der Kirche nur, wo die Kirche sich aufs unkirchliche Gebiet begibt und sich selbst untreu wird, indem sie sich aus einer religiösen Gemeinschaft zum Werkzeuge weltlicher Herrschaftsinteressen erniedrigt. Wir tasten weder Beichtstuhl noch Kanzel an, wenn wir den Missbrauch des Beichtstuhls und der Kanzel für kapitalistische Unterdrückungszwecke bekämpfen. Diese Grenzscheide ist so klar und scharf, dass sie von der Partei im Wesentlichen niemals aus den Augen verloren worden ist, wenn auch gelegentliche Entgleisungen einzelner Parteigenossen vorgekommen sein mögen.

Mag nun aber auch die Sozialdemokratie als solche sich die vollkommenste Zurückhaltung gegenüber allem religiösen Wesen auferlegen, so ist die Frage damit noch nicht erledigt für die einzelnen Parteimitglieder, die zugleich Mitglieder der Kirche sind. Sie können durch die feindselige Haltung der Kirche gegen die Partei in Gewissenskonflikte mancherlei Art geraten; die rechte Hand des Privatmenschen, die für die Kirche steuert, schlägt die linke Hand des Parteimenschen, die [für die] Partei steuert und umgekehrt. Um hierin klarzusehen, muss man zunächst scheiden zwischen denjenigen Parteimitgliedern, die dem religiösen Glauben längst abgestorben sind und nur aus alter Gewohnheit oder äußerlichen Rücksichten irgendwelcher Art in der Kirche bleiben, und denjenigen Parteimitgliedern, die sich den Glauben an die religiösen Heilswahrheiten bewahrt haben und durch gemütliche Bedürfnisse, mitunter der stärksten Art, an die Kirche gefesselt sind, die ein Stück ihres inneren Lebens opfern würden, wenn sie von ihr schieden.

Von diesen den Austritt aus der Kirche zu fordern wäre ein verwerflicher Gewissenszwang. Aber auch von jenen fordert die Partei ihn nicht. Jedoch eine stärkere Macht als irgendeine Parteiinstanz, nämlich ihr Parteigewissen, sollte sie antreiben, aus der Kirche zu scheiden, in der sie nichts mehr zu suchen haben. Sieht man selbst von allen sittlichen Gesichtspunkten ab, so müsste ihnen schon die nüchterne Erwägung naheliegen, dass sie mit ihren paar Groschen nicht eine Gemeinschaft stiften dürfen, die ihren Personen fremd geworden, aber ihre Partei zu schädigen bemüht ist. Selbst die Kirche verliert an solchen Gliedern nichts und tut auch so, als ob sie lieber heute als morgen von ihnen befreit wäre; tatsächlich freilich sucht sie und die ihr verbündete Staatsmacht doch durch allerlei Mittelchen die räudigen Schafe in der Herde festzuhalten.

Umso höher ist es anzuerkennen, dass sich jetzt eine Bewegung für den Austritt aus der Kirche innerhalb der Partei vollzieht. Sie kommt ohne äußeren Anstoß aus den Massen als das offene Bekenntnis einer ehrlichen Überzeugung und muss als solche begrüßt werden. Man kann auch einen Schritt weiter gehen. Sowenig es die Sache der Partei sein kann, die Bewegung des Kirchenaustritts in ihre leitende Hand zu nehmen, sowenig lässt sich dagegen einwenden, dass einzelne Mitglieder der Partei die nun einmal entstandene Agitation zu schüren und zu stärken suchen. Aber freilich gibt es auch hier eine klare und scharfe Grenzscheide, die im Interesse der Partei nicht überschritten werden darf: die Grenzscheide zwischen der Bewegung für den Kirchenaustritt innerhalb der Partei und einer anscheinend gleichen, aber tatsächlich grundverschiedenen Agitation auf bürgerlicher Seite.

Wir meinen die Agitation des Komitees Konfessionslos, des Monistenbundes und ähnlicher bürgerlicher Gebilde, die sich für den Austritt aus der Kirche ins Zeug legen. Sie gehen dabei von genau entgegen gesetztem Gesichtspunkt aus wie die Parteimitglieder, die für den gleichen Zweck wirken. Sie wollen gerade das, was die Sozialdemokratie nicht will: nämlich den religiösen Hader zum Brennpunkt des öffentlichen Lebens machen. Sie wollen der Kirche gar nicht an den Kragen, als einem Werkzeuge weltlicher Herrschaftsinteressen, für welche Interessen sie selbst mehr oder weniger begeistert sind; sie wollen die Kirche vielmehr als eine religiöse Gemeinschaft beseitigen, an deren Stelle sie jene seichte Aufklärung setzen möchten, von der ein Mann wie Lessing sagte, sie sei noch viel ungenießbarer als selbst die strengste Orthodoxie.

Man nehme nur einmal den namhaftesten Mann dieser Richtung, den mit Recht berühmten Naturforscher Ernst Haeckel, dessen wissenschaftliche Verdienste auch von der Sozialdemokratie stets anerkannt worden sind. Seine Auffassung religiöser Fragen, wie er sie in seinem Buche über die Welträtsel niedergelegt hat, ist so flach, dass jeder Nachmittagsprediger sie in einer halben Stunde widerlegen könnte, und gegenüber der Arbeiterbewegung steht er auf dem Standpunkt des von ihm in den Himmel gehobenen Bismarck. Mit dieser bürgerlichen Agitation für den Austritt aus der Kirche darf die freiwillige Lösung breiter Arbeitermassen von der Kirche nicht vermischt werden, wenn die Partei nicht geschädigt werden soll.

Soviel über die Parteimitglieder, die der Kirche nur noch äußerlich anhängen. Über diejenigen Parteimitglieder, die ihr noch innerlich angehören, können wir uns kürzer fassen. Die Partei denkt nicht daran, sie ihrem Glauben abwendig zu machen; sie achtet ihre religiösen Überzeugungen, und sie mutet ihnen auch nicht zu, innerhalb ihrer kirchlichen Organisationen für den Sozialismus zu wirken, was eine ganz ausgefallene Idee wäre. Was wiederum nicht die Partei, sondern ihr Parteigewissen von diesen Parteimitgliedern beanspruchen kann, ist nur soviel, dass sie, wo sich ihre Kirche feindselig zur Arbeiterbewegung stellt, die Interessen ihrer Klasse über die Interessen ihrer Seelenhirten stellen. Und das wird um so eher und gründlicher geschehen, je mehr die Massen vom sozialistischen Geist durchtränkt werden.

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