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Franz Mehring 19040720 Ludwig Feuerbach

Franz Mehring: Ludwig Feuerbach

20. Juli 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Zweiter Band, S. 513-517. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 110-115]

Am 28. Juli dieses Jahres vollenden sich hundert Jahre seit der Geburt Ludwig Feuerbachs. Sein Geburtsjahr fiel zusammen mit dem Todesjahr Kants, der die klassische deutsche Philosophie einleitete, wie Feuerbach sie vollendete. Es war sein Ruhm, alle idealistischen Hirnwebereien zu verabschieden; es wurde sein Verhängnis, dass es ihm nicht gelang, zum historischen Materialismus vorzudringen.

Doch es kann nicht unsere Aufgabe sein, hier in schlechterer Fassung zu wiederholen, was Engels in seiner klassischen Schrift über Feuerbach längst klargestellt hat. Lieber möchten wir einiges zum persönlichen Verständnis Feuerbachs beitragen. Er stammte aus einer Familie, die in drei aufeinanderfolgenden Generationen eine Fülle bedeutender Talente gezeugt hat. Sein Vater war der berühmte Kriminalist Anselm Feuerbach; dessen Söhne haben sich einen Namen gemacht, der eine als Archäologe, der zweite als Jurist, der dritte als Mathematiker und eben der vierte, unser Ludwig, als Philosoph; ein Enkel ist dann ein angesehener Maler geworden. Man nannte sie alle die Feuerbäche: hochgemute Naturen mit reichem Gemütsleben, die sich zumeist früh aufgezehrt haben. Am längsten hat Ludwig ausgedauert, er hat es zu achtundsechzig Lebensjahren gebracht. Und wäre auch er dahingegangen, auf der Höhe seines Lebens und seines Ruhmes, als er den „Kaiserschnitt an der christlichen Religion" vollzogen hatte, so wären ihm nur einige Jahrzehnte quälenden Siechtums erspart geblieben.

Auf den ersten Blick gibt es keinen größeren Gegensatz als zwischen dem Vater Anselm und dem Sohne Ludwig. Hier der Philosoph, der in sehr eingeschränkten Verhältnissen, mit einer knapp zugeschnittenen Einnahme zufrieden, den besten Teil seines Lebens auf einem deutschen Dorfe verbringt, ungesehen, alles Äußere ablehnend, den Welthändeln, wenigstens der Berührung mit ihnen, entschieden feind, dort der bayerische Staatsrat und spätere Präsident, der, äußerlich glänzend gestellt, unter den schwierigsten Verhältnissen bei Hofe mit Kabalen und Intrigen aller Art in einen beständigen Kampf verwickelt, in diesen Kämpfen gerade eine Kraft, Schlagfertigkeit und Elastizität entwickelt, die klar zeigen, wie sehr, trotz seiner großen Bedeutung als Gelehrter, seine innerste Natur dem Leben zugewandt war. Aber im tiefsten Grunde waren Vater und Sohn einander verwandt, und wie der Vater, so durfte auch der Sohn sagen: Meine Natur ist zu Kampf und Streit gemacht.

Früh schon stießen die harten Köpfe aufeinander. Ludwig Feuerbach zählte erst zwanzig Jahre, als er dem Vater das Studium der Theologie aufsagte, in einem Briefe, der bereits den ganzen Mann enthält. Es heißt darin: „Ich kann getrost sagen, ich habe in der Theologie gelebt, gewohnt, gefühlt, gedacht, ich saß an jenen Quellen, wo sie, ewig verjüngt, als schöne Nymphe mir emporstieg, aber auch an Brandstätten, wo sie wie eine Hexe zu einem verrunzelten, verkrüppelten, verschrumpften Apfelschnitt eindorrte; ich konnte fröhlich jauchzen mit dem Sänger David, Winter, Frühling, Sommer und Herbst brachte mir der Wechsel seiner tiefen Empfindungen, den Menschen gab mir die Lieblichkeit seiner Hirtenlieder, den Gott die Erhabenheit seiner Preisgesänge; ich konnte jammern mit Jeremias über den Untergang der gottgeweihten Stadt, zürnen und dräuen mit Ezechiel dem verruchten Volke, Flüche mit Donner und Blitz, wie von Cherubinen getragen, auf seine Härte schleudern; mit den Jüngern durch das heilige Land wandern, an den Lippen des Herrn hangend den Honig seiner Lehre einsaugen: – ich habe in ihr gelebt. Aber jetzt befriedigt sie mich nicht mehr, sie gibt mir nicht, was ich fordere, was ich brauche, nicht mein tägliches Brot, nicht die notwendigste Nahrung meines Geistes; dem Armen noch reichte sie am Kreuze statt des ersehnten Trunkes kühlen Wassers einen Essigschwamm. Palästina ist mir zu eng; ich muss, ich muss in die weite Welt, und diese trägt nur der Philosoph auf seinen Schultern. Von Morgen nach Abend zieht die Geschichte des Menschengeschlechts; aus dem jugendlichen schönen Reize des Morgenlandes trete ich zurück in mich, in den tiefen Ernst, in die gereifte männliche Besonnenheit germanischer Philosophie. Sollte ich bei der Theologie mein Verbleiben haben, so würde ich aus einem Freien ein Sklave wider Überzeugung und Einsicht, wider die eigene Befriedigung meiner selbst, wider Interesse, Lust und Neigung; ich müsste gehen, ohne Beine, atmen, ohne Luft zu haben; sie ist mir abgestorben und ich ihr … Mich in die Theologie zurückweisen hieße einen unsterblich gewordenen Geist in die einmal abgelegte sterbliche Hülle wieder zurückwerfen, denn die Philosophie reicht mir die goldenen Äpfel der Unsterblichkeit und gewährt mir den Genuss ewiger Seligkeit, Gegenwart und Gleichheit mit mir selbst." Diese ergreifenden Bekenntnisse legen dem Vater nun die Frage nahe, ob er nicht schleunige Anstalten treffen solle, die geistige Gesundheit des Sohnes wiederherzustellen; so arg habe die Tollheit, während sie sich als Philosophie ankündige, in verkehrten, verzerrten, durcheinander gewirrten Bildern gerast. Aber er kennt sein Fleisch und Blut, und da er sich einst in ähnlicher Weise von seinem Vater emanzipiert hat, so weiß er, dass in solchen Dingen nichts zu machen ist. „Fest überzeugt" – so schreibt er dem Sohne zurück –, „dass über Dich nichts zu gewinnen ist, dass selbst der Gedanke an eine Dir künftig bevorstehende kummervolle Existenz ohne Brot und Ehre allen Einfluss auf Dich verloren hat, überlasse ich Dich Deinem eigenen Willen, Deinem Dir selbst bereiteten Geschick und – ich sage es Dir voraus – Deiner eigenen Reue." Nun, die Reue hat nie an die Türe Ludwig Feuerbachs geklopft, aber die „kummervolle Existenz ohne Brot und Ehre" ist ihm, wenigstens im Sinne des Vaters, beschieden gewesen.

Gleich seine ersten Schriften machten ihn unmöglich für die akademische Laufbahn, die ihm in den vormärzlichen Zeiten allein die Aussicht eröffnen konnte, in halbwegs unabhängiger Stellung seinen philosophischen Arbeiten zu leben. Er quälte sich einige Jahre als Privatdozent in Erlangen, aber seine Hoffnungen, je eine Professur zu erlangen, zerrannen eine nach der anderen, soweit sie überhaupt auftauchten. Seit dem Jahre 1836 lebte er in dem Dorfe Bruckberg bei Ansbach, wo ihm eine geringe Pension, die er als Sohn seines Vaters aus der bayerischen Staatskasse bezog, ein geringes Heiratsgut seiner Frau und das geringe Honorar seiner Schriften eine bescheidene Existenz ermöglichten. Doch war seine Flucht in die ländliche Einsamkeit noch nicht der tragische Bruch in seinem Leben, dessen Glanz- und Ruhmesperiode vielmehr nun erst begann. Es war Feuerbachs Meinung, die Galilei lange vor ihm in die Worte gekleidet hatte, die Stadt sei gleichsam ein Gefängnis spekulativischer Gemüter, hingegen das freie Landleben sei ein Buch der Natur, so einem jeden immerdar vor Augen liege, der mit seinem Verstand darin zu lesen und zu studieren beliebe. Mit ähnlichen Worten hat Feuerbach sein Leben in Bruckberg stets gegen alle Anfechtungen verteidigt; er liebte die ländliche Einsamkeit, nicht im Sinne des alten, friedseligen Wortes: bene vixit, qui latuit, wohl dem, der im Verborgenen gelebt hat, sondern weil sie ihm die Quelle war, woraus er die Kraft zum Kampfe schöpfte, in dem Bedürfnis des Denkers, sich zu sammeln, sich keinen jener Akkorde, die ihm aus der Betrachtung des Weltganzen entgegen rauschten, durch das Tagesgeräusch entführen zu lassen und im Anschauen der Natur, dem großen Urquell alles Lebens und seiner Geheimnisse, in sinnlich unmittelbarem Ergreifen nahe zu sein und zu bleiben.

Entscheidend war, dass Feuerbach trotz seines ländlichen Lebens den großen Kampf der Zeit in vorderster Reihe mitkämpfte. Gleich nachdem er sich in Bruckberg angesiedelt hatte, begann Arnold Ruge die „Hallischen Jahrbücher", denen und namentlich deren Nachfolgerin, die „Deutschen Jahrbücher", Feuerbach den geistigen Stempel aufdrückte. Es war eine gewaltige Befreiungsarbeit, die dann im „Wesen des Christentums" gipfelte, das im Jahre 1841 erschien und, wie Engels sagt, „uns alle momentan zu Feuerbachianern" machte. Der Mensch macht die Religion, aber nicht die Religion den Menschen: in diesem Satze fasste sich das epochemachende Werk zusammen, das Feuerbach nicht mehr übertreffen sollte. In erster Reihe seine Schriften hatten den Zorn der vormärzlichen Reaktion so gereizt, dass sie mit dem Polizeistocke niederschlug, was es in Deutschland noch an Freiheit des Philosophierens gab. Die „Deutschen Jahrbücher" wurden verboten, und die philosophische Opposition musste ins Ausland wandern, wenn sie sich nicht feige ergeben wollte. Das Ergeben ist nicht die Sache Feuerbachs gewesen, aber so war es auch nicht der kecke Sprung in die Wogen, die um das deutsche Totenland brandeten. Der Tag, an dem ihn Karl Marx mit feurigen Worten zur Mitarbeit an den „Deutsch-französischen Jahrbüchern" aufforderte und Feuerbach voll regen Interesses zwar, aber doch ablehnend antwortete, ist der schwarze Tag seines Lebens gewesen, sowenig der Absender wie der Empfänger des Briefes es ahnen konnten.

Feuerbach stand schon völlig außerhalb der lebendigen Zeit, als der Sturm von 1848 heranbrauste. An der revolutionären Bewegung hat er so gut wie gar keinen Anteil genommen. Er hielt nur auf Wunsch Heidelberger Studenten vom Dezember 1848 bis März 1849 in der Neckarstadt Vorlesungen über Religionsphilosophie, und auch das legte ihm die größte Selbstüberwindung auf. „Ich habe", schrieb er aus Heidelberg an seine Frau, „seither die traurigsten Zustände durchlebt, die nur immer der Mensch erleben kann. Ich hatte die grenzenloseste Sehnsucht nach Euch, nach Bruckberg, nach meinem alten, stillen, einfachen und doch so gehaltvollen Leben. Alles, alles war mir unheimlich, unbehaglich, ekelhaft." Der Sieg der Reaktion brach ihn freilich nicht; als ihm sein junger Freund Kapp die Übersiedlung nach Amerika empfahl, schrieb er nicht ohne berechtigtes Selbstbewusstsein: „In Amerika ist ein Mensch wie ich ein gleichgültiges Ding, ein Nichts, aber in Europa ist eine persona ingrata ein höchst bedeutendes Etwas, ein Dorn im Auge der Regierungen, ein Pfahl im Fleische der geistlichen und weltlichen Polizei, der ihr Tag und Nacht keine Ruhe lässt." Allein so ehrenhaft diese Gesinnung war und so wenig sie Feuerbach verhehlte, so täuschte er sich doch, wenn er meinte, dass die Reaktion sehr wohltätig auf ihn wirke.

Sie legte ihn trotz alledem völlig lahm, nicht durch äußere Mittel, sondern weil Feuerbach die Welt nicht mehr verstand, über die der Revolutionssturm hinweggefegt war. In den fünfziger Jahren schuf er mit unendlicher Arbeit und unsäglicher Mühe seine Theogonie, die er selbst immer als das größte Ergebnis seines geistigen Schaffens betrachtet hat, so dass er aufs tiefste enttäuscht wurde, als sie kein Mensch beachtete, weder Freund noch Feind. Und doch war die Sache erklärlich genug. Ruges Kritik, dass die Theogonie nur Variationen eines schon im „Wesen des Christentums" abgedroschenen Themas enthalte, war leichtfertig genug und mochte insofern mit Recht Feuerbachs Zorn gegen den alten Freund wachrufen, jedoch sie enthielt den richtigen Gedanken, dass Feuerbach noch immer da stände, wo er zehn Jahre früher gestanden hatte. Allein hier stand die deutsche Bourgeoisie nicht mehr, die sich von Feuerbach, der Hegel verstanden und eben dadurch überwunden hatte, vielmehr abwandte zu jenem Schopenhauer, der Hegel niemals verstand, aber immer beschimpfte. Gewiss war die Philosophie auf diesem sinnreichen Wege nicht loszuwerden, aber wer den reich gewordenen oder reich werdenden Philistern wieder die nötige Dialektik einpauken konnte, hieß nicht Feuerbach, sondern Marx.

Am ehesten hätte sich Feuerbach zu dem naturwissenschaftlichen Materialismus der fünfziger Jahre ein Herz fassen können, aber er war ein viel zu tief angelegter Geist, um an den Reisepredigten der Büchner, Moleschott und Vogt mehr als ein sehr gemischtes Vergnügen zu finden. Er stimmte ihnen rückwärts zu, aber nicht vorwärts. In einer Rezension über eine Schrift Moleschotts schrieb er das geflügelte Wort, das seitdem von tausend akademischen Strebern tot gepeitscht worden ist: Der Mensch ist, was er isst. Als dann im Jahre 1859 wieder ein frischerer Wind zu wehen begann, stand Feuerbach der deutschen Einheitsfrage mit der kindlichen Antithese gegenüber: Preußen hat wohl den Kopf, aber nicht das Herz, Österreich wohl das Herz, aber nicht den Kopf.

Und doch wie sehr immer die Entfremdung vom Kampfe den Geist dieses geborenen Kämpfers verödete, er blieb doch allezeit ein echter Denker. Liest man jenes unendlich geschmähte Wort: Der Mensch ist, was er isst, in seinem Zusammenhange, so will Feuerbach damit nur die tiefe Wahrheit aussprechen, dass von menschlicher Gesittung niemals anders als in heuchlerischem Sinne gesprochen werden könne, ehe sich die Massen der Menschheit in menschenwürdigen Zuständen befinden. Und wenn er dem deutschen Dualismus im Jahre 1859 mit völliger Unbeholfenheit gegenüberstand, so hat er den preußischen Sieg von 1866 mit dem epigrammatisch feinen Worte gewürdigt: „Man muss allerdings für Preußen sein, weil man nicht dagegen sein kann, ohne für Österreich zu sein. Man muss sich freuen, dass die Kleinstaaten zum Teil wenigstens aufgehoben sind, aber sich ärgern über diese Freude, wenn man bedenkt, dass die preußische Großtat dasselbe Prinzip, wie diese, nur im Großen verfolgt. Sagt man, es sei doch ein Schritt zur Einheit; ja, aber auch zur Unterwerfung unter Einen, der sich nicht von den anderen Unterworfenen wesentlich unterscheidet."

Als Feuerbach so schrieb, lebte er nicht mehr in seinem geliebten Bruckberg. War es seine Schuld, um seiner ländlichen Einsamkeit willen aus dem Vorkampf geschieden zu sein, so hat er sie allzu schwer dadurch gebüßt, dass er am Abend seines Lebens sein stilles Philosophenheim verlor. Sein letztes Jahrzehnt hat er auf dem Rechenberg bei Nürnberg verlebt, wo er sich vorkam „wie eine Blume ohne Blumentopf, wie ein Fluss ohne Bett, wie ein Bild ohne Rahmen". Es war eine Marterstation, wie sie ähnlich Lessing in seinem verwunschenen Schlosse zu Wolfenbüttel erlitten hat. In diesen Jahren des Elends und der Krankheit hat Ludwig Feuerbach noch die deutsche Arbeiterbewegung aufsteigen gesehen und ihre Blätter mit freundlicher Teilnahme verfolgt. Arbeiter stellten dann auch das Hauptkontingent des gewaltigen Zuges, der den toten Denker zu Grabe geleitete. Am 12. September 1872 ist Ludwig Feuerbach gestorben.

Er ruht auf dem Johanniskirchhof in Nürnberg, wo auch Albrecht Dürer und Hans Sachs schlafen. Nachdem die deutsche Bourgeoisie ihn hatte verhungern lassen, hat ein reicher Bourgeois eine prächtige Säule auf sein Grab gestellt. Dauernder als dies Erz ist das Denkmal, das Ludwig Feuerbach sich selbst gesetzt hat, als einer der großen Befreier, die in der Vorhalle des deutschen Sozialismus die ewige Wacht halten.

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