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Franz Mehring 19011221 Neomarxismus

Franz Mehring: Neomarxismus

21. Dezember 1901

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Erster Band, S. 385-388. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 222-226]

Seitdem die bürgerliche Gelehrsamkeit die bequeme Methode hat aufgeben müssen, womit sie früher Karl Marx als „Autodidakten" beiseite schob, ist ihr Bestreben darauf gerichtet, unseren großen Vorkämpfer für ihre bürgerlichen Bedürfnisse zu appretieren, in dem Sinne, dass er zwar ein genialer Denker gewesen sei, aber so nebenbei an allerlei revolutionären Schrullen gelitten habe. Mit überlegenem Mitleid plädiert man vor dem deutschen Philister auf mildernde Umstände für den armen Teufel, der ja auch manches Unrecht zu erleiden gehabt habe; was Wunder, wenn er nun wie ein Welteneichhörnchen von Ort zu Ort gelaufen sei, um den gehassten Gegnern in die Waden zu beißen. Man kennt diese anmutige Melodie aus den Feuilletons des Herrn Sombart und ähnlichen Quellen, aus denen der „denkende" Spießbürger seine Weisheit über Marx und Engels zu schöpfen pflegt.

In ungleich geschickterer und würdigerer Weise wird der „sublimierte Marxismus" oder „Empirokritizismus" oder „Neomarxismus" von einer kürzlich in den „Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte" erschienenen Schrift vertreten. Sie ist von David Koigen verfasst und führt den Titel: „Zur Vorgeschichte des modernen philosophischen Sozialismus in Deutschland", und daneben noch: „Zur Geschichte der Philosophie und Sozialphilosophie des Junghegelianismus" (Bern 1901, Druck von C. Sturzenegger). Nur nach ihrer allgemeinen Tendenz vergleichen wir sie mit den geistreichen Exkursen über Welteneichhörnchen: sonst ist sie eine fleißige und gründliche Arbeit, deren Verfasser in der Tat durch einen inneren Drang, durch eine entschiedene philosophische Begabung zu seiner Kritik am historischen Materialismus getrieben wird und diese Aufgabe mit anerkennenswertem Takt zu erledigen weiß. Wenn wir gleichwohl starke Vorbehalte nicht nur gegen seine Resultate, sondern auch gegen seine Arbeitsweise machen müssen, so geschieht es mit all der Achtung, die ein begabter und ehrlicher Gegner beanspruchen darf.

Herr Koigen will der Philosophie wieder die ihr gebührende Hegemonie in der gesamten Kultur erobern. Er unterscheidet zwischen „Revolutionsmenschen" und „Renaissancemenschen". Die Revolution sei ein notwendiger Bestandteil des geschichtlichen Mosaiks, aber sie verdränge doch immer bei ihrem Aufschwung die Lebensfülle der menschlichen Persönlichkeit, indem sie deren Aufmerksamkeit auf ein einziges Moment als ein mit dem ganzen Menschen identisches lenke. Allen Revolutionen sei eine idée fixe eigen. Das starke und hohe Schlagen des Lebenspulses in solchen Zeiten habe zwar die Meinung veranlasst, die Menschen der Revolutionsjahre allein seien die wirklich von der Geschichte Beglückten, denen das graue und träge Leben der übrigen Geschichtsabschnitte gegenüberstehe, allein das sei ein Irrtum. Diese Lebensauffassung, die im Grunde eine Verzweiflung an irgendwelchen positiven Formen des kulturellen Daseins bedeute, sei durch und durch pessimistisch und verzehre von Anfang an dasjenige, was sie andererseits durch ihre Äußerung im Leben zustande bringe. Blicke man auf ihren psychologischen Hintergrund, so bekomme man die Formel: La révolution pour la révolution1 oder im besten Falle: Revolution um einer Seite des Lebens willen. Gegen diesen „Revolutionsmenschen" setzt Koigen den „Renaissancemenschen", in dem das positive Moment des Lebens dem negativen gegenüber die Oberhand gewinne, dem die krankhafte Leidenschaftlichkeit im Denken und Fühlen des Revolutionärs fremd ist, in dem alle Kräfte und Triebe harmonisch zu einer tonvollen Symphonie zusammenklängen, für den sein Leben seine Ethik ausmache, der also nicht erst über die Ethik zu reflektieren brauche.

In diesen Ausführungen Koigens liegt nun gewiss ein richtiger Gedanke. Auch wir glauben, dass es einmal „Renaissancemenschen" geben wird, die sehr viel beglückter und vielseitiger sein werden als dis „Revolutionsmenschen", die sich im Schweiße ihres Angesichts abquälen, die historischen Vorbedingungen zu schaffen, unter denen es „Renaissancemenschen" geben kann. Aber so meint Koigen die Sache nicht; seine „Renaissancemenschen" leben schon in aller tonvollen Harmonie unter uns, und wir alle können zu ihnen gehören, wenn wir uns zum „Empirokritizismus" und „Neomarxismus" bekennen. Es ist nicht immer ganz leicht, den Grundgedanken Koigens aus seiner mitunter unerlaubt schwerfälligen, ideologisch-philosophischen Schreibweise herauszuschälen, aber soweit es uns gelungen ist, läuft dieser Gedanke auf eine Art Hegelscher Triade hinaus. Die Junghegelianer der vierziger Jahre waren die These, „Revolutionsmenschen", über sie kam der Marx, zwar schon „Renaissancemensch", aber doch noch Antithese; die Synthese sind die wirklichen „Renaissancemenschen", die „Neomarxisten", die den positiv wertvollen Gehalt des Junghegelianismus wieder in den Marxismus aufzunehmen und der Philosophie ihr angeborenes Recht als oberster Wissenschaft zu wahren verstehen.

So gestaltet sich Koigens Schrift zu einer Art Ehrenrettung der Junghegelianer. Sie zerfällt in zwei Abschnitte, von denen der erste unter dem Titel: Der Kampf um eine positive Weltanschauung die Strauß, Bruno Bauer, Feuerbach, Stirner, der zweite unter dem Titel: Der Kampf um einen sozialen Positivismus die Hess, Grün, Lüning, Lorenz Stein, endlich die Anfänge von Karl Marx behandelt. Auch ganz abgesehen von diesem, halten wir eine ausführliche Arbeit über Strauß und Genossen, ebenso wie über Hess und Genossen für durchaus angebracht, namentlich in einer Zeit, wo auf dem philosophischen Markte des „Volkes der Denker" die Talmiware der Schopenhauer und Nietzsche verhökert wird. Wir bestreiten ferner auch nicht, dass Koigen manche anregende Betrachtung über alle diese Männer und Richtungen anzustellen weiß, wenigstens für den, der die Sachen aus eigenem Studium kennt; sich erst über sie zu belehren, ist Koigens Schrift freilich wenig geeignet, was übrigens auch wohl nicht ihre Absicht ist. Allein es ist uns schlechterdings nicht gelungen, den greifbaren Punkt zu finden, wo sich nach Koigen der Fehler in der Rechnung des historischen Materialismus finden soll. Wenn diesem die Notwendigkeit vorgehalten wird, „mit der philosophischen Synthesis der Zeit zu rechnen", so bekennen wir gern, dass wir das nicht verstehen.

Das mag nun unsere Schuld sein; immerhin haben wir aber auch da, wo unser Verständnis uns erlaubte, Koigens Resultate nachzuprüfen, recht wenig hinter den gewaltigen Worten gefunden. Er handelt besonders ausführlich über Moses Hess, mit gutem Grunde, denn wenn Strauß, Bruno Bauer, Feuerbach und Stirner nichts vom Sozialismus verstanden, so verstanden Grün, Lüning und Lorenz rein nichts von der Philosophie. Hess aber war unstreitig sowohl Philosoph wie Sozialist und also ganz der Mann, den Sozialismus „mit der philosophischen Synthesis der Zeit" zu verschmelzen. Koigen behandelt ihn auf etwa fünfzig Seiten und entdeckt an ihm ein wunderbares Farbenspiel philosophischer Schattierungen: Leibnizisch-Hegelianischen Spinozismus, eine Art Bruno Bauerscher Fichteanismus, Bauersche Extreme des Hegeltums, Positivismus aus Hegelscher Philosophie, Feuerbachianismus, ergänzt durch eine Art Schellingianismus, Psychophysiologismus, Solipsismus und wie alle die verteufelten Ismen sonst noch heißen. Wir glauben nun aber wirklich, dass Hess, wenn er heute auferstehen könnte, bei all seiner Neigung zum philosophischen Spintisieren über diesen reichen Segen doch verwundert den Kopf schütteln würde. Wenigstens schrieb er zur selben Zeit, wo er all diese Ehrenkränze verdient haben soll, am 28. Juli 1846, an Karl Marx: „Mit Deinen Ansichten über die kommunistische Schriftstellerei bin ich vollkommen einverstanden. So notwendig im Anfang ein Anknüpfen an die deutsche Ideologie war, so notwendig ist jetzt die Begründung auf geschichtliche und ökonomische Voraussetzungen … Ich habe mich auch jetzt ausschließlich auf ökonomische Lektüre geworfen und sehe mit Spannung dem Erscheinen Deines Werkes entgegen, das ich mit großem Eifer studieren werde." Seitdem hat Heß noch fast dreißig Jahre gelebt, aber sich nie „um die philosophische Synthesis der Zeit" gekümmert; er blieb, um auch einmal mit philosophischer Würde zu sprechen, dem Marxianismus verfallen, den er zeitweise durch eine Art Lassalleanismus zu ergänzen wusste.

Möglich, dass uns die schlichte sinnliche Kutschersprache des historischen Materialismus unfähig gemacht hat, die geheimnisvolle Schulsprache der ideologischen Philosophie zu verstehen, und so wollen wir dahingestellt sein lassen, ob alle Resultate Koigens so hinfällig sind wie im Falle Hess. Wir heben nur noch einen Fall hervor, weil er leider auch auf Koigens Arbeitsweise einen Schatten wirft. Es ist an sich schon ein Unrecht, Lorenz Stein mit Männern wie Hess zusammen zu nennen; gerade Hess hat Steins Buch über den französischen Sozialismus und Kommunismus, kaum dass es erschienen war, zutreffend als eine „völlig ideenlose Kompilation" gekennzeichnet und mit Recht Steins professoralen Jammer über die „negativen" und „destruktiven Tendenzen" des Sozialismus verspottet. Nun ist es aber eine modische, namentlich durch Herrn Sombart vertretene Universitätslegende, dass Stein der Barthel gewesen sei, von dem Marx seinen Most geholt habe, und dieser Legende opfert auch Koigen. Nach ihm hat der Schreiber dieser Zeilen sie „eigentlich ohne genügende Gründe" und „ohne Erfolg" bestritten. Natürlich: dass Marx schon vor dem Erscheinen der Kompilation Steins Arbeiten veröffentlicht hatte, die an ökonomischer und philosophischer Erkenntnis mehr enthielten, als Stein all sein Lebtag zu erwerben gewusst hat, ist kein „genügender Grund", ganz abgesehen davon, dass man sich wirklich alle Gründe sparen kann, wenn man, um die Frage an einem Beispiel zu erläutern, die Möglichkeit bestreiten würde, dass Kant seine „Kritik der reinen Vernunft" aus irgendeiner gleichzeitigen oberflächlichen Kompilation über Hume und den englischen Skeptizismus geschöpft habe.

Jedoch dies nur nebenbei. Interessanter ist, die „genügenden Gründe" kennenzulernen, mit denen Koigen Marxens geistige Abstammung von Lorenz Stein beweist. Er zitiert folgende Sätze Steins: „Das Gebiet, für welches der Sozialismus Veränderungen nach seinen Grundsätzen will, ist ein wirkliches und gegenwärtiges, das der Industrie, und das Verhältnis zwischen Besitzern und Nichtbesitzern. Hier gilt es, nicht bei bloßen Wünschen und Hoffnungen stehenzubleiben, sondern mit dem Gegebenen selbst und mit den Gesetzen, die es bilden und verändern, sich zu messen, damit man von dem, was man als zu Erreichendes hinstellt, nicht bloß wünschen möge, dass es sein könne, sondern beweisen, dass es werden müsse." Dazu bemerkt Koigen: „Welche Vorahnung des Marxschen Sozialismus! Wo wurde vor Stein die formelle Aufgabe des wissenschaftlichen Sozialismus so scharf und knapp gekennzeichnet und ausgedrückt!" Es tut uns leid, aber leider kommt Koigen mit diesem Panegyrikus in bedenkliche Nähe Sombartscher Entdeckungsmethoden.

Schlägt man die Stelle bei Stein nach, die Koigen zitiert, so findet man folgendes. Stein sagt, schon vor Saint-Simon und Fourier hätten More, Campanella, Bacon, Fenelon Utopien veröffentlicht, aber diese Utopien seien fast alle mehr das Resultat einer menschenfreundlichen, gutmeinenden Gesinnung, als eines ernsten, nach festen Prinzipien suchenden Studiums gewesen. Als gutmütige Einfälle seien sie nicht aus dem wahren Bedürfnis ihrer Zeit hervorgegangen; sie enthielten nirgends einen wahren Gedanken, dem der Stempel ernster Forschung aufgedrückt sei. Nachdem Stein so mit der ganzen professoralen Wucht „ernster Forschung" Männer wie Bacon und More zerquetscht hat, preist er mit dem gehörigen Tamtam seine eigene Ware an; da seien Saint-Simon und Fourier doch andere Kerle, und nun folgen die von Koigen zitierten Sätze. In diesem Zusammenhang sagen sie einfach, dass die Utopien Saint-Simons und Fouriers, in angeblichem Gegensatz zu den Utopien Bacons und Mores, in der Industrie ihrer Zeit wurzelten und nicht bloß „gutmütige Einfälle", sondern praktisch auszuführende Reformen sein wollen. So wird der beklagenswerte Stumpfsinn, womit Steins „historischer Realismus" verkannte, dass die Utopien Mores und Bacons ebenso in den ökonomischen Zuständen ihrer Zeit wurzelten und ebenso reformatorische Gedanken unter phantastischer Hülle verbargen wie die Utopien Saint-Simons und Fouriers, zur „knappen und scharfen Vorahnung" des historischen Materialismus!

Doch im Allgemeinen ist Koigens Schrift von solchen Auswüchsen frei, und wir verweilen bei dem wunderlichen Schnitzer weniger in polemischer als in warnender Absicht. Er zeigt, wohin die ideologische Tüftelei führt, die bei aller angeblicher Geistigkeit schließlich an der äußerlichsten Wortklauberei zu stranden pflegt und ihrem inneren Wesen nach stranden muss. Es wäre um Koigen schade, wenn er in diesem Sande weiter pflügen würde, und wir können ihm nichts Besseres wünschen, als dass er den „Renaissancemenschen" möglichst bald auszieht, um den „ Revolutionsmenschen" anzuziehen.

1 La revolution pour la revolution - die Revolution um der Revolution willen.

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