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Franz Mehring 18990503 Nekrologe

Franz Mehring: Nekrologe

3. Mai 1899

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Zweiter Band, S. 195-197. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 137-140]

[…] Einem anderen Toten der Woche ist ein längeres Gedächtnis im deutschen Geistesleben beschieden, obgleich er nie einem Parlament angehört hat und diejenige Tat seines Lebens, die ihn weit über die deutschen Grenzen hinaus bekannt machte, auch fast schon um ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Ludwig Büchner gehört zu denjenigen Schriftstellern, denen es gleich mit dem ersten Wurf gelingt, und zwar so glänzend, dass sie diesen ersten Wurf niemals wieder einholen können. Jedoch spricht es für die innere Tüchtigkeit seiner Natur, dass er darüber nicht, wie mancher andere, dem das gleiche Los gefallen war, zum Kopfhänger wurde oder sich gar in der abgeschmackten Rolle des verkannten Genies gefiel. Er hat auf demselben Gebiete, worauf sich sein Erstlingswerk bewegte, frisch und rüstig fortgearbeitet, kein bahnbrechender Denker und im tieferen Sinne des Wortes nicht einmal ein selbständiger, wissenschaftlicher Kopf, aber ein fleißiger, gebildeter Arbeiter, dem es in seiner Weise ehrlich um die Förderung der menschlichen Gesittung zu tun war.

Über sein berühmtes Erstlingswerk „Kraft und Stoff" ist es nicht ganz leicht, unbefangen zu urteilen. Nimmt man das Büchlein heute zur Hand, so glaubt man eine Reihe flüssig und – flüchtig geschriebener Feuilletons zu lesen, von denen man nicht begreift, wie sie einen Sturm in der literarischen und wissenschaftlichen Welt erregen konnten. Büchner beanspruchte auch keineswegs, ein System zu geben; er wollte bloß zerstreute Gedanken liefern, und auch durchaus „nicht neue, noch nicht dagewesene" Gedanken; ähnliche und verwandte Anschauungen seien, so sagte er selbst, zu allen Zeiten, ja zum Teil schon von den ältesten griechischen und indischen Philosophen gelehrt worden, nur ihre notwendige empirische Basis habe erst durch die moderne Naturforschung geliefert werden können. Seinen Vorstoß richtete Büchner gegen das gelehrte Maulheldentum, den philosophischen Scharlatanismus, gegen die deutsche Schulphilosophie, die endlich einmal einsehen solle, dass Worte keine Taten seien und dass man eine verständliche Sprache reden müsse, um verstanden zu werden. Dabei ging Büchner mit einem verblüffenden Radikalismus vor; alle Philosophie, die nicht von jedem Gebildeten begriffen werden könne, verdiene nicht die Druckerschwärze, die daran gewandt werde; die philosophischen Nebel, die über den Schriften der Gelehrten lägen, schienen mehr dazu bestimmt, Gedanken zu verbergen als zu enthüllen; Natur und Erfahrung sei das Losungswort der Zeit.

Und eben nur aus der Zeit heraus, wo das Buch erschien, aus der Zeit der fünfziger Jahre, lässt sich sein großer Erfolg erklären. Es fuhr wie ein frischer Windstoß mitten in die dumpfe und schwüle Luft der frömmelnden Reaktionsjahre, es war ein kecker Trompetenstoß, womit die aufblühende Industrie des deutschen Bürgertums der philosophisch spintisierenden Vergangenheit dieser Klasse absagte. Büchners eigentliche Begabung lag auf literarischem, man möchte fast sagen, auf poetischem Gebiete, wie denn „Kraft und Stoff" von poetischen Zitaten wimmelt; in zweiter Reihe war er ein Naturforscher, der fleißig gearbeitet und viel gelernt hatte, dagegen fehlten ihm philosophische Gaben so gut wie ganz. Sein Hass gegen alle Philosophie war so gründlich, dass er sie überhaupt nicht verstand, vielleicht mehr noch weil er sie nicht verstehen konnte, als weil er sie nicht verstehen wollte. Er warf die historisch gewordenen philosophischen Begriffe wie Kraut und Rüben durcheinander, bezeichnete damit, je nachdem es ihm passte, bald dies bald jenes, gab den Inhalt der philosophischen Systeme in einer Weise wieder, dass es erstaunlich genug erschien, wie Menschen mit fünf Sinnen jemals so einfältige Dinge hätten aushecken oder gar glauben können. Eine Polemik dieser Art aber wirkte in einer Zeit, wo die kraftlos gewordene Schulphilosophie sich zur gehorsamen Dienerin reaktionärer Regierungen gemacht hatte, wo es in den unterdrückten Klassen mit großer Genugtuung begrüßt wurde, wenn wenigstens die ideologische Helfershelferin der brutalen Unterdrücker sich auf offener Straße ohrfeigen lassen musste.

Dann aber kam, was Büchner an seinem Teile bot, den geistigen Bedürfnissen der sich ökonomisch mächtig entfaltenden Bourgeoisie entgegen. Es war keine schwer verständliche und überhaupt keine Philosophie, sondern eine Befreiung von allem ideologischen Ballast durch eine plausible Erklärung des Naturzusammenhangs, untermischt mit vagen Aussichten auf den Fortschritt der Humanität, auf den Sieg des Wahren und Schönen und dergleichen mehr, was aus Büchners Munde durchaus ehrlich kam. Man kann darüber nicht treffender urteilen, als es Albert Lange mit den Worten getan hat: „Wer in diesen Dingen mit bloßem Auge weiter sieht, findet durch Büchners Brille alles unklar; wer dagegen äußerst kurzsichtig ist, glaubt durch dieses Medium sehr klar zu sehen und sieht auch wirklich klarer als ohne solche Beihilfe. Nur schade, dass die Brille zugleich stark gefärbt ist." Von Büchners Materialismus kann nur ganz uneigentlich gesprochen werden, wenigstens dann, wenn man unter Materialismus ein philosophisches System versteht, das den Zusammenhang der Welt zu erklären sucht. Büchner selbst, der das Wort bald so, bald so gebraucht, hat viel dazu beigetragen, dass es jenen schillernden Sinn genommen hat, womit heute noch allerlei Rückwärtser den wissenschaftlichen Materialismus zu verdächtigen bemüht sind.

Unter den Blinden ist der Einäugige König, und in den fünfziger Jahren war Büchners „Kraft und Stoff" immerhin eine erfrischende Erscheinung. Sobald dann die historische Entwicklung wieder einen schärferen und schnelleren Gang nahm, offenbarte sich natürlich die gänzliche Unzulänglichkeit dieser Art Philosophierens; was für die deutsche Reaktion der fünfziger Jahre sozusagen ein geistiger Fortschritt gewesen war. das war im großen Zusammenhang der Geschichte doch nur ein geistiger Rückschritt. Die Bourgeoisie selbst beeilte sich, alle „materialistische" Spielerei aufzugeben und den lieben Herrgott mit sämtlichen Engeln und Teufeln wieder in ihr Programm aufzunehmen, seitdem der historische Materialismus des Proletariats sie im Nacken gepackt hatte. Der historische Materialismus hatte aber natürlich nichts übrig für „Kraft und Stoff" und dergleichen Literatur, die seinen Weg eher versperrt als geebnet hatte. Man gewöhnte sich, von dieser Literatur als von einer Quintessenz der Flachheit und Plattheit zu sprechen, wobei denn auch wohl das Maß relativer Berechtigung unterschätzt wurde, das sie in ihrer Zeit gehabt hatte.

Büchner aber ist seinem literarischen Erstling immer treu geblieben. Vielleicht ist seine weitere Entwicklung durch die zahlreichen Fehden gehindert worden, in die ihn „Kraft und Stoff" verwickelt: dann wäre ihm sein großer Erfolg zum Unheil ausgeschlagen. Denn Stehenbleiben heißt in diesem Falle Zurückschreiten. Ein tüchtiger Naturforscher ist Büchner immer gewesen, aber als Philosoph ist er tiefer und tiefer in die Brüche geraten. Auch ihm ist es schlecht bekommen, dass er vom Sozialismus aß. Bei Lassalles erstem Auftreten hatte er sich noch eine gewisse Unbefangenheit gewahrt; er präsidierte bekanntlich am 17. Mai 1863 der Frankfurter Versammlung, in der Lassalle die Arbeiter des Maingaues für sich gewann, und er stimmte wenigstens nicht unbesehen in die liberalen Bannflüche über den großen Agitator ein. Das verlor sich aber mehr und mehr; in seinen letzten Jahren urteilte Büchner über die moderne Arbeiterbewegung ziemlich mit derselben Gehässigkeit, wie der erste beste Bourgeois. Dagegen wollte er das „Freidenkertum" hoffähig machen, wie es nach seiner kuriosen Auffassung zur Zeit des alten Fritz gewesen sein sollte, und aus ängstlicher Sorge, seinem Freidenkerbund die aufwärts führenden Wege zu verschütten, hielt er ihn und sich sogar von der bürgerlichen Bewegung gegen die Umsturzvorlage fern.

Aus dem kecken Naturburschen, der in totenstiller Zeit eine schrille Melodie auf seinem Finger gepfiffen hatte, war in stürmisch bewegter Zeit ein griesgrämiger Philister geworden, der auf patriotischem Haberrohre harmlose Schalmeien blies. Ein Glück wenigstens für Büchner, der in seiner Art immer vorwärts wollte, dass er in der Geschichte des deutschen Geisteslebens nur als der kecke Naturbursche der fünfziger Jahre fortleben wird.

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