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Franz Mehring 19020517 Proletariat und Religion

Franz Mehring: Proletariat und Religion

17. Mai 1902

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 111, 17. Mai 1902. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 430-433]

Pfingsten ist in der christlichen Kirche das Fest des heiligen Geistes, der im Jahre 381 unserer Zeitrechnung auf der Kirchenversammlung in Konstantinopel zu göttlichen Ehren erhoben wurde, neben dem Gott-Vater und dem Gott-Sohn, so jedoch, dass alle drei eins sein sollten, ein heiliges Mysterium und ehrwürdiges Mirakel und als solches ein Spott auf das profane Einmaleins, das sich die weltliche Menschheit schon lange an den fünf Fingern abzählen gelernt hatte.

Seit anderthalb Jahrtausenden ist über diesen heiligen Geist sehr viel gepredigt, geredet und geschrieben worden, ohne dass es je einem Menschen gelungen wäre, hinter das wundervolle Geheimnis zu kommen, das in so hoffnungslosem Widerspruch mit der simplen Tatsache stand, dass dreimal eins gleich drei und nicht gleich eins ist. Am schönsten hat Heinrich Heine das Weben und Wirken des heiligen Geistes darzustellen gewusst, als er von ihm sang:


Dieser tat die größten Wunder,

Und viel größre tut er noch:

Er zerbrach die Zwingherrnburgen

Und zerbrach des Knechtes Joch.


Alte Todeswunden heilt er

Und erneut das alte Recht;

Alle Menschen, gleich geboren,

Sind ein adliges Geschlecht.


Diesen heiligen Geist möchten wir uns schon gefallen lassen, und er bietet einen trefflichen Text zu einer Pfingstpredigt, einen weit trefflicheren als die verworrene Mär der Apostelgeschichte, die an den Pfingsttagen von den Kanzeln gepredigt wird. Aber wir wollen keine Pfingstpredigt halten, nicht einmal eine weltliche, die unter Umständen noch unerträglicher ist als eine geistliche. Unser Festgruß an unsere Leser sei ein kurzes Wort über Proletariat und Religion.

In einer Schrift des jungen Marx findet sich der Satz, das Dasein jeder Religion sei das Dasein eines Mangels.1 Der Satz ist in höherem und weiterem Sinne wahr, als sein Verfasser meinte, da er ihn niederschrieb. Alle Religion ist entstanden aus einem Mangel entweder an Natur- oder an Gesellschaftswissenschaft. So unterscheidet man Naturreligionen, die sich mit den von Menschen unverstandenen Naturgewalten abzufinden suchen, und Gesellschaftsreligionen, die sich über die Wirkungen des noch unverstandenen gesellschaftlichen Produktionsprozesses mit höheren Mächten zu verständigen bemühen, etwa in der Weise, dass man, wenn der gesellschaftliche Produktionsprozess von der unerschütterlichen Tatsache ausgeht, dass drei gleich drei und eins gleich eins sei, sich höherer Wesen getröstet, in denen gleichwohl drei gleich eins und eins gleich drei ist.

Dies ist, in die kürzeste und freilich auch trivialste Form gefasst, Ursprung und Wesen aller Religionen. Sie entstehen und bestehen immer in einem Wahn. Aber sie sind kein willkürliches Wahngebilde, das sich der einzelne Mensch macht, sondern der Wahn, worin sie wurzeln, hängt mit dem historisch gegebenen Maße der Kulturentwicklung zusammen. Je weiter die Erkenntnis der Natur fortschreitet, umso mehr verfallen die Naturreligionen; überall, wo man sich über das natürliche Wesen des Feuers klar ist, lacht man den Feueranbeter aus. Ganz ebenso geht es mit den Gesellschaftsreligionen. Je mehr der Mensch den gesellschaftlichen Produktionsprozess kontrollieren und beherrschen lernt, um so weniger hat er das Bedürfnis, sich mit überirdischen Mächten durch Gebet und Opfer zu verständigen, um so mehr sterben die Gesellschaftsreligionen ab.

Danach ist klar, dass zwischen Proletariat und Religion ein tiefer, ein ganz unversöhnlicher Widerspruch besteht. Alle Hoffnungen der Arbeiterklasse auf ihre Erlösung beruhen auf der Erkenntnis, auf der Kontrolle, auf der Beherrschung des kapitalistischen Produktionsprozesses. Je mehr die moderne Arbeiterklasse in ihre weltgeschichtliche Aufgabe hineinwächst, je reifer sie für deren Lösung wird, desto freier wird sie von der Religion. Wenn sie gleichwohl in ihr Programm den Satz aufgenommen hat: Erklärung der Religion zur Privatsache, so heißt dies erstens, dass der Staat nicht die religiösen Wahngebilde hegen soll, und zweitens, dass man den einzelnen die Pflege dieser Wahngebilde nicht verwehren darf. Eine Schonung der Religion und ihrer Träger, wo sie vom Staate gehegt werden und sich aus Dankbarkeit nun auch zur Förderung politischer und sozialer Unterdrückungszwecke hergeben, ergibt sich daraus so wenig wie die Folgerung, dass der proletarische Emanzipationskampf ein beliebiger Tummelplatz für religiöse Spielereien sei.

Eben weil sich das klassenbewusste Proletariat über Ursprung und Wesen der Religion klar ist, weil es in der Religion den Schatten erblickt, der überall herrscht, wo das Licht der ökonomischen Erkenntnis noch nicht aufgegangen ist, ebendeshalb verzichtet es darauf, den Schatten totzuschlagen, der niemals beseitigt werden kann, solange das Licht noch nicht leuchtet, aber der, wenn Licht brennt, von selbst verschwindet. Je mehr die noch vom religiösen Wesen befangene Arbeiterklasse ökonomisch und politisch erleuchtet wird, um so gründlicher scheidet ihr religiöser Wahn, während der Kampf gegen diesen Wahn gänzlich wirkungslos bleibt, solange die von ihm Ergriffenen das innere Wesen des kapitalistischen Produktionsprozesses nicht verstehen, solange sie deshalb ein Spielball unkontrollierbarer Mächte zu sein glauben, mit denen man gut tue, sich auf freundlichen Fuß zu stellen. Besäße die Religion diese soziale Wurzel nicht, so wäre sie längst durch die bürgerliche Aufklärung mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden, und es ist in der Tat ein Rückschritt um fünfzig oder selbst hundert Jahre, wenn sich neuerdings neue Aufgüsse der aufklärerischen Traktätchen von Anno dazumal in der Parteiliteratur einschleichen.

Ebenso verwerflich ist es aber, wenn der Satz von der Religion als Privatsache dazu missbraucht wird, wieder religiöse Bestrebungen in den proletarischen Emanzipationskampf einzuschmuggeln, von einem „religiösen Element" im Sozialismus zu sprechen und was dergleichen mehr ist. Nein, der Sozialismus hat kein „religiöses Element"; der Befreiungskampf der modernen Arbeiterklasse ist das Gegengift gegen jede Religion, und deshalb soll er nicht mit religiösen Schönheitspflästerchen verziert werden, die wie alle Religion nur einen Mangel bekunden, nämlich einen Mangel an Verständnis für die unvergleichliche Größe und Hoheit eines Kampfes, der an heilender, stärkender und tröstender Kraft alle Religionen überragt, von denen die Geschichte zu erzählen weiß.

Uns erinnern die Bestrebungen, den Sozialismus religiös zu verschönern, immer an das derbe, aber wahre Wort Ludwig Feuerbachs: „So ist vor allem unheilbar die Venerie, die Lustseuche der modernen Dichter und Schöngeistler, welche, den Wert der Dinge nur nach ihrem poetischen Reize bemessend, so ehr- und schamlos sind, dass sie auch die als Illusion erkannte Illusion, weil sie schön und wohltätig sei, in Schutz nehmen, so wesen- und wahrheitslos, dass sie nicht einmal mehr fühlen, dass eine Illusion nur solange schön ist, solange sie für keine Illusion, sondern für Wahrheit gilt." So Feuerbach schon vor sechzig Jahren.

Nur wer den schlichten Geist der Wahrheit höher schätzt als den gleißnerischen Schöngeist der Lüge, nur wer die Wahrheit schön, die Lüge aber hässlich findet, nur der ist beseelt von dem Geiste, der einmal die Zwingherrnburgen und des Knechtes Joch zerbrechen und das Dichterwort erfüllen wird:

Alle Menschen, gleich geboren,

Sind ein adliges Geschlecht.

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