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Franz Mehring 19140129 Philosophie und Proletariat

Franz Mehring: Philosophie und Proletariat

29. Januar 1914

[Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin) Nr. 12, 29. Januar 1914. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 83-85]

Im Jahre 1844 schrieb Karl Marx; „Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat."1 Im Jahre 1878 aber schrieb Friedrich Engels, im Einverständnis mit Marx, dass die neueren Fortschritte der Natur- und Geschichtswissenschaften eine über den andern Wissenschaften stehende Philosophie überflüssig machten. „Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehen bleibt, ist die Lehre vom Denken […] – die formelle Logik und die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte.“2

Zwischen diesen beiden Äußerungen lag ein Vierteljahrhundert voll reicher Erfahrungen für die Arbeiterklasse. Soweit sie zum Klassenbewusstsein gelangt ist, hat sie längst darauf verzichtet, in der Philosophie ihre Retterin zu sehen. Aber ein unausrottbarer Hang, sich mit der Philosophie zu beschäftigen, ist ihr geblieben. Wer je an der Parteischule unterrichtet hat, weiß zur Genüge, wie lebendig dieser Hang auch in dem heranwachsenden Geschlecht ist. Und insoweit er beredtes Zeugnis dafür ablegt, dass unsere jungen Arbeiter danach trachten, in die Tiefe zu dringen und zu erfahren, was es mit den Kant und Fichte und Hegel, als deren Erben sich die Marx, Engels und Lassalle selbst bezeichnet haben, eigentlich auf sich habe – insoweit ist dieser Drang durchaus ehrenvoll.

Aber er birgt auch eine Gefahr in sich, vor der wir allen Anlass haben uns zu hüten, nämlich die Gefahr einer bloßen Wortberauschung, die Lassalle schon als eine gefährliche Klippe jeder politischen Bewegung gekennzeichnet hat. Gerade eine Arbeiterpartei braucht nichts notwendiger als klares und scharfes Denken, und zwar umso notwendiger, je stärkere Massen ihrer Fahne zuströmen. Sie muss sich vor jedem bloßen Schlagwort hüten, mag es noch so blendend sein und ihr noch so wohl ins Ohr klingen; sie darf auch das Erbe bürgerlicher Kultur, das sie zu wahren hat, nicht ohne die Vorbehalte antreten, die durch ihre Klasseninteressen geboten sind.

Was uns diese Betrachtungen nahelegt, ist der hundertste Todestag Johann Gottlieb Fichtes, den wir eben gefeiert und mit Recht gefeiert haben. Unter unseren klassischen Philosophen war Fichte der kühnste und revolutionärste Denker, ein ganzer Mann, zu dessen gewaltigem Lebenswerke jeder gesittete Mensch nur mit Ehrfurcht emporblicken wird. Aber sollen wir deshalb vergessen, dass uns von Fichte eine Welt trennt? Sollen wir unsere Forderungen mit Sätzen Fichtes begründen, die sich längst im modernen politischen Kampfe als gänzlich wirkungslos erwiesen haben, schon zur Zeit, wo die biedere Fortschrittspartei sie bei der Feier von Fichtes hundertstem Geburtstag für sich geltend machte? Oder sollen wir Gedanken Fichtes sozusagen als politische Trümpfe auf den Tisch werfen, sicher, dass sie in der nächsten Minute von unseren giftigsten Gegnern durch andere Gedanken Fichtes sozusagen gestochen werden?

Nehmen wir den „Zukunftsstaat" Fichtes, seine Schrift über den „Geschlossenen Handelsstaat", von dem dieser Tage ein großes freisinniges Blatt behauptete, gegen ihn erscheine selbst Bebels „Zukunftsstaat" gemäßigt und zahm! Selten ist ein krasserer Unsinn gedruckt worden. Fichtes angeblich revolutionäre Utopie ist schlechterdings nichts als ein ohnmächtiger Versuch, den altpreußischen Staat nach den Gesetzen der bürgerlichen Vernunft einzurenken; vor vielen ihrer Forderungen würden heute selbst die beschränktesten Revolutionäre schamhaft zurückweichen.

Oder nehmen wir Fichtes „Reden an die deutsche Nation"! Wenn er hier sagt, der preußische Zusammenbruch bei Jena erkläre sich durch „jene weichliche Führung der Zügel des Staats, die mit ausländischen Worten sich Humanität, Liberalität und Popularität nenne, die aber richtiger in deutscher Sprache Schlaffheit und Betragen ohne Würde zu nennen" sei, so schreien alle unsere militärischen Junker, vom Generalfeldmarschall v. d. Goltz bis zum Leutnant Forstner: Na, das behaupten wir ja gerade, und nur sozialdemokratische Demagogen können es bestreiten.3

Oder aber Fichte sagt in diesen Reden, eine Regierung könne „auch nach außen treulos und pflicht- und ehrvergessen handeln, wenn sie nur nach innen den Mut habe, die Zügel der Regierung mit straffer Hand anzuhalten und die größere Furcht für sich zu gewinnen" – kann man sich eine stärkere Verherrlichung der ganzen Bismärckerei wünschen? Oder Fichte segnet einen sinnlosen Vernichtungskampf, den die preußische Bürokratie in den polnischen Grenzbezirken führt, wenn er in jenen Reden sagt, „dass, wie ein Volk aufgehört habe, sich selbst zu regieren, es eben auch schuldig sei, seine Sprache aufzugeben und mit den Überwindern zusammenzufließen?" und so weiter.

Wollen wir damit nun etwa Fichte irgendwie herabsetzen? Aber auch nicht im Entferntesten. Selbst der größte Denker kann nicht über den Bannkreis seiner Zeit hinaus, und wenn man das Leben und die Zeit Fichtes eingehend studiert, so wird man finden, dass sich alles, was sich an scheinbaren und selbst wirklichen Widersprüchen in seinen Werken findet, dennoch in die Harmonie eines großen und starken Charakters auflöst. Und es ist sicherlich auch eine Ehrenpflicht der Arbeiterklasse, solch geschichtliches Studium an unsere klassische Philosophie zu wenden und ihr Andenken vor den Entstellungen der Bourgeoisie zu schützen. Aber einzelne ihrer Schlagworte, die sie in unserem Sinn gar nicht gemeint hat und auch gar nicht gemeint haben kann, im politischen Tageskampfe zu benutzen, muss zu einer Verflachung des geistigen Parteilebens führen.

Was hier an dem Beispiel Fichtes ausgeführt worden ist, weil es zeitlich am nächsten lag und in der Tat am verlockendsten ist, das gilt von allen Versuchen, den proletarischen Klassenkampf an philosophischen Begriffen und Begriffsspielereien zu orientieren. Sie müssen von der Schwelle zurückgewiesen werden, als Spinnweben, die den Arbeitern die notwendigen Kenntnisse in Natur und Geschichte nur verschleiern.

Am Himmel unserer Gedankenwelt steht die klassische Philosophie wie ein fernes Sternbild, das im Glanze seiner Strahlen wohl unsere Augen erfreuen oder auch blenden mag, aber das weder unser Blut wärmen noch unsere Muskeln straffen kann. Unsere Trauben reift nur die Sonne der Arbeit, und der geringste Proletarier, der seine ganze Kraft in den ökonomischen und politischen Befreiungskampf seiner Klasse stellt, wandelt sicher auf jenem Wege zur menschlichen Freiheit, den die großen Denker unserer klassischen Philosophie nur in dichtem Nebel tastend suchen und am letzten Ende doch nicht finden konnten.

Gezeichnet: F. M.

3 Generalfeldmarschall von der Goltz, einer der reaktionärsten Vertreter der preußisch-junkerlichen Militärkaste. Leutnant Freiherr von Forstner war der junge preußische Offizier, der im Herbst 1913 die Zabern-Affäre auslöste. Er hatte in einer Instruktionsstunde die Elsässer als „Wackes" beschimpft und jedem Rekruten 10 Mark Belohnung versprochen, der einen W. niedersteche. Diese Provokation löste unter der elsässischen Bevölkerung eine ungeheure Empörung aus, es kam zu Demonstrationen gegen das Militär, die mit der Verhängung des Belagerungszustandes beantwortet wurden. Die Zabern-Affäre enthüllte wie kaum ein anderes Ereignis in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg das wahre Gesicht des preußisch-deutschen Militarismus. W. I. Lenin schrieb damals: „Nicht die ,Anarchie' ist in Zabern ,ausgebrochen', sondern die wahre Ordnung in Deutschland, die Säbelherrschaft des halbfeudalen preußischen Gutsbesitzers hat sich verschärft und ist ans Licht getreten." (W. I. Lenin: Über Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 291.)

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