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Franz Mehring 19040727 Simmel, Kant

Franz Mehring: Simmel, Kant

27. Juli 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Zweiter Band, S. 570-572. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 195-198]

Max Apel, Immanuel Kant. Ein Bild seines Lebens und Denkens. Ein Gedenkblatt zum hundertjährigen Todestage des Weltphilosophen. Berlin 1904, Verlag von Konrad Skopnik. 102 Seiten.

Max Adler, Immanuel Kant zum Gedächtnis. Gedenkworte zum hundertsten Todestage. In Kommission bei Franz Deutsche, Wien und Leipzig 1904. 47 S.

Georg Simmel, Kant. Sechzehn Vorlesungen, gehalten an der Berliner Universität. Leipzig, Duncker & Humblot. 181 Seiten. Preis 3 Mark.

Die Arbeit Apels ist eine Gelegenheitsschrift, die dem neulichen Gedenktage Kants ihren Ursprung verdankt, einen selbständigen Wert nicht beanspruchen kann und auch wohl nicht beansprucht.

Höhere Ansprüche darf die Festrede Adlers erheben, obgleich auch sie unter ihrem äußeren Anlass leidet. Es wäre unbillig, einer Gedenkrede hohe Worte aufzumutzen, aber Adler würde wohl selbst protestieren, wenn wir seine Schrift nur als Gedenkrede passieren ließen. Sie soll mehr sein und ist auch mehr, indem sie die Bedeutung Kants nicht sowohl in der Vergangenheit als in der Zukunft sucht. Adler zieht das biblische Gleichnis vom Säemann an, um auszuführen, dass die Gedanken in der Geschichte des menschlichen Geistes nie auf dem Wege zertreten werden oder in den Dornen ersticken könnten. „Denn sie alle fallen auf die gute Ackererde des Menschengeistes, der sein Samenkorn sorgsam behütet, auch wenn er es zuweilen erst nach bänglich langer Zeit keimen lässt. Und ob es gleich manchmal vielen Generationen fast wertlos schien, so dass sie es unbeachtet liegen ließen, so ist es, wenn es dann endlich zu treiben beginnt, wieder wie das Senfkorn in der Legende, das der kleinste unter allen Samen ist, wenn es aber wächst, ist es größer als alle anderen Kräuter und wird ein Baum, so dass die Vögel des Himmels kommen, in seinen Zweigen zu nisten." Weniger poetisch, aber praktischer ist der andere Vergleich Adlers: auf Kant zurückzugehen sei sowenig reaktionär, als wenn ein Industrieller auf ein vor langer Zeit angelegtes Reservekapital zurückgreife, um seine Produktion zu erweitern und zu verstärken.

Unter diesem Bilderreichtum, der an sich einer Gedenkrede ja nicht übel ansteht, leidet mitunter die Genauigkeit der historischen Daten. So soll Kant von Goethe ein Alleszermalmer genannt worden sein. Dem ist nun nicht so, denn Goethe stand bekanntlich der Kantischen Philosophie sehr kühl gegenüber, ebenso wie Herder und Hegel und Marx und so viele führenden Geister des neunzehnten Jahrhunderts, was ja auch zu der „bänglich langen Zeit" stimmt, die das Senfkorn gebraucht haben soll, um zu keimen. Als Alleszermalmer ist Kant vielmehr von Moses Mendelssohn angesprochen worden, jenem ängstlichen Philister, der sich gar zum Sterben legte, als er hörte, dass Lessing ein Spinozist gewesen sei wie Goethe und Herder. Anknüpfend an das Wort vom Alleszermalmer, das er irrtümlich in Goethes Mund legt, sagt Adler nun aber, Kant sei auch der Allesüberwinder; er habe die bis dahin unversöhnbar scheinenden Gegensätze des Empirismus und Rationalismus, des Realismus und Idealismus, des Spiritualismus und Materialismus, des Monismus und Dualismus versöhnt.

Man sollte denken, dass Adler die Schlussfolgerung ziehen würde, dass dieser Allesüberwinder auch den historischen Materialismus überwunden habe. Allein Adler bekennt, dass er auf dem Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung stehe: er will sie nur nicht „verabsolutiert" wissen. Es soll „keine metaphysische Vergewaltigung realer geschichtlicher Wirksamkeit" sein, wenn die historische Persönlichkeit Kants als eine unbequeme Notwendigkeit beiseite geschoben wird – „weil sich das Bewusstsein des Menschen ja überhaupt nur in dieser starren, trennenden, sich auf sich selbst beziehenden Form des Ichs allein auszuleben vermag" –, dagegen von der Kantischen Philosophie gesagt wird, dass sie „durch diesen Charakter der Unpersönlichkeit, den sie an sich selbst trägt, an die objektive Wahrheit rührt, die allein die Zeit zu überdauern vermag". Unseres unmaßgeblichen Erachtens verleugnet diese ganze Vorstellung von dem unbeachtet gebliebenen Senfkorn der Kantischen Philosophie – beiläufig waren schon bis zu Kants Tode nicht weniger als 2672 Schriften über sie erschienen –, von dem Reservekapital, das ein unpersönlicher Genius anlegt, damit in späteren Jahrhunderten die Menschheit darauf zurückgreifen könne, nicht nur den historischen Materialismus, sondern überhaupt jedes Prinzip historischer Entwicklung. Dabei wollen wir nicht verkennen, dass, wer in Kant den Allesüberwinder bewundert, das Prinzip der historischen Entwicklung allerdings verleugnen muss, da Kant dies Prinzip nur so überwunden hat, dass er keine blasse Ahnung davon hatte.

Eigentümlich heben sich von Adlers Festrede die Vorlesungen Simmels über Kant ab. Herr Simmel bekennt sich nicht zur materialistischen Geschichtsauffassung; er ist durchaus Ideologe und will keine philosophiegeschichtlichen, sondern rein philosophische Betrachtungen über Kant anstellen; es kommt für ihn ausschließlich darauf an, diejenigen Kerngedanken, mit denen Kant ein neues Weltbild begründet hat, in das zeitlose Inventar des philosophischen Besitzes – und wenigstens annäherungsweise werde ein solcher auch zeitlich bedingten Wesen erwerbbar sein – einzustellen. Das ist „annäherungsweise" derselbe Zweck, den Adler in seiner Festrede verfolgt, und doch entwickelt der ideologische Kantschwärmer mehr historischen Sinn als die Kantschwärmer, die, wie Adler und andere, auf historisch-materialistischem Boden stehen wollen. Simmel liest sehr viel aus Kant heraus oder in Kant hinein, aber sozusagen die gröbsten Elemente, woran sich die historische Bedingtheit der Kantischen Philosophie erkennen lässt, verkennt er doch keineswegs. In dem Abschnitt über Kants Erkenntnistheorie sagt er: „In der gewöhnlichen Auffassung erscheint Kant viel zu radikal. Das Verhältnis des Geistes zu seinen Objekten hat er nur an jenem einen Punkte, der Erkennbarkeit der transzendenten Objekte, völlig revolutioniert. Allein diese Tat hat für uns nicht mehr die Wichtigkeit, die sie im achtzehnten Jahrhundert besaß. Ob die Seele Eigenschaften aufweist, die ihre Unsterblichkeit gewährleisten, ob sich die Existenz Gottes durch eine logische Deduktion beweisen lässt, ob ein zeitlicher Anfang des Weltprozesses widerspruchslos ist oder nicht – das sind Angelegenheiten, die den modernen Menschen nicht sonderlich aufregen." Sehr gut führt Simmel auch aus, dass der genialste Teil der Kantischen Philosophie ihre Ästhetik sei. „Die eigentümliche Zusammengesetztheit seines (Kants) Wesens, das den mutigsten Schwung, eines völlig souveränen Denkens in eine philiströse Systematik verzopfte, gipfelt in der Tatsache, dass sein langatmigstes und verkünsteltstes Werk, das durch endlose Wiederholungen immer derselben Sätze und durch die Gewalttätigkeit seiner Konstruktionen den Leser fast zur Verzweiflung treiben kann, die Kritik der Urteilskraft, doch vielleicht die leuchtendsten Spuren seines Genius trägt. Denn es ist doch wohl das Wesen des Genies, zu wissen, was es nicht erfahren hat, und das auszusprechen, dessen Bedeutung es selbst nicht ermessen kann; und jenes Werk enthält Reflexionen über die letzten Fragen des ästhetischen Genusses, die das Beste des modernen ästhetischen Bewusstseins vorwegnehmen und deren Erfahrungsgrundlage in seinem Leben fast nicht aufzufinden ist." Hierzu wäre nur einschränkend zu bemerken, dass, so gewiss Kants Ästhetik eine geniale Konzeption ist, auch das Genie nicht aus dem Leeren schöpfen kann und eine doch recht breite „Erfahrungsgrundlage" allerdings in unserer klassischen Literatur vorhanden war; Herr Simmel wird hoffentlich nicht jene heitere Annahme teilen, wonach Kant nichts von Lessing, Winckelmann, Herder, Goethe gewusst haben soll, weil er ihre Namen in seinen Briefen und Schriften selten oder gar nicht erwähnt.

Am schärfsten zeigt Herr Simmel die historische Bedingtheit der Kantischen Philosophie an ihrem dritten Hauptstücke, ihrer Ethik, auf. Es ist natürlich nicht seine Absicht, die wohlwollenden Ratgeber zurückzuweisen, die der modernen Arbeiterbewegung diese Ethik aufreden möchten, aber tatsächlich weist er sie zurück, indem er darlegt, dass Kants Moralvorschriften auf die komplizierten Verhältnisse des modernen Lebens passen, wie die Faust aufs Auge. Er trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er von der Scheidung des kategorischen Imperativs zwischen gut und böse sagt: „Für die Praxis täglicher und unkomplizierter Fälle wird sich die Scheidung freilich ohne weiteres ergeben, die Beispiele Kants zeigen auch, dass er an keine anderen gedacht hat: ob man lügen dürfe, ob man anvertraute Gelder zurückbehalten dürfe, ob man sich dem Anspruch auf Hilfe bei Notständen anderer entziehen dürfe – alles dieses entscheidet sich innerhalb eines einfachen, ich möchte sagen: kleinbürgerlichen Milieus sehr leicht gemäß dem kategorischen Imperativ, aber sobald solche Entscheidungen in die Wirrnis gekreuzter Interessen und Bindungen verflochten sind, versagt er vollständig, weil wir nicht wissen, wo die Formulierung des allgemeinen Gesetzes, das heißt die Vernachlässigung der singulären Konstitutionen, einzusetzen hat." In der Tat ist Kants Moralphilosophie ihrem Ursprung nach kleinbürgerlich, sowohl in ihrer Beschränktheit wie in ihrer Pfiffigkeit. Indem Kant jede Notlüge als unsittlich verdammt, erklärt er gleichwohl, dass der Geistliche durchaus nicht an die Lehre zu glauben brauche, die er von der Kanzel herab verkündige. In famoser Sophisterei begründet er diesen Standpunkt damit, dass der Geistliche freilich die Lehre nicht für positiv falsch halten dürfe, denn dann würde er mit ihrer Verkündigung eine Lüge begehen. Aber er könne über sie ganz andere Meinungen haben, als er den Gläubigen verkünde; er sei nur angestellt, um sie zu predigen; sein inneres Verhältnis zu ihr sei seine Privatsache. Wollten wir daraufhin in Kant den Urheber des sozialdemokratischen Programmsatzes feiern: Religion ist Privatsache, so würden wir vollkommen getreu die Methode nachahmen, womit Kant als Urheber des modernen Sozialismus überhaupt demonstriert wird.

Um dem Leser keinen falschen Begriff von Simmels Schrift zu geben, wollen wir noch einmal wiederholen, dass sie auch viele ideologische Konstruktionen enthält. Der Verfasser wird sich vielleicht über die Unbilligkeit unserer Kritik beklagen, weil sie an dem vorbeigeht, was er für neu, und bei dem verweilt, was er für selbstverständlich hält. Indessen, auch die Kritik steht im Banne der historischen Bedingtheit: Wenn man gelesen hat, was in letzter Zeit sozialistische Kantschwärmer geleistet haben, dann empfindet man schon die Selbstverständlichkeiten bürgerlicher Kantschwärmer als ein erfrischendes Bad.

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