Franz Mehring‎ > ‎Philosophie‎ > ‎

Franz Mehring 19010417 Moderne Evangelienkritik

Franz Mehring: Moderne Evangelienkritik*

17. und 24. April 1901

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Zweiter Band, S. 79-85 u. 115-122. Gesammelte Schriften, Band 13, S. 241-260]

I

Die Schrift Harnacks soll „rein historisch" sein, ist es aber nur zum kleinsten Teile. Weit überwiegend enthält sie allerlei erbauliche Betrachtungen über das Wesen des Christentums, und insoweit würde ihre Kritik nicht an diese Stelle gehören. Allein der gegenwärtige Rektor der Berliner Universität gilt als das Haupt der modernen Evangelienkritik, die Strauß und Bauer widerlegt, Jesus als historische Person und die Evangelien als eine authentische Darstellung seines Lebens nachgewiesen haben soll, und da die Vorlesungen Harnacks nach seiner eigenen Meinung die „Quintessenz" seiner Wissenschaft enthalten, so bieten sie den immerhin nicht unwillkommenen Anlass, in aller Kürze einmal wenigstens den historischen Ort dessen festzustellen, was sich heute moderne Evangelienkritik nennt.

Die Evangelienkritik ist so alt wie die Evangelien selbst. Die historische Glaubwürdigkeit der Auferstehung Jesu untersuchend, zweifelte Lessing schon im Jahre 1778 daran, ob „über eine so abgedroschene Materie itzt noch etwas einzuwenden sein möchte, dessen sich nicht schon seit siebzehnhundert Jahren einer oder der andere sollte bedacht haben". Jedoch die Kritik steht auch im Flusse der historischen Entwicklung, nach ihrem Ursprung, ihrer Methode, ihrem Zwecke und ihrer Wirkung; in allen diesen Beziehungen war die Evangelienkritik der mittelalterlichen Rabbiner eine andere als die Evangelienkritik der bürgerlichen Aufklärung, und innerhalb dieser gab es wieder die mannigfaltigsten Schattierungen. Das war begreiflich genug, da die Evangelienkritik der bürgerlichen Aufklärung untrennbar mit den politischen und sozialen Interessenkämpfen der bürgerlichen Klasse zusammenhing. Deshalb war es auch kein Zufall, dass Deutschland das klassische Land der Evangelienkritik wurde. Die Tatsache hatte dieselben Wurzeln wie unsere klassische Literatur und Philosophie überhaupt; je unmöglicher in dem ökonomisch zurückgebliebenen Deutschland noch politische und soziale Interessenkämpfe waren, um so reiner und ungetrübter entfaltete sich hier die ideologische Seite der bürgerlichen Aufklärung.

Der alte Reimarus machte den Evangelien einen so gründlichen Krieg wie kein englischer oder französischer Aufklärer, während sein Herausgeber Lessing bereits auf die entscheidende Frage aller Evangelienkritik geführt wurde, auf die Frage nämlich: Wenn die Evangelien Märchen und Sagen oder gar Lug und Trug sind, wie hat sich dann aus diesem sumpfigen Untergrunde die weltgeschichtliche Erscheinung des Christentums entfaltet? Nach dem Stande der damaligen Forschung konnte Lessing diese Frage noch nicht selbst beantworten, aber in seinen theologischen Schriften finden sich schon die fruchtbaren Keime einer wissenschaftlichen Evangelienkritik. Wenn die bürgerlichen Lessing-Gelehrten heute noch von Lessings „unklarer" und „unwahrer" Stellung zu Reimarus fabeln, so beweisen sie damit nichts gegen Lessing, sondern nur etwas gegen sich selbst, in dem für sie günstigsten Falle mindestens so viel, dass sie heute noch nicht begreifen, worauf es in letzter Instanz bei aller Evangelienkritik ankommt.

Je schwächer die praktischen Anläufe der deutschen Aufklärung gewesen waren, umso gründlicher wurden sie von der deutschen Romantik zerdrückt. Allein so weit ließ sich das Rad der Zeit nicht zurückdrehen, dass der robuste Feudalglaube des Mittelalters wiederhergestellt werden konnte. Die deutsche Evangelienkritik starb nicht aus, aber sie nahm gemäß den Jahrzehnten nach Waterloo, als „so kläglich alles Leben eingeschneit", einen recht dürftigen Charakter an. Die bürgerliche Klasse, politisch versklavt wie sie war, fand ein letztes Luftloch zum Atmen im kirchlichen Rationalismus, während die Romantik, um den Kirchenglauben als eine Stütze ihrer Herrschaft zu erhalten, ihn ein wenig modernisieren musste. Der Rationalismus sprang nicht etwa in der Weise eines Reimarus mit den Evangelien um; er wollte sie vielmehr als echte Geschichtsquellen betrachtet wissen und nur ihre Wunder natürlich erklären. Umgekehrt kam es der Romantik gerade auf die Wunder an, aber sie sollten möglichst symbolisiert werden, da ihr handgreiflicher Widerspruch mit den Naturgesetzen den Gläubigen im neunzehnten Jahrhundert doch mehr Skrupel verursachte als im neunten Jahrhundert. So gingen der Rationalismus und die Romantik zwar von entgegen gesetzten Standpunkten aus, begegneten sich aber auf halbem Wege, auf der Suche nach jenem vernünftigen Christentum, von dem Lessing schon gesagt hatte, man wisse nicht, weder wo ihm das Christentum noch wo ihm die Vernunft sitze.

Man erkennt die schlagende Wahrheit dieses Wortes sofort, wenn man einen Augenblick bei der Analyse verweilt, die Paulus, der hervorragendste Vertreter des Rationalismus, von den Hauptwundern der Evangelien gegeben hat. Um die göttliche Geburt Jesu zu erklären, sagt er: Nach der evangelischen Erzählung ist der Erzengel Gabriel bei der Jungfrau Maria erschienen und hat ihr verkündet, dass sie vom heiligen Geiste mit dem künftigen Messias schwanger sei, aber das ist der beschränkten Jungfrau nur vorgespiegelt worden von dem angeblichen Erzengel, der vielmehr ein Mann von Fleisch und Blut war und die Schwangerschaft der Maria auf einem den Naturgesetzen entsprechenden Wege verursachte. Die Auferstehung Jesu erklärte Paulus aber so, dass Jesus nur scheintot gewesen und aus diesem Scheintod auf natürlichem Wege erwacht sei. Man sieht sofort, wie bei diesem vernünftigen Christentum sowohl die Vernunft wie das Christentum in die Brüche gehen: die Vernunft, weil die Evangelien zu dieser Auslegung nicht die geringste Handhabe bieten, das Christentum, weil das Erwachen aus einem Scheintod oder gar ein an einem beschränkten Mädchen verübtes Verbrechen unmöglich Heilstatsachen für die Erlösung der sündigen Menschheit sein können.

Die Romantik griff ihre Aufgabe immerhin viel feiner an. Ihr hervorragendster Theologe war Schleiermacher, ein ästhetisch gebildeter Mann und namentlich, wie Lassalle ihm nachgerühmt hat, ein Mann von unbeschreiblichem kritischen Takte, der ihn selbst da, wo er nicht ganz klar sah, oft das Richtige fühlen ließ. Schleiermacher sah in Jesus den Menschen, dessen Gottesbewusstsein, sofern es sein ganzes Denken und Tun bestimmt habe, als ein eigentliches Sein Gottes in ihm gelten könne, denjenigen, der als geschichtliches Einzelwesen zugleich urbildlich, während das Urbildliche in ihm zugleich vollkommen geschichtlich gewesen sei. Von diesem Standpunkt aus erklärte Schleiermacher das vierte, nach Johannes benannte Evangelium für das eigentlich historische Evangelium, obgleich es später als die drei ersten Evangelien entstanden ist und viel deutlicher die Spuren einer philosophischen Tendenzdichtung trägt. Eben dies aber erleichterte die symbolischen Auslegungen Schleiermachers, und so suchte er auf der Retorte seines Symbolismus den Wundern Jesu, deren auch das vierte Evangelium übergenug enthält, die allzu massive Form wegzudampfen. Allein gerade die Hauptwunder der Evangelien widerstanden diesem sanfteren Entwunderungsprozess nicht minder als den gewaltsamen Methoden des Rationalismus; vor der göttlichen Geburt Jesu musste Schleiermacher einfach die Waffen strecken, wobei sein Rückzug durch eine haltlose Berufung auf sein angebliches Hauptevangelium, das davon nichts wisse, mehr enthüllt als verdeckt wurde, während er bei der Auferstehungsgeschichte nicht weiter kam als Paulus: auch er wollte den Kreuzestod Jesu nur als Scheintod gelten lassen. So bewegte sich die Evangelienkritik des Rationalismus und der Romantik schließlich in demselben fehlerhaften Kreise: sind die Evangelien wirkliche Geschichtsquellen, so muss sich das Wunder aus ihnen entfernen lassen; lässt sich aber das Wunder nicht aus ihnen entfernen, so können sie keine wirklichen Geschichtsquellen sein.

Jedoch waren Rationalismus und Romantik nicht die einzigen Geistesmächte im damaligen deutschen Leben. Die klassische Literatur und Philosophie hatte sich vor den Schlägen der Reaktion in die Höhe der Wolken flüchten müssen und mit dem festen Boden unter ihren Füßen auch viel von ihrer revolutionären Kraft verloren; Kant wusste sich mit dem lieben Gott und Hegel selbst mit der göttlichen Dreieinigkeit abzufinden. Aber über dem gemeinen Tross der Aufklärung blieb die klassische Philosophie immer so hoch stehen, wie Lessing seinerzeit über den Aufklärern vom Schlage Nicolais gestanden hatte. Hegel sagte, was das bloß Geschichtliche, Endliche, Äußerliche betreffe, so seien die heiligen Geschichten wie profane zu betrachten, den Glauben ginge das Wissen gemeiner wirklicher Geschichten nichts an. Das war freilich nur eine summarische Verdonnerung der Evangelien, und nicht ihre wissenschaftliche Kritik, aber die Waffen dieser Kritik rüstete Hegel in seiner Geschichtsphilosophie, und als das philosophische Wolkenwandeln sein Ende erreichte, in demselben Jahre 1835, wo das zurückgebliebene Deutschland durch die Gründung des Zollvereins und den Bau der ersten Eisenbahn wieder in den Strom des großen Weltverkehrs steuerte, fasste der Hegelianer Strauß die heiligen Schriften wie profane an.

Er zerbrach den fehlerhaften Kreis, worin sich Rationalisten und Romantiker mit ihrer Evangelienkritik bewegt hatten, indem er sagte: Wenn die Evangelien wirkliche Geschichtsquellen sein sollen, so unterliegen sie ohne alle Bedingungen und Voraussetzungen der historischen Kritik; was vor dieser Kritik nicht besteht, muss verworfen werden, nur was ihr Scheidewasser verträgt, kann als historische Wahrheit gelten. Dank seiner philosophischen Bildung wusste Strauß das Richtschwert der historischen Kritik anders zu handhaben als einst Reimarus; er brauchte, was er Unglaubwürdiges in den Evangelien fand, nicht mehr für menschlichen Lug und Trug zu erklären; es war ihm bewusstloses geschaffenes Erzeugnis der ersten christlichen Gemeinden, die auf Jesum alle messianischen Hoffnungen des Judenvolkes übertragen hätten. Indem Strauß das vierte Evangelium überhaupt als Geschichtsquelle verwarf, brannte er aus den drei ersten Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas) alles fort, was die historische Kritik unter gleichen Umständen an einem profanen Geschichtswerk verworfen hätte, und den Rest ließ er gelten als das, was historische Wahrheit über Jesu Leben und Werk ist. Es war ein Bild von schwankenden Umrissen, aber das Bild eines religiösen Genius, eines hervorragenden Menschen, an dessen persönliche Initiative die Entstehung des Christentums geknüpft sei.

Bei aller Gründlichkeit und Schärfe blieb diese Kritik aber doch noch in theologischen Voraussetzungen hängen. Die heiligen Schriften waren nicht völlig als profane behandelt, wenn Strauß als historische Wahrheit bestehen ließ, was von den drei ersten Evangelien übrigblieb, nachdem alle Wunder und Widersprüche davon getan waren. Es gehört zu den obersten Grundsätzen der historischen Kritik, solche Schriften, von denen sich ein großer, und in diesem Falle sogar der größte Teil als unhistorisch nachweisen lässt, auch in ihrem Reste als unsicheres Gut zu betrachten, wenn dieser Rest sich nicht durch anderweitige Zeugnisse als historisch wahr nachweisen lässt. Was würde man von einem Historiker sagen, der nach Ausscheidung aller Wunder und aller Widersprüche aus den homerischen Gesängen diese als historische Wahrheit ausgeben wollte? Dann aber erhob sich gegenüber dem Bilde Jesu, wie es Strauß nach den drei ersten Evangelien entworfen hatte, sofort eine Frage, die wir hier in Schleiermachers Fassung wiedergeben wollen, der sie noch nicht prinzipiell, sondern nur, um sein Lieblingsevangelium gegenüber den drei ersten ins rechte Licht zu stellen, aber in der Sache zutreffend gestellt hatte. Schleiermacher fragte nämlich, „wie ein jüdischer Rabbi mit menschenfreundlichen Gesinnungen, etwas sokratischer Moral, einigen Wundern, oder was wenigstens andere dafür nahmen, und dem Talent, artige Gnomen und Parabeln vorzutragen – denn weiter bliebe doch nichts übrig, ja einige Torheiten würde man ihm auch noch zu verzeihen haben –, wie einer, der so gewesen, eine solche Wirkung wie eine neue Religion und Kirche habe hervorbringen können, ein Mann, der, wenn er so gewesen, dem Moses und Mohamet nicht das Wasser gereicht haben würde". Es war dem Sinne nach dieselbe Frage, die Lessing sofort gestellt hatte, als er die Evangelienkritik des Reimarus herausgab.

Die Antwort auf diese Frage fand nunmehr Bruno Bauer, der sich zu Strauß verhält wie Lessing zu Reimarus. Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, ob und inwieweit Bruno Bauer als ideologischer Philosoph überhaupt auch noch in theologischen Voraussetzungen befangen blieb. Das epochemachende Verdienst seines Lebens errang er als Evangelienkritiker, und als solcher sah er in der mythischen Deutung der evangelischen Geschichte durch Strauß nur die kritische Stärkung eines theologischen Glaubenssatzes, die letzte Burg, die den Eingang in die wirkliche und weltliche Geschichte versperre. Er verwarf die Evangelien als Geschichtsquellen überhaupt, untersuchte sie aber umso einschneidender als Geistesprodukte ihrer Zeit, an der Hand der weltlichen Geschichte des römischen Weltreichs in den ersten zwei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. Er zeigte die Keime der christlichen Vorstellungen in der jüdischen und griechisch-alexandrinischen, der griechisch-römischen und der rein griechischen Literatur auf; er wies nach, wie oft die Evangelien namentlich den alexandrinischen Juden Philo und den römischen Stoiker Seneca sprechen lassen. Das war freilich schon den alten Kirchenvätern aufgefallen, aber sie hatten sich leicht darüber hinweggeholfen mit der – gänzlich unbewiesenen – Behauptung, dass Seneca, der vom Jahre 2 bis zum Jahre 65 unserer Zeitrechnung lebte, ein heimlicher Christ gewesen sei und mit dem Apostel Paulus verkehrt habe. Man braucht gar nicht einmal das schon aus chronologischen Gründen ungleich wahrscheinlichere Gegenteil anzunehmen und zu sagen, dass die Verfasser der Evangelien vielmehr aus Seneca geschöpft haben; möglich, dass beide Teile unabhängig voneinander dieselbe Quelle benutzt haben, die griechische Philosophie, in der sich Senecas Ideen in ununterbrochener Abfolge bis zu Plato und selbst bis zu Heraklit hinauf verfolgen lassen. Ist dem aber so, dann können diese Ideen nicht erst von Jesus als göttliche Wahrheiten verkündet worden sein, um sich darnach mit siegender Gewalt den Erdkreis zu unterwerfen.

Es hat nie ein Christentum gegeben, das, fix und fertig aus dem Judentum entstanden, mit bereits feststehender Dogmatik und Ethik die Welt erobert hat; das Christentum ist der griechisch-römischen Welt nicht aufgenötigt worden, sondern vielmehr, wenigstens in seiner Gestalt als Weltreligion, das eigenste Produkt dieser Welt. Diese Sätze hat Bruno Bauer mit einer Fülle der scharfsinnigsten Untersuchungen erhärtet, wobei durchaus nicht verhehlt zu werden braucht, dass seine Resultate im Einzelnen oft sehr anfechtbar sein mögen. Als ideologischer Historiker hat er sich manchmal selbst die Aussicht verrammelt; manchmal wieder hat er sich durch den Kampf gegen eingewurzelte Vorurteile zu weit fortreißen lassen; sein Hauptfehler ist wohl, dass er die Entstehung des Christentums um einige Jahrzehnte zu spät ansetzt, und auch darin geht er zu weit, dass er die historische Existenz Jesu überhaupt bestreitet. Allein das eigentliche Verdienst Bauers wird durch alles das nicht geschmälert; die Aufgabe, die er sich gesteckt hatte, ist viel zu schwierig und zu verwickelt, als dass ein einzelner sie sofort hätte lösen können. Sein unvergängliches Verdienst bleibt immer, den Weg gewiesen zu haben, auf dem die wissenschaftliche Lösung der Frage, wie das Christentum entstanden ist, allein verfolgt werden kann, und dieser Weg bleibt deshalb nicht weniger richtig, weil Bauers eigene Schritte darauf noch unsicher gewesen sein mögen. Wenigstens an einem Beispiel mag gezeigt werden, wie wenig gegen sein Prinzip bewiesen ist, wenn er in einem noch so wichtigen Einzelfalle des Irrtums überführt werden sollte.

Es ist keineswegs unmöglich, dass Bauers Behauptung, Jesus habe nie existiert, einmal gründlich widerlegt werden wird, wenn auch die „moderne Evangelienkritik" diese Leistung noch nicht vollbracht hat. In jedem Falle ist Bauer darin zu weit gegangen, die historische Existenz Jesu überhaupt zu leugnen. Nach dem heutigen Stande der wissenschaftlichen Forschung ist nur ein non liquet1 möglich. Gewiss kann die Existenz Jesu nicht durch die Evangelien bewiesen werden, denn die Evangelien sind keine Geschichtsquellen, und die paar beiläufigen Erwähnungen Jesu in der weltlichen Literatur der Zeit sind entweder nachweisbar gefälscht oder liegen so weit zurück, dass sie nicht mehr als ein authentisches Zeugnis gelten können. Aber wenn die Evangelien keine Geschichtsquellen sind, so können sie doch irgendeinen historischen Kern haben; wenn die Wunder, die sie berichten, nie geschehen und die Reden, die sie in den Mund Jesu legen, nur der Niederschlag allgemeiner zeitgenössischer Anschauungen sind, so kann doch einmal ein Mann, namens Jesus, in einer der ersten Christengemeinden gelebt und gewirkt haben. Bejahen ließe sich die Frage erst, wenn zuverlässige Berichte über seine historische Existenz entdeckt würden, verneinen lässt sie sich aber so lange nicht, als wir das Dunkel, das über dem kritisch noch nicht aufgelösten Reste der Evangelien schwebt, nicht zu lichten vermögen. Jedoch wenn die christliche Weltreligion nachweisbar ist als das Produkt der Zustände, die im römischen Kaiserreich bestanden haben, so liegt auf der Hand, dass die Frage nach der historischen Existenz Jesu ziemlich beiläufiger Natur ist, und am wenigsten wäre mit ihrer Bejahung seine Gottmenschheit verbürgt; von Seneca, der so viel neutestamentliche Weisheit verkündigt hat, ehe denn eines der vier Evangelien in seiner heutigen Gestalt niedergeschrieben war, wissen wir, dass dieser Erzieher Neros alles andere als ein vorbildlicher Mensch gewesen ist.

Wenn nun eine fortschreitende Entwicklung der deutschen Evangelienkritik nur auf dem von Bauer gewiesenen Wege möglich war, so ist dieser Weg doch nicht betreten worden. Das Interesse der bürgerlichen Aufklärung an der Evangelienkritik ist in der heutigen Bourgeoisie erloschen, ja selbst in sein Gegenteil verkehrt. Das haben schon Strauß und Bauer am eigenen Leibe erfahren. Als sie zuerst auftraten, wurden sie jubelnd begrüßt als die kühnsten Vorkämpfer der jungen Bourgeoisie; man kann sagen, dass die Evangelienkritik niemals eine solche Macht im deutschen Geistesleben gewesen ist wie in dem Jahrzehnt von 1835 bis 1845. Neben Strauß und Bruno Bauer machten namentlich die Schriften F. G. Baurs und der Tübinger Schule tiefen Eindruck. Das wurde aber anders, als die Revolution dräuenden Schrittes heran schritt und endlich ausbrach. Sobald die irdischen Interessen sich offen raufen konnten, verzichteten sie auf alle himmlischen Feldzeichen, und namentlich die Bourgeoisie pflegt sich, wenn sie auch nur erst einen Zipfel wirklicher Macht erobert hat, sehr bald auf die staatserhaltende Weisheit zu besinnen, dass „dem Volke die Religion erhalten" werden müsse. Weder Strauß noch Bauer wussten sich in diesen irdischen Kämpfen zurechtzufinden: Strauß wurde ein nationalliberaler Reichspatriot des trivialsten Schlages, und Bauer verstand sich politisch sogar mit der „Kreuz-Zeitung", die auf religiösem Gebiet den dumpfsten Kirchenglauben predigte. Allein es war die Lichtseite dieser Beschränktheit, dass beide Männer dem treu blieben, was einmal ihre historische Leistung gewesen war: ihre letzten Worte waren dieselben, wie ihre ersten Worte, nur bestimmter, klarer, schärfer, bereichert mit der Frucht jahrzehntelanger Arbeit.

Jedoch mussten sie jetzt Kreuzige! hören von derselben Klasse, die ihnen vierzig Jahre früher Hosiannah! zugerufen hatte. Man wird sich noch des fürchterlichen Spektakels entsinnen, den gerade die liberale Presse im Jahre 1872 über Straußens letzte Schrift erhob, obgleich er darin seine hohenzollernsche Gesinnungstüchtigkeit und seine manchesterliche Rechtgläubigkeit nicht wohl überbieten konnte, und die wenigen Schwurzeugen, die noch zu ihm hielten, ergriffen auch das Hasenpanier, als Bruno Bauers abschließende Schrift im Jahre 1878 erschien. Das „Literarische Zentralblatt", das kritische Stelldichein der deutschen Professoren, das immerhin den „Bann", der über Strauß verhängt wurde, wenig schmeichelhaft für die „deutsche Bildung" genannt hatte, sagte über Bauers letztes Werk, es verdiene keine ernsthafte Widerlegung, sondern Spott, und ähnlich meinte die „Nationalzeitung", damals das Hauptorgan der „gebildeten" Bourgeoisie, Strauß zeige „den Rabbi von Nazareth in jener goldig schimmernden Wolke, in der die Götter Homers das Schlachtfeld von Troja" beschritten, aber wenn Bauer „dunkle namenlose Massen" heraufbeschwöre – fi donc2 Es war wider Willen ein treffender Vergleich: diejenige deutsche Evangelienkritik, die ein Ruhm der bürgerlichen Bildung ist, reichte vom Jahre der ersten Eisenbahn, wo der Himmel der deutschen Bourgeoisie voll goldig schimmernder Wolken hing, bis zum Jahre des Sozialistengesetzes, wo die deutsche Bourgeoisie ihre letzten Ideale aus Angst vor den „dunkeln, namenlosen Massen" abschwor. Die erste unbefangene Würdigung von Bauers letzten Arbeiten musste sich auf verbotenen Wegen ins Deutsche Reich schleichen; sie war von Engels verfasst, der sie im Züricher „Sozialdemokraten" veröffentlichte.3

Seitdem hat die deutsche Evangelienkritik geschwiegen, abgesehen etwa von seichten Popularisierungen und natürlich der rein theologischen Literatur, die von theologischen Voraussetzungen ausgeht, um zu theologischen Ergebnissen zu kommen, die weltlich gesinnte Menschheit also nichts angeht. Nun hat sich aber neuerdings die wundersame Mär bis in die Reihen der Partei hinein erhoben, dass die „moderne Evangelienkritik" die Strauß und Bauer „überwunden" habe. Die Botschaft klingt zunächst tröstlich genug, denn Strauß ist schon durch Bauer „überwunden" worden, und Bauer kann in vermutlich manchen und wichtigen Punkten „überwunden" werden; war sie also so zu verstehen, dass auf dem von Bauer gewiesenen Wege beträchtliche Fortschritte gemacht seien, selbst wenn dabei noch soviel von Bauers eigenen Resultaten als ein Scherbenhaufen zurückbliebe, so konnte man sich nichts Besseres wünschen. Allein die „Überwindung" wird vielmehr dahin erläutert, dass die „moderne Evangelienkritik" die historische Existenz Jesu und die Evangelien als eine authentische Darstellung seines Lebens nachgewiesen habe, und damit wird die Sache sofort untröstlich.

Aus den Evangelien „authentische" Geschichtsquellen zu machen ist keiner irdischen Macht gegeben, es sei denn der theologischen Einbildungskraft, die mit wissenschaftlicher Forschung nichts zu tun hat, und die historische Existenz Jesu könnte, in welchem Sinn und Umfang immer, erst als erwiesen gelten, wenn sich darüber neue und zuverlässige Quellen aufgetan hätten. Aber an schriftlichen Zeugnissen haben wir immer noch nicht mehr als die Evangelien, wie die „moderne Evangelienkritik" selbst durch den Mund Harnacks verkündet, und wenn man die historische Wirklichkeit Jesu dadurch beweisen zu können glaubt, dass man in Palästina irgendeinen Ort entdeckt, an dem die Evangelien die Geschichte Jesu sich abspielen lassen, so hat man damit im günstigsten Falle bewiesen, dass die Verfasser der Evangelien in Palästina Bescheid gewusst haben, was wenigstens für die Verfasser der drei ersten Evangelien noch kein Mensch bezweifelt hat, aber man ist damit auch nicht einen Strohhalm der Entscheidung der Frage näher gerückt, ob sich die Geschichte Jesu an diesem Orte wirklich abgespielt hat. Das ist in anderer Form, aber im Wesen der Sache derselbe „garstige breite Graben", über den schon Lessing nicht kommen konnte, so oft und ernstlich er auch den Sprung versuchte.

Sehen wir nunmehr zu, ob uns Harnack mit seinen Vorlesungen über das Wesen des Christentums hinüber hilft!

II

Harnack beginnt seine historische Darstellung mit der Behauptung, dass David Friedrich Strauß die Geschichtlichkeit der Evangelien fast in jeder Hinsicht aufgelöst zu haben geglaubt habe, aber dass es der historisch-kritischen Arbeit zweier Generationen gelungen sei, sie in großem Umfang wiederherzustellen. Die Namen dieser Wiederhersteller werden nicht genannt, und so bleibt nur die Annahme, dass Harnack in dem Heere theologischer Literatur, das gegen Strauß aufgeboten wurde, den siegreichen und in Strauß den unterlegenen Kämpfer erblicke. Das mag die in theologischen Kreisen herrschende Ansicht sein; aber sagen, dass diese Ansicht in den Kreisen der historischen Wissenschaft vorherrsche, hieße eine außerordentlich kühne Behauptung aufstellen.

Indessen kommen wir keinen Schritt weiter, wenn wir einer kahlen Behauptung eine ebenso kahle Gegenbehauptung gegenüberstellen. Sehen wir also zu, worin Harnack mit Strauß übereinstimmt und worin nicht! Er verwirft das vierte Evangelium als Geschichtsquelle, wie Strauß. Er verwirft die göttliche Geburt Jesu, wie Strauß. Er verwirft die Auferstehung Jesu, wie Strauß. Er leugnet, dass Jesus durch die Schule der Rabbiner gegangen sei, wie Strauß. Er beurteilt den religiösen Genius in Jesus wie Strauß. Geben wir hier eine etwas ausführlichere Probe! Strauß: „Fragen wir, wie die harmonische Gemütsverfassung in Jesu zustande gekommen war, so findet sich in den uns vorliegenden Nachrichten von seinem Leben nirgends eine Kunde von schweren Gemütskämpfen, aus denen dieselbe hervorgegangen wäre … In allen jenen erst durch Kampf und gewaltsamen Durchbruch geläuterten Naturen, man denke nur an einen Paulus, Augustin, Luther, bleiben die Narben davon für alle Zeit, und etwas Hartes, Herbes, Düsteres haftet ihnen lebenslänglich an, wovon sich bei Jesu keine Spur findet. Jesus erscheint als eine schöne Natur von Hause aus, die sich nur aus sich selbst heraus zu entfalten, sich ihrer selbst immer klarer bewusst, immer fester in sich zu werden, nicht aber umzukehren und ein anderes Leben zu beginnen brauchte, was natürlich einzelne Schwankungen und Fehler, die Notwendigkeit eines fortgehenden ernsten Bemühens der Selbstüberwindung und Entsagung nicht ausschließt…" Harnack: „Wenn nicht alles trügt, liegen hinter der uns offenbaren Zeit des Lebens Jesu keine gewaltigen Krisen und Stürme, kein Bruch mit seiner Vergangenheit. Nirgendwo in seinen Sprüchen und Reden … bemerkt man überstandene innere Umwälzungen oder die Narben eines furchtbaren Kampfes … Nun zeige man uns den Menschen, der mit dreißig Jahren so sprechen kann, wenn er heiße Kämpfe hinter sich hat, Seelenkämpfe, in denen er schließlich das verbrannt hat, was er einst angebetet, und das angebetet, was er verbrannt hat! Man zeige uns den Menschen, der mit seiner Vergangenheit gebrochen hat, um dann auch die anderen zur Buße zu rufen, der aber dabei von seiner eigenen Buße niemals spricht. Diese Beobachtung schließt es aus, dass sein Leben in inneren Kontrasten verlaufen ist, mag es auch an tiefen Bewegungen, an Versuchungen und Zweifeln nicht gefehlt haben." Nach Epigonenart ist der Stil bei Harnack überladener, aber wie man sieht, ist es sonst derselbe Gedankengang. Das ist gewiss keine Schande für Harnack, nur begreift man nicht recht, weshalb er eine so stolze Miene über Strauß aufsetzt, wenn er doch in so vielen und wichtigen Punkten mit ihm übereinstimmt.

Kommen wir nun zu den Wundern Jesu, wobei eine doppelte Frage zu unterscheiden ist: die Frage erstens, wie es um die Glaubwürdigkeit der Wunder steht, und zweitens, inwieweit die etwaige Unglaubwürdigkeit der Wunder auch den sonstigen Inhalt der Evangelien unglaubwürdig macht. In der ersten Frage sehen wir Herrn Harnack wieder in Straußens Fußstapfen. Strauß: „Sehr natürlich ist, dass sich Jesus auf derlei Forderungen (Wunder zu verrichten) nicht einließ … Indessen, Jesus mochte immerhin das leibliche Wundertun ablehnen; bei der Denkart seiner Zeit- und Volksgenossen musste er Wunder tun, er mochte wollen oder nicht. Sobald er einmal für einen Propheten galt – und wir werden doch nicht bezweifeln, dass er zu diesem Rufe so gut wie der Täufer auch ohne Wunder habe gelangen können –, so traute man ihm auch Wunderkräfte zu, und sobald man sie ihm zutraute, traten sie sicher auch in Wirksamkeit. Wenn, wo er sich seitdem zeigte, die Leidenden ihn ordentlich anfielen, um nur seine Kleider berühren zu dürfen, weil sie davon Heilung erwarteten, so müsste es seltsam zugegangen sein, wenn unter allen diesen bei keinem die erregte Einbildungskraft, der gewaltige, sinnlich-geistige Eindruck, sei es wirkliche Hebung oder doch augenblickliche Linderung seiner Übel hervorgebracht hätte, die nun der Wunderkraft Jesu zugeschrieben wurde. Ob gerade ein Übel wie das der blutflüssigen Frau auf solche Weise durch Erregung der Phantasie heilbar war, mag man bezweifeln, aber dass es in manchen Fällen wirklich so zugegangen sein kann, wie dort berichtet ist, wird sich nicht in Abrede stellen lassen. Und wenn in solchen Fällen Jesus die Geheilten, wie jenes Weib mit den Worten entließ: Dein Glaube hat Dir geholfen, so hätte er sich nicht wahrhaftiger, nicht bescheidener, nicht korrekter und präziser ausdrücken können. Auch in der Angabe der Evangelisten, dass ihm in seiner Heimat Nazareth wegen des Unglaubens der Leute nur wenige Kuren gelungen seien, ist noch eine verlorene Spur der richtigen Einsicht zu erkennen … Hier stehen wir nun aber auch an der Grenze, die sich auf historischem Standpunkt für diese Wirkungsart Jesu zieht; nicht als ließe sich von jeder einzelnen Wundererzählung in den Evangelien angeben, ob und wie weit sie für geschichtlich anzusehen ist oder nicht, wohl aber so, dass wir einen Punkt bezeichnen können, jenseits dessen auf alle Fälle die Möglichkeit aufhört, weil hier jede geschichtliche Analogie uns verlässt, jede Denkbarkeit nach Naturgesetzen ein Ende hat. Fangen wir mit dem Äußersten an, so kann Jesus niemals durch einen bloßen Segensspruch Nahrungsmittel ins ungeheure vermehrt, niemals Wasser in Wein verwandelt haben, noch kann er dem Gesetz der Schwere zum Trotze, ohne einzusinken, auf dem Wasser gewandelt sein; er kann keine Toten ins Leben zurückgerufen, noch, wenn er nicht Schwärmer und Schwindler zugleich gewesen sein soll, die Entdeckung eines bloßen Scheintods für eine Totenerweckung ausgegeben haben. Ebenso wenig wird sich angeborene oder sonstige Blindheit und Taubheit auf sein Wort oder seine Berufung gehoben oder Aussatz augenblicklich verloren haben." Soweit Strauß.

Und nun Harnack: „Dass die Erde in ihrem Laufe je stillgestanden, dass eine Eselin gesprochen hat, ein Seesturm durch ein Wort gestillt worden ist, glauben wir nicht und werden es nie wieder glauben, aber dass Lahme gingen, Blinde sahen und Taube hörten, werden wir nicht kurzerhand als Illusion abweisen. Aus diesen Andeutungen mögen Sie selbst die richtige Stellung zu den evangelischen Wunderberichten entwickeln. Im Einzelnen, das heißt bei der Anwendung auf die konkreten Wundererzählungen, wird immer eine gewisse Unsicherheit nachbleiben … Sehr beachtenswert ist aber, dass Jesus selbst auf seine Wundertaten nicht das entscheidende Gewicht gelegt hat, welches schon der Evangelist Markus und die anderen alle ihnen beilegen. Hat er doch klagend und anklagend ausgerufen: ,Wenn Ihr nicht Zeichen und Wunder sehet, so glaubt Ihr nicht!' Wer diese Worte gesprochen hat, der kann nicht der Meinung sein, der Glaube an seine Wunder sei die rechte oder gar die einzige Brücke zur Anerkennung seiner Person und seiner Mission; er muss vielmehr über sie wesentlich anders gedacht haben als seine Evangelisten. Und die merkwürdige Tatsache, die eben diese Evangelisten, ohne ihre Tragweite zu würdigen, überliefert haben: ,Jesus konnte daselbst keine Wunder tun, denn sie glaubten ihm nicht', zeigt noch von einer anderen Seite her, wie vorsichtig wir die Wundererzählungen aufzunehmen und in welche Sphäre wir sie zu rücken haben." So Harnack, dessen Darstellung sich von der Straußischen hier auch erst in der wenig vorteilhaften Weise unterscheidet, dass sie dem Wunder doch noch, nicht zwar einige Türen, aber wohl einige Mauselöcher zu öffnen versucht. Während Strauß mit aller Klarheit zwischen den von Jesu angeblich verrichteten Wundern die Grenze des ganz Unmöglichen und des etwa noch Möglichen zieht, verwischt Harnack diese Grenze wieder, indem er unter die auch nach seiner Ansicht unmöglichen Wunder überwiegend alttestamentarische Wunder mischt (das Stillstehen der Erde und das Sprechen einer Eselin), zu den möglichen Wundern aber die Heilung von Blindheit und Taubheit rechnet, was Strauß aus guten Gründen für ebenso unmöglich erklärt wie das Erwecken von Toten, über welches von Jesu angeblich verrichtete Wunder Herr Harnack vorsichtig hinweg gleitet.

Bei der anderen Frage, die sich an die evangelischen Wunder knüpft, setzt sich Harnack wieder aufs hohe Pferd gegen Strauß; er sagt, Strauß habe der Wunder wegen die Glaubwürdigkeit der Evangelien „rund verneint", aber die geschichtliche Wissenschaft habe im letzten Menschenalter den großen Fortschritt gemacht, auch Wunderberichte als geschichtliche Quellen zu würdigen. Über diesen „großen Fortschritt der geschichtlichen Wissenschaft" hätte sich Harnack lieber mit einem ihm sehr nahestehenden Historiker auseinandersetzen sollen als mit Strauß, der eben nicht der Wunder wegen die ganzen Evangelien als völlig wertlose Geschichtsquellen verworfen hat. Etwa gleichzeitig mit Harnacks Vorlesungen erschien die „Geschichte der Kriegskunst" von Hans Delbrück oder doch ihr erster Band, der die Kriegskunst des Altertums behandelt und Herrn Harnack von seinem „Freunde und Schwager" Delbrück gewidmet ist. Merkwürdig nun, dass Herr Delbrück niemals etwas von dem „großen Fortschritt der geschichtlichen Wissenschaft im letzten Menschenalter" gehört hat, dass er Wunderberichte durchaus nicht als geschichtliche Quellen zu würdigen weiß, sondern ganz im Gegenteil seinen Lesern nicht oft genug den Grundsatz einprägen kann, einem historischen Schriftsteller, der auf Wunderberichten ertappt werde, nichts zu glauben, auch in Dingen nicht, die an sich schon glaublich wären. „Die wahre und einzig zulässige historische Methode ist nicht, dass, wenn man keine zuverlässigen Nachrichten hat, man sich mit den unzuverlässigen begnügt und so tut, als ob sie leidlich vertrauenswürdig wären, sondern dass man scharf und bestimmt scheidet, was als gut überliefert angesehen werden darf und was nicht." Oder an einer anderen Stelle: „Unsere Historiker erliegen immer wieder der Versuchung, wenn gutes Material mangelt, das schlechte zu verwenden, und was nun einmal überliefert ist, wenn nicht andere Nachrichten da sind, die widersprechen, unter der Ausmerzung des handgreiflich Falschen nachzuerzählen. Das ist aber nicht berechtigt." Dieser Versuchung ist eben auch Strauß noch in seiner Evangelienkritik erlegen, statt die von Delbrück ganz richtig definierte „wahre und einzig zulässige historische Methode" anzuwenden, und Harnack schildert die Methode Straußens viel radikaler, als sie gewesen ist, um wieder die Grenzen zu verwischen, innerhalb deren Strauß eine klare Kritik geübt hat.

Es sind vier Punkte, in denen Harnack die Stellung der heutigen „geschichtlichen Wissenschaft" zu den evangelischen Wundern „präzisieren" will. Erstens seien die Wunder zur Zeit der Evangelien etwas Alltägliches gewesen, zweitens seien sie von hervorragenden Personen nicht erst lange nach ihrem Tode, auch nicht erst nach mehreren Jahren, sondern sofort, oft schon am nächsten Tage berichtet worden, drittens seien die damaligen Menschen religiös erregt gewesen und hätten schon sehr scharf denken müssen, wenn sie trotzdem an der Erkenntnis der Unverbrüchlichkeit des raumzeitlichen Geschehens hätten festhalten sollen. Diese drei Punkte sind nun aber keineswegs Produkte der „geschichtlichen Wissenschaft" von „heute", sondern vielmehr recht altersgraue Wahrheiten, die am wenigsten für Strauß böhmische Dörfer waren. Nur zog er aus ihnen den selbstverständlichen Schluss, dass religiös erregte und wundersüchtige Zeiten nicht eben günstig auf die Entwicklung einer genauen Geschichtsdarstellung zu wirken pflegen. So schreibt er einmal: „Jener Zeit des aufgeregtesten Phantasielebens, als welche wir die des verkommenden Heidentums, des sich umbildenden Judentums und des werdenden Christentums kennen, war das historische Bewusstsein in den von der religiösen Bewegung ergriffenen Kreisen geradezu abhanden gekommen." Zieht nun Harnack den entgegengesetzen Schluss? Behauptet er, dass solche Produkte aufgeregtesten Phantasielebens bis auf die Partien, wo sie handgreiflich falsch sind, lautere historische Wahrheit enthalten? Das spricht er nicht mit dürren Worten aus, aber was er dann mit diesen drei Punkten gegen Strauß bewiesen haben will, ist nicht zu erkennen.

In einem vierten und letzten Punkte verfällt Harnack selbst einem aufgeregten Phantasieleben. Er sagt, freilich sei der Naturzusammenhang unverbrüchlich, aber die Kräfte, die in ihm tätig seien, kennten wir längst noch nicht alle. „Wer hat hier bisher den Bereich des Möglichen und Wirklichen sicher abgemessen? Niemand." Wer kann also dafür bürgen, dass die Erde nicht doch einmal stille steht oder die Esel nicht doch einmal zu sprechen beginnen? So fordert Herr Harnack die Studierenden aller Fakultäten auf, sich durch die evangelischen Wunder nicht zu Zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Evangelien verlocken zu lassen. „Nicht um Mirakel handelt es sich, sondern um die entscheidende Frage, ob wir hilflos eingespannt sind in eine unerbittliche Notwendigkeit, oder ob es einen Gott gibt, der im Regiment sitzt und dessen naturbezwingende Kraft erbeten und erlebt werden kann." Also nicht um Mirakel handelt es sich, sondern darum, ob Gott auf unser Gebet Mirakel tun kann. Schön!

Wenn somit Harnack in einer Reihe wichtiger Punkte mit Strauß ganz übereinstimmt, in einer anderen Reihe, namentlich in den Fragen, die sich an die evangelischen Wunder knüpfen, Straußens Standpunkt wenigstens grundsätzlich nicht zu bekämpfen wagt, sondern ihn nur möglichst zu verschleiern und zu verschleimen sucht, so gibt es eine dritte Reihe, wo Harnack allerdings offen mit Strauß bricht, wenn er ihn freilich auch nicht „überwindet". Es handelt sich dabei namentlich um die mythische Deutung der evangelischen Geschichte und den Einfluss der griechisch-römischen Philosophie auf sie. Die mythische Deutung war nicht nur die letzte Burg der Theologie, sondern auch die erste rationelle Leistung der Kritik, und als solche ist sie natürlich nichts für Herrn Harnack, zumal da Strauß selbst in seinen späteren Schriften schon einigermaßen von ihr zurückgekommen war und der bewussten Tendenz der Evangelien einen viel größeren Spielraum gelassen hatte. Doch geht Harnack auf diese Frage nicht näher ein, sondern begnügt sich, den gefährlich-schlüpfrigen Pfad abzusperren. Dagegen wird er ausführlicher über die Frage, ob Jesus in seinen Predigten durch die griechische Philosophie beeinflusst worden sei. Das hatte Strauß insoweit anerkannt, als er in der griechischen Philosophie die vorbereitenden Elemente der christlichen Vorstellungen ganz im allgemeinen nachwies, während Bruno Bauer, den Herr Harnack beiläufig nirgends mit einem Sterbenswörtchen nennt, bis ins einzelnste hinein die geistige Verwandtschaft der Reden Jesu namentlich mit Philo und Seneca dargelegt hatte. Hier also werden wir den „Überwinder" Harnack in seinem Glanze sehen.

Hören wir ihn wörtlich über Jesu Verhältnis zum Griechentum. Er schreibt: „Das Lebensbild und die Reden Jesu haben kein Verhältnis zum Griechentum. Fast muss man sich darüber wundern, denn Galiläa war voll von Griechen, und griechisch wurde damals in vielen seiner Städte gesprochen, etwa wie heute in Finnland schwedisch. Griechische Lehrer und Philosophen gab es daselbst, und es ist kaum denkbar, dass Jesus ihrer Sprache ganz unkundig gewesen ist. Aber dass er irgendwie von ihnen beeinflusst worden, dass die Gedanken Platos oder der Stoa, sei es auch nur in irgendwelcher populären Umbildung, an ihn gekommen sind, lässt sich schlechterdings nicht behaupten. Freilich, wenn der religiöse Individualismus, Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott, wenn der Subjektivismus, wenn die volle Selbstverantwortlichkeit des einzelnen, wenn die Loslösung des Religiösen von dem Politischen – wenn das alles nur griechisch ist, dann steht auch Jesus in dem Zusammenhang der griechischen Entwicklung, dann hat auch er reine griechische Luft geatmet und aus den Quellen der Griechen getrunken. Aber es lässt sich nicht nachweisen, dass nur auf dieser Linie, nur im Volke der Hellenen, diese Entwicklung stattgefunden hat; das Gegenteil lässt sich vielmehr zeigen: auch andere Nationen sind zu ähnlichen Erkenntnissen und Stimmungen fortgeschritten – fortgeschritten allerdings in der Regel erst, nachdem Alexander der Große die Schlagbäume und Zäune, welche die Völker trennten, niedergerissen hatte. Das griechische Element ist gewiss in der Mehrzahl der Fälle der befreiende und fördernde Faktor auch für sie gewesen. Aber ich glaube nicht, dass der Psalmist, der die Worte gesprochen hat: Herr, wenn ich nur dich habe, frage ich nicht nach Himmel und Erde, – je etwas von Sokrates oder von Plato gehört hat." Das ist alles. Nun mag es sich mit dem Psalmisten verhalten, wie es will, und Herrn Harnacks „Glaube" darüber mag der Glaube eines Gerechten sein, aber wenn er Bruno Bauer „überwunden" haben soll, so muss er nachweisen, dass die Reden Jesu nicht von der griechisch-römischen Philosophie getränkt sind, mitunter bis auf den Wortlaut, und darauf weiß er nur zu antworten mit dem vorstehenden Eiertanz über „freilich" und „aber".

Ein solcher Eiertanz sind Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums auch in ihren rein erbaulichen Teilen, die, wie schon erwähnt ist, weitaus überwiegen. Nachdem er den Zusammenhang der Reden Jesu mit den geistigen Vorstellungen ihrer Zeit nicht zwar widerlegt, aber doch bestritten hat, baut er sich nach seinen subjektiven Gelüsten eine Dogmatik und Ethik aus diesen Reden auf, wie von jeher Tausende und aber Tausende von Theologen oder Nichttheologen je nach ihren subjektiven Gelüsten getan haben. Der alte Weitling wusste schon, dass sich aus den Evangelien alles machen lasse; er machte sein Evangelium der Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaft daraus, wie die offiziellen Theologen seiner Zeit ein Evangelium der Tyrannei, der Bedrückung und der Täuschung daraus machten. Was aber Herr Harnack daraus macht, ist das Evangelium eines modischen Sozialliberalismus, der an Verwaschenheit ungefähr auf gleicher Linie mit dem Nationalliberalismus rangiert. Im allgemeinen vertritt Harnack den Standpunkt, dass Jesus nur den Menschen ins Auge gefasst habe, den Menschen, der stets derselbe bleibe, möge er sich auf einer auf- und absteigenden Linie bewegen, möge er im Reichtum sitzen oder in der Armut, möge er stark oder schwach sein im Geiste; im besonderen erklärt er, was ihm nicht in den Kram passt, aus Jesu historischem Milieu. So muss der in einem kapitalistischen Zeitalter so bedenkliche Spruch: Gib jedem, der dich bittet, „aus der Zeit und der Situation verstanden" sein; nach Anordnung des Herrn Harnack darf er sich nur auf die augenblickliche Not des Bittenden beziehen, die mit einem Stück Brot oder einem Trunk Wasser gestillt sei. Jesus war kein sozialer Reformer, aber er verkündigte eine so tatkräftige, soziale Botschaft wie selbst Buddha nicht. Seine Predigt ist im Tiefsten individualistisch, aber sie ist auch im Tiefsten sozialistisch. Er hat keine Gesetze gegeben, die für Palästina noch so heilsam gewesen wären, aber heute würde er auf Seite derer stehen, die sich kräftig bemühen, die schwere Notlage des armen Volkes zu lindern. Genug von diesem Gerede, wo jeder Satz den vorhergehenden Satz aufisst, um dann von dem nachfolgenden Satz aufgegessen zu werden.

Soll damit die stupende Gelehrsamkeit des Herrn Harnack bestritten werden? Gewiss nicht. Da uns die hier besprochenen Vorlesungen den Ruf, den er als „Überwinder" der wissenschaftlichen Evangelienkritik genießt, ganz unerklärlich ließen, so haben wir uns an seine gelehrten Werke gemacht und bestätigen gerne, dass er die altchristliche Literatur aus dem ff kennt. Auf diesem Gebiete vermögen wir ihm nicht einmal die Schuhriemen aufzulösen. Aber nachdem wir mit saurem Bemühen die drei dicken Wälzer durchgearbeitet haben, die er über die alten Kirchenväter veröffentlicht hat, ist uns noch viel rätselhafter, wodurch er die wissenschaftliche Evangelienkritik „überwunden" haben soll. Er geht nirgends auch nur mit einem Schritte über die altbekannten theologischen Fechterkunststücke hinaus, wobei er obendrein auch noch seine ganze Epigonenhaftigkeit erweist. Hierfür wenigstens ein Beispiel!

Es gibt bekanntlich eine Schrift des Neuen Testaments, deren Abfassungszeit sich aus ihr selbst mit aller Sicherheit bestimmen lässt, nämlich die Offenbarung Johannis. In ihrem 17. Kapitel heißt es Vers 9 bis 11: „9. Und hier ist der Sinn, da Weisheit zu gehöret. Die sieben Häupter sind sieben Berge, auf welchen das Weib sitzet, und sind sieben Könige. 10. Fünf sind gefallen, und Einer ist, und der Andere ist noch nicht gekommen, und wenn er kommt, muss er eine kleine Zeit bleiben. 11. Und das Tier, das gewesen ist und nicht ist, das ist der Achte, und ist von den Sieben und fährt in die Verdammnis." Mit diesen Versen hängt eng zusammen der Vers 18 des 13. Kapitels: „Hier ist Weisheit. Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tieres, denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist 666." Diese Zahl ergibt genau, nach dem damaligen Zahlenwert der Buchstaben, den Namen des Kaisers Nero, von dem nach seinem Tode, wie die weltlichen Historiker Tacitus und Sueton berichten, die Sage ging, dass er nicht wirklich gestorben sei, sondern wiederkehren werde. Er war der fünfte römische Kaiser (Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius, Nero), und sein Nachfolger war Galba, der nur von Juni 68 bis Januar 69 regierte. In diesen Monaten muss nun die Offenbarung Johannis abgefasst sein. Das Weib auf den sieben Hügeln ist die römische Weltherrschaft, vertreten durch sieben Könige. Davon sind fünf tot, und einer ist (Galba). Dann wird noch einer kommen, um die Siebenzahl der apokalyptischen Überlieferung zu erfüllen; darnach aber wird „das Thier, das gewesen ist und nicht ist", nämlich der totgeglaubte Nero, wiederkehren, „das ist der Achte und ist von den Sieben". Die Offenbarung sieht in dem wiederkehrenden Nero den Antichrist, der im Kampfe mit dem wiederkehrenden Christus unterliegen und „in die Verdammnis fahren" wird, worauf dann das tausendjährige Reich beginnt.

Dies Ergebnis der deutschen Bibelkritik stürzt nun Herr Harnack um. Da nämlich der heilige Irenaus behauptet, die Offenbarung Johannis sei gegen das Ende des Kaisers Domitian verfasst, der im Jahre 96 starb, so muss dies wahr sein. Der heilige Irenaus ist sonst zwar ein höchst unzuverlässiger Schriftsteller, der beispielsweise folgendes blöde Rabbinermärchen in den Mund Jesu legt: „Tage werden kommen, da werden Reben wachsen, jede mit 10.000 Schößlingen, und an jedem Schößling 10.000 Äste, und an jedem Aste 10.000 Zweige, und an jedem Zweige 10.000 Trauben, und an jeder Traube 10.000 Beeren, und jede Beere wird ausgepresst 25 Metreten (etwa 6 Ohm) Wein geben." Einem Historiker, der solches Zeug mit ehrbarer Miene niederschreibt, darf nach allen Grundsätzen historischer Kritik auch nicht ein Wort geglaubt werden, das sich nicht anderweitig beweisen lässt. Aber es ist nun einmal der Beruf des Herrn Harnack, die wissenschaftliche Bibelkritik durch die heiligen Kirchenväter zu „überwinden", und so macht er sich voll getrosten Gottvertrauens an die saure Arbeit.

In seiner „Chronologie der altchristlichen Literatur" S. 245 ff. geht er als vorsichtiger Stratege von der an sich ganz plausiblen Tatsache aus, dass die Offenbarung Johannis kein streng einheitliches Werk, sondern nach einer älteren Vorlage gearbeitet sei. Dann aber macht er von diesem halbwegs sicheren Sprungbrett sofort den Kopfsprung, dass von den Versen 9 bis 11 des 13. Kapitels die beiden ersten einem früheren, der letzte aber einem späteren Schriftsteller angehören. Die beiden ersten bezeichnen nach Herrn Harnack einen bestimmten Zeitpunkt mit voller Deutlichkeit. Der Verfasser dieser Verse schrieb sie unter dem sechsten Kaiser, „das heißt unter Nero, wenn man von Cäsar an zählt (unter dem Nachfolger Neros, wenn man von Augustus ab rechnet)". Diese doppelte Zählerei erklärt sich daraus, dass Herr Harnack den Nachfolger Neros nicht beim Namen nennen will; weshalb nicht, wird sich gleich zeigen. So klar nun aber nach seiner Meinung die Verse 9 und 10 sind, so sehr „befremdet" ihn der „dunkle" Vers 11. Um diese „Dunkelheit" auch im Geiste seiner Leser zu erzeugen, verschweigt Herr Harnack erstens, dass nach Neros Tode der Glaube an seine Wiederkehr umlief, und zweitens, dass die Offenbarung selbst mit sozusagen ziffermäßiger Buchstabentreue den Kaiser Nero als das Tier bezeichnet. Herr Harnack erhellt dann die von ihm geschaffene „Dunkelheit" wie folgt. „Durchsichtig in diesem Satze scheint mir zu sein, dass der Schreiber des Verses 11 acht Kaiser herausbringen wollte, ohne die überlieferte Siebenzahl Lügen zu strafen. Während also dem Schreiber des 9. und 10. Verses die Siebenzahl Schwierigkeiten gemacht hat, weil sie zu groß war, machte sie dem Schreiber des 11. Verses Schwierigkeiten, weil sie tatsächlich überschritten, also bereits zu klein war. Er musste einen achten Kaiser haben und hat ihn mit rabbinischer Kunst aus der Siebenzahl herausgelesen: das Tier selbst ist der achte Kaiser. Daraus folgt mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass der Schreiber von Vers 11 mit dem von Vers 10 nicht identisch ist und dass er unter Domitian geschrieben hat, denn nun ist Nero der fünfte, Vespasian der sechste, Titus der siebente (durch Zufall ist es wirklich eingetroffen, dass er nur kurze Zeit regiert hat) und Domitian der achte. Diese Deutung scheint mir einfach und geboten." In der Tat sehr einfach und geboten!

Man übersehe noch einmal die drei Verse, die oben in ihrem Wortlaut mitgeteilt sind, und frage sich dann, ob irgendeine Wahrscheinlichkeit oder auch nur Möglichkeit vorliegt, dass der Vers 11 ein späteres Einschiebsel sei. Seine „Dunkelheit" ist erst künstlich durch die Verschweigung zweier Tatsachen hergerichtet. Aber selbst wenn man Herrn Harnacks Argumentation soweit gelten lassen will und nur erst zu kritisieren beginnt, wo er zu zählen anfängt, so hat er die Offenbarung Johannis nicht um etwa dreißig Jahre, wie er will, sondern höchstens um ein Jahr jünger gemacht, „denn nun ist", nämlich nach der profanen Historie, Nero der fünfte, Galba der sechste, Otho der siebente und Vitellius der achte Kaiser. Vitellius starb Ende 69, und vor diesem Zeitpunkt müsste nach Herrn Harnacks eigener Rechnung die Abfassung der Offenbarung fallen. Da sie aber zu Ehren des heiligen Irenaus unter Kaiser Domitian fallen soll, so schlachtet Harnack seinem ehrwürdigen Kirchenvater nicht weniger als drei römische Kaiser! Um die Existenz Galbas nicht zu verraten, müssen die Verse 9 und 10 von Cäsar an zählen, und nur namenlos kommt Galba in einer eingeklammerten Hypothese zu seinem historischen Rechte; Vers 11 aber muss von Augustus zählen, und drei Kaiser (Galba, Otho, Vitellius) müssen in den Orkus spediert werden, damit Domitian an die achte Stelle rücken kann. Sonst steht er, wie jeder Primaner weiß, von Augustus an in der elften, von Cäsar an in der zwölften Stelle.

Man sollte denken, mit dieser Art Kritik ließe sich alles beweisen, aber nachdem Herr Harnack seine „einfache und gebotene Deutung" vom Stapel gelassen hat, gesteht er seufzend: „Dass eine Unklarheit nachbleibt, liegt auf der Hand, aber wer kann den Satz: 7 + 1 = 7 illustrieren, ohne ein gewisses Dunkel übrig zu lassen?" Da scheint uns Herr Harnack aber doch etwas blöde zu sein. Wenn man zu Ehren des heiligen Irenaus 3 Kaiser = 0 und 8 = 11 oder auch 12 sein lässt, dann kann man auch 7 + 1 = 7 sein lassen. Das ist wirklich nur ein Aufwaschen.

Vielleicht wendet man ein, dass Herrn Harnacks Kritik wenigstens nicht von apologetischer Tendenz beeinflusst werde. Für die Behauptung, dass Jesus, wenn auch kein Gott, so doch ein Übermensch gewesen sei, der durch die schöpferische Kraft seines Genius eine die Welt bezwingende Religion geschaffen habe, ist es schon ein harter Bissen, dass ein so trübes, überspanntes, verworrenes Machwerk „rabbinischer Kunst" wie die Offenbarung Johannis noch ein Menschenalter nach Jesu angeblichem Todesjahr ein kanonisches Ansehen in den jungen Christengemeinden gewinnen konnte. Aber dieser Bissen wird vollends ungenießbar, wenn nach Herrn Harnacks Meinung die Offenbarung ihr kanonisches Ansehen erst gewonnen hat, als sie noch ein Menschenalter später noch widersinniger gemacht und mit der epochemachenden Entdeckung bereichert worden war, dass 7 + 1 = 7 sei. Insoweit ist die „moderne Evangelienkritik" allerdings nicht von apologetischer Tendenz gefälscht. Aber als mildernden Umstand darf man es ihr deshalb doch nicht anrechnen, dass sie sich gleich selbst abtut. Was ein Orthodoxer, der den Glauben an seinen Buchstaben hat und ihn mit heiligem Eifer verficht, noch sein kann, nämlich ein Gegenstand des Respekts, das kann eine Evangelienkritik nicht sein, die auf dem letzten theologischen Winkel, den Strauß offen gelassen hat, mit echt theologischen Winkelzügen gegen Bruno Bauer kämpft und dabei laut prahlt, sowohl Strauß wie Bauer „überwunden" zu haben.

Inzwischen findet sie ein groß Publikum; Herr Harnack hat seine Vorlesungen über das Wesen des Christentums vor sechshundert Studierenden aller Fakultäten gehalten. Das ist ein Zeichen der Zeit, das wir mit hoher Genugtuung notieren; je frömmer die Bourgeoisie wird, umso mehr spürt sie sich Matthäi am Letzten. Wir schließen also mit dem Wunsche, dass Herrn Harnacks Tätigkeit unter der Jugend der „besitzenden" und „gebildeten" Klassen recht gesegnet sein möge, wie es ja wohl im theologischen Stile heißt.

* Adolf Harnack, Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten. Zweite berichtigte Auflage (6. bis 10. Tausend). Leipzig, J. C. Heinrichssche Buchhandlung.

1 non liquet — es ist nicht klar, nicht zu entscheiden.

2 fi donc! — pfui doch!

3 Siehe Friedrich Engels: Bruno Bauer und das Urchristentum, erschienen am 4. und 11. Mai 1882 im „Sozialdemokrat". In: Marx/Engels: Werke, Bd. 19, S. 297- 305.

Kommentare