Franz Mehring‎ > ‎Philosophie‎ > ‎

Franz Mehring 19060317 Sozialistische Ethik

Franz Mehring: Sozialistische Ethik

März/April 1906

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 63, 17. März, Nr. 81, 7. April, Nr. 98, 30. April 1906. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 386-400]

I

In dem Büchlein, das Karl Kautsky kürzlich unter dem Titel: Ethik und materialistische Geschichtsauffassung […] veröffentlicht hat, ist der deutschen Arbeiterbewegung eine sehr wertvolle Gabe beschert worden. Die viel missbrauchte Redewendung, die man ziemlich in jeder buchhändlerischen Reklame für eine neue Erscheinung des bürgerlichen Büchermarkts findet, dass nämlich gerade diese Erscheinung eine Lücke in der vorhandenen Literatur ausfülle, trifft diesmal wirklich zu. Es sind zwar in der sozialistischen Literatur ethische Fragen oft genug gestreift oder auch eingehend erörtert worden; ja Anton Menger hat noch kurz vor seinem Tode eine „Neue Sittenlehre" vom sozialistischen Standpunkt aus veröffentlicht, der jedoch gerade das fehlte, was allein neue und sichere Erkenntnisse zu schaffen vermag: eine systematische Untersuchung der Ethik nach ihrem historischen Ursprung und Wesen. An bloßen, subjektiven Betrachtungen, auch wenn sie noch so ehrlich gemeint und in ihrer Art auch ganz geistreich sein mögen, haben wir auf ethischem Gebiete gerade genug oder richtiger: mehr als zuviel.

Eben jene historische Untersuchung gibt nun Kautsky in seinem Büchlein, das nicht nur wissenschaftliche, sondern mindestens ebenso große praktische Bedeutung hat. Das sittliche Empfinden ist in der modernen Arbeiterbewegung außerordentlich rege und hat große Aufgaben im proletarischen Klassenkampfe zu erfüllen. Aber solange es nur instinktiv wirkt, kann es sehr irreführen. Wir sprechen hier nicht erst von den Leuten, die sich in der Behauptung gefallen, der historische Materialismus schließe überhaupt die Ethik als historisch wirksame Triebkraft aus. Wer so spricht, hat überhaupt noch nicht das Alphabet der genialen Geschichtsauffassung begriffen, die Marx und Engels begründet haben. Aber es gibt auch sehr unterrichtete, ja sehr gelehrte Leute von aufrichtigem Willen, außerhalb wie innerhalb der Partei, die eine Ergänzung des Marxismus durch eine besondere Ethik für nötig halten. Soweit sich diese Richtungen bisher praktisch bemerkbar gemacht haben, wollen sie entweder eine neue, von allem dumpfen Aberglauben gereinigte Religion der Arbeiterklasse mundgerecht machen, deren ökonomische und politische Forderungen sozusagen mit religiösem Geiste erfüllen, oder sie erheben das Feldgeschrei: Zurück auf Kant!, der angeblich das ewige Sittengesetz entdeckt haben soll, das über aller historischen Entwicklung walte. Käme eine dieser Richtungen je zum Siege in der Partei, so würde diese auf Abwege geraten, die ihr im günstigsten Falle eine Unmasse verlorener Zeit kosten würden.

Kautsky versperrt nun diese Abwege, indem er nicht etwa eine sozialistische Ethik als ein Gerüst dogmatischer Formeln aufbaut, sondern, wie wir schon sagten, das historische Wesen und den Ursprung der Ethik untersucht, selbstverständlich an der Hand des historischen Materialismus. Seine Schrift ist ihm als eine Gelegenheitsarbeit entstanden; sein Konflikt mit dem „Vorwärts" im vorigen Herbste1, der ja vielfach ethische Fragen streifte, hat ihm den Anstoß dazu gegeben, und für die hässlichen Formen, die dieser Konflikt schließlich annahm, ohne die Schuld Kautskys, mag es entschädigen, dass er uns wenigstens diese reife Frucht beschert hat. Ursprünglich glaubte Kautsky das Problem in einem Aufsatze für die „Neue Zeit" erledigen zu können, aber der Stoff wuchs ihm unter den Händen, und so entschloss er sich zur Herausgabe dieser kleinen Schrift, die sein historisches Thema wenigstens nach den wesentlichsten Gesichtspunkten, wenn auch nur kurz zu skizzieren gestattete.

Auf seinen ersten zwanzig Seiten trägt das Büchlein auch noch die Spuren einer Gelegenheitsschrift. Besonders das erste Kapitel über die antike und christliche Ethik enthält manche Ausführungen, namentlich über die platonische, epikureische und stoische Philosophie, in ihrer Auffassung der Ethik, die mancherlei Missverständnisse verursachen können, wenigstens in der aphoristischen Kürze, worin Kautsky sie gibt. Jedoch heben wir diese Bedenken nur hervor, um unser kritisches Gewissen zu salvieren, und nicht um uns mit Kautsky über diese zum Teil sehr schwierigen und verwickelten Fragen auseinanderzusetzen, die mit dem eigentlichen Zwecke seines Büchleins nur in sehr entferntem Zusammenhange stehen. Im wesentlichen ist vollkommen richtig, wenn er zwischen zwei Hauptauffassungen der Ethik unterscheidet, die vom Altertum bis in die Tage der modern-bürgerlichen Aufklärung hinein, in mannigfachen Abwandlungen und Schattierungen, immer wieder auftauchen: der einen, die den Ursprung des Sittengesetzes in übernatürlichen Regionen, und der andern, die ihn in dem Bedürfnis des Menschen nach seiner Glückseligkeit sucht, der einen, die der idealistischen, der andern, die der materialistischen Weltauffassung entspringt.

Kants Ethik ist nun keineswegs, wie ihre Bewunderer behaupten, eine Versöhnung dieser Gegensätze im Hegelschen Sinne einer höheren Einheit, sondern ein Kompromiss zwischen ihnen in dem schlechten Sinne einer Abstumpfung und Verwässerung der Gegensätze. Mit den Materialisten stellte sich Kant auf denselben Boden, indem er anerkannte, dass die Welt außer uns wirklich und die sinnliche Erfahrung der Ausgangspunkt aller Erkenntnis ist. Aber diese Erfahrung ist bedingt nicht bloß durch die Beschaffenheit der Außenwelt, sondern auch durch die Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens. Und die Untersuchung dieses Erkenntnisvermögens wurde für Kant zum Sprungbrett, sich über diese Grenzen hinaus zu erheben und eine unerkennbare Welt zu erblicken, von der er genau erkannte, dass sie ganz anderer Art als die Welt der Erscheinungen, dass sie völlig raumlos und zeitlos und damit auch ursachlos sei. Diesen Salto mortale unternahm Kant, um einen Platz für seine Ethik zu finden. Es erschien ihm ganz unmöglich, das Sittengesetz mit der sinnlich erfassbaren Welt der Erscheinungen in einen notwendigen Zusammenhang zu bringen. Die Erklärung des Sittengesetzes bedurfte einer andern Welt, einer raum- und zeitlosen Welt des reinen Geistes, einer Welt der Freiheit im Gegensatze zu der Welt der Erscheinungen, die von der notwendigen Verkettung von Ursachen und Wirkungen beherrscht wird. Indem Kant die übernatürliche Welt mitsamt Gott und Unsterblichkeit zur Vordertür hinauswarf, schleppte er sie mitsamt Gott und Unsterblichkeit zur Hintertür wieder herein. Es wäre falsch, zu sagen, dass sein Sittengesetz in der blauen Luft hinge; tatsächlich war es der getreue Widerschein der kleinbürgerlichen Moral, die in dem Deutschland Kants vorherrschte. Aber die ewige Gültigkeit dieses Sittengesetzes bewies Kant nur dadurch, dass er es in die blaue Luft projizierte als das Produkt einer Welt, die mit menschlichen Sinnen nicht zu erfassen ist.

Mit Recht sagt Kautsky, soweit es auf die Ethik ankomme, könne man statt auf Kant, lieber gleich auf Plato zurückgehen. In der Tat verdient die Kantische Ethik die eingehende Untersuchung, die Kautsky ihr widmet, nur unter dem praktischen Gesichtspunkte, dass sie heute durchaus der Arbeiterklasse als ewiges Sittengesetz und gar als älteste Urkunde des Sozialistengesetzes2 aufgedrängt werden soll. Sie ist weitaus der schwächste Teil des Kantischen Lebenswerkes und hat historisch nur reaktionär gewirkt, zunächst indem sie der absterbenden Theologie neue Stützen schaffte, und nunmehr, indem sie benutzt wird, auch auf ökonomischem Gebiete neue Verwirrung zu schaffen. Da die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft, die von der klassischen Ökonomie entdeckt wurden, sich immer klarer als Gesetze entpuppten, die den Klassenkampf und den Untergang der kapitalistischen Ordnung zur Notwendigkeit machen, flüchtete die bürgerliche Ökonomie zum Kantischen Sittengesetze, das, außerhalb des Raumes und der Zeit stehend, imstande sein soll, die Klassengegensätze zu versöhnen und die Revolutionen zu verhindern, die im Raum und in der Zeit vor sich gehen.

Es versteht sich, dass Kautsky die großen Eigenschaften Kants deshalb nicht verkennt. Er behandelt ihn durchaus als einen bedeutenden und scharfsinnigen Denker, und niemand wird das Kapitel über Kant lesen ohne die fruchtbarste Anregung. Aber Kautsky sagt mit Recht: „Dadurch, dass Kant das Sittengesetz aus dem Diesseits der sinnlichen Welt in das Jenseits einer übersinnlichen Welt verlegte, hat er dessen wissenschaftliche Erkenntnis nicht gefördert, sondern ihr alle Wege verrammelt. Dieses Hindernis muss man vor allem beseitigen, man muss über Kant hinwegschreiten, will man das Rätsel des Sittengesetzes seiner Lösung entgegenführen." Damit schreitet Kautsky zur positiven Lösung seiner Aufgabe vor, worauf wir noch zurückkommen.

II

Wir haben Kautskys Untersuchungen über Ethik und materialistische Geschichtsauffassung bis dahin verfolgt, wo er mit der Kantischen Ethik kritisch aufgeräumt hatte und nun dazu überging, den positiven Teil seiner Aufgabe zu erledigen. […] Er teilt ihn in zwei Kapitel, von denen das eine die Ethik des Darwinismus und das andre die Ethik des Marxismus behandelt.

In seinem Buch über die Abstammung des Menschen wies Darwin nach, dass die moralischen Gefühle keine Eigentümlichkeit der menschlichen Natur seien. Wir finden sie auch in der Tierwelt, und sie entspringen hier wir dort den gleichen Ursachen. Es sind im Grunde dieselben Ursachen, die alle Fähigkeiten der mit Eigenbewegung begabten Wesen hervorgerufen haben, und aus ihnen lässt sich eine neue Erkenntniskritik entwickeln, was Darwin selbst freilich noch nicht getan hat.

Von den zwei großen Gruppen der Organismen entbehren die Pflanzen der Eigenbewegung, während die Tiere sie besitzen. Es ist klar, dass sie eine mächtige Waffe im Kampf ums Dasein ist. Sie ermöglicht, der Nahrung nachzugehen, die Gefahr zu fliehen, die Nachkommenschaft an Orten unterzubringen, wo sie am besten vor Gefahren geschützt, am reichsten mit Nahrung versehen ist. Die Eigenbewegung erfordert aber ein Erkenntnisvermögen und umgekehrt. Die eine ist ohne das andre völlig unnütz, nur in ihrer Vereinigung werden sie zu einer Waffe im Kampf ums Dasein. „Das Vermögen der Eigenbewegung ist völlig nutzlos, wenn es nicht gepaart ist mit einem Vermögen, die Welt zu erkennen, in der ich mich zu bewegen habe. Was nützten dem Hirsche seine Beine, wenn er nicht die Fähigkeit hätte, seine Feinde und seine Nahrungsplätze zu erkennen? Anderseits wäre für eine Pflanze jedes Erkenntnisvermögen nutzlos. Könnte der Grashalm die nahende Kuh hören, sehen, riechen, so würde das nicht im Mindesten dazu beitragen können, dass er sich dem Gefressen werden entzieht." Eigenbewegung und Geist gehören notwendig zusammen. Woher immer diese Fähigkeiten rühren mögen, sie treten stets zusammen auf und entwickeln sich miteinander; sie dienen gemeinsam demselben Zwecke: die Existenz des Individuums zu erleichtern und zu sichern.

Hieraus erklärt sich die Einseitigkeit und die Eigenart unsres Erkenntnisvermögens. Kants Lehre von Raum und Zeit und Kausalität, die Schopenhauer zu dem glänzendsten Edelstein in der Krone Kantischen Ruhms rechnet, ergibt sich sehr einfach aus den Bedingungen des Kampfes ums Dasein. Hören wir darüber Kautsky: „Die Dinge an sich zu erkennen, mag manchen Philosophen als eine sehr wichtige Aufgabe erscheinen; für unsre Existenz ist es sehr gleichgültig, was immer man unter dem Ding an sich verstehen mag. Dagegen ist es für jedes mit Eigenbewegung begabte Wesen von der höchsten Wichtigkeit, die Dinge richtig zu unterscheiden, ihre Verhältnisse zueinander richtig zu erkennen. Je schärfer sein Erkenntnisvermögen in dieser Beziehung, desto bessere Dienste wird es ihm leisten. Für die Existenz des Singvogels ist es völlig gleichgültig, was jene Dinge an sich sein mögen, die ihm als Beere, Habicht, Gewitterwolke erscheinen. Aber unentbehrlich für seine Existenz ist es, dass er Beere und Habicht und Wolke genau von den andern Dingen seiner Umgebung unterscheidet, denn nur das setzt ihn in den Stand, sein Futter zu finden, dem Feinde zu entfliehen, rechtzeitig dem schützenden Laubdach zuzustreben." So muss das Erkenntnisvermögen der Tiere ein Unterscheidungsvermögen im Raume sein.

Aber nicht minder unerlässlich ist es für das Tier, die Aufeinanderfolge der Dinge in der Zeit, und zwar ihre Kausalität, ihre notwendige Aufeinanderfolge als Ursache und Wirkung zu erkennen. Denn die Bewegung als Ursache kann nur dann die Erhaltung der Existenz erreichen, wenn sie besondere nähere oder fernere Wirkungen erzielt, die sie um so leichter erzielen wird, je besser das Individuum die Verkettung dieser Wirkungen mit ihren Ursachen erkennt. „Um das obige Beispiel vom Vogel zu wiederholen, so genügt es nicht, dass er Beere und Habicht und Wolke von den andern Dingen im Räume zu unterscheiden weiß; er muss auch wissen, dass der Genuss der Beere die Wirkung hat, ihn zu sättigen, das Auftauchen des Habichts die Wirkung, dass der erste beste kleinere Vogel, dessen er habhaft wird, ihm als Futter dient; dass die aufsteigende Gewitterwolke Sturm, Regen, Hagel als Wirkung produziert. Selbst die niedersten Tiere, sobald sie eine Spur von Eigenbewegung und Unterscheidungsvermögen besitzen, entwickeln auch eine Ahnung von Kausalität. Wenn die Erde erschüttert wird, so ist das für den Regenwurm ein Anzeichen, dass Gefahr droht, und eine Veranlassung zur Flucht. Soll also das Erkenntnisvermögen dem Tiere bei seinen Bewegungen von Nutzen werden, so muss es so organisiert sein, dass es imstande ist, ihnen Unterscheidungen im Raume und in der Zeit und kausale Verknüpfungen zu zeigen."

Aber es muss noch mehr tun, indem es – da alle Teile des Körpers nur einem Individuum, nur einem Zwecke, der Erhaltung dieses Individuums dienen – die Einheitlichkeit des Bewusstseins sichert. Dann aber muss es auch Erfahrungen ansammeln und vergleichen können. „Um noch einmal auf unsern Singvogel zurückzugreifen, so gibt es für ihn zwei Wege, um herauszubringen, welches Futter für ihn das beste und wo es am ehesten zu finden ist, welche Feinde für ihn gefährlich und wie ihnen zu entgehen ist. Einmal eigne Erfahrung und dann die Beobachtung der Praxis älterer Vögel, die sichere Erfahrungen gesammelt haben. Kein Meister wird bekanntlich geboren. Jedes Individuum kann sich im Daseinskampf um so leichter behaupten, je größer seine Erfahrungen und je besser sie geordnet sind; dazu gehört aber die Gabe des Gedächtnisses und die Fähigkeit, frühere Eindrücke mit späteren zu vergleichen und das ihnen Gemeinsame, das Allgemeine aus ihnen herauszuziehen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen, das heißt: denken. Vermittelt uns die Beobachtung durch die Sinne die Unterschiede, das Besondere, so das Denken das Gemeinsame, das Allgemeine der Dinge." Alle diese Eigenschaften des Erkenntnisvermögens finden sich schon in der Tierwelt entwickelt3, wenn auch nicht in so hohem Grade wie beim Menschen und wenn auch öfter noch für uns schwer erkennbar, da es nicht immer leicht ist, die aus der Erkenntnis folgenden bewussten Handlungen von den unwillkürlichen und unbewussten Handlungen, bloßen Reflexbewegungen und instinktiven Bewegungen zu scheiden, die auch beim Menschen noch eine große Rolle spielen.

Aber wenn alle diese Eigenschaften des Erkenntnisvermögens zur Eigenbewegung gehören, so finden wir in ihnen auch die Schranken, die selbst der tiefste und umfassendste Verstand des höchstentwickelten Kulturmenschen nicht überschreiten kann. Kräfte und Fähigkeiten, die als Waffen im Kampf ums Dasein erworben wurden, können auch andern Zwecken dienstbar gemacht werden als nur der Sicherung des Daseins, aber sie verlieren damit sozusagen den Grund und Boden, worin sie wurzeln. Unser geistiges Vermögen ist durch den Daseinskampf nicht dazu entwickelt worden, ein Organ reiner Erkenntnis zu sein, sondern nur dazu, ein Organ zu sein, das durch Erkenntnis unsre Bewegungen zweckmäßig regelt. So vollkommen es in dieser Beziehung fungiert, so unvollkommen ist es für das Spiel des reinen Erkennens ohne jeden praktischen Hintergedanken, ohne Erwägung der praktischen Konsequenzen, die es nach sich ziehen mag.

Nun bilden jedoch Eigenbewegung und Erkenntnis für sich allein noch keineswegs eine ausreichende Waffe im Kampf ums Dasein. Es muss hinzukommen der Trieb der Selbsterhaltung, der ursprünglichste und unentbehrlichste aller tierischen Triebe, ohne den sich keine einigermaßen mit Eigenbewegung und Erkenntnisvermögen begabte Tiergattung auch nur kurze Zeit erhalten könnte. Mit diesem Triebe hängt zusammen der Fortpflanzungstrieb, und wiederum mit dem Fortpflanzungstriebe sind die sozialen Triebe verknüpft, die sich in denjenigen Tiergattungen entwickeln, für die der gesellschaftliche Zusammenhalt zu einer wirksamen Waffe im Kampf ums Dasein wird. Diese sozialen Triebe wachsen bei mancher Gattung und manchem Individuum zu einer erstaunlichen Kraft heran, so dass sie selbst die Triebe der Selbsterhaltung und der Fortpflanzung zu überwinden vermögen, sobald sie mit diesen in Konflikt geraten.

Die sozialen Triebe selbst können ja nach den verschiedenen Lebensbedingungen der verschiedenen Tiergattungen verschieden sein, aber eine Reihe von Trieben bildet die Vorbedingung für das Gedeihen jeder Art von Gesellschaft. „So vor allem natürlich die Selbstlosigkeit, die Hingebung für die Allgemeinheit. Dann die Tapferkeit in der Verteidigung der gemeinsamen Interessen: die Treue gegen die Gemeinschaft; die Unterordnung unter den Willen der Gesamtheit, also Gehorsam oder Disziplin; Wahrhaftigkeit gegen die Gesellschaft, deren Sicherheit man gefährdet oder deren Kräfte man vergeudet, wenn man sie irreführt, etwa durch falsche Signale. Endlich Ehrgeiz, die Empfänglichkeit für Lob und Tadel der Gemeinschaft. Das alles sind soziale Triebe, die wir schon in tierischen Gesellschaften ausgeprägt finden, manche davon oft in hohem Maße. Diese sozialen Triebe sind aber nichts andres als die erhabensten Tugenden, ihr Inbegriff ist das Sittengesetz. Höchstens fehlt unter ihnen noch die Gerechtigkeitsliebe, das ist der Drang nach Gleichheit. Für deren Entwicklung ist in den tierischen Gesellschaften freilich kein Platz, weil sie nur natürliche, individuelle, nicht aber durch gesellschaftliche Verhältnisse hervorgerufene, soziale Ungleichheiten kennen. Das erhabene Sittengesetz, dass der Genosse niemals bloßes Mittel zum Zweck sein solle, welches unsre Kantianer als die gewaltigste Leistung des Kantischen Genius und als das ‚sittliche Programm der neuen Zeit und aller Zukunft der Weltgeschichte' betrachten, ist in den tierischen Gesellschaften eine Selbstverständlichkeit. Erst die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft hat Zustände geschaffen, in denen der Mitgesellschafter zum bloßen Werkzeug andrer wurde."

Dieser Spott Kautskys über die Neukantianer ist nur zu berechtigt. Es sind ganz wackere Leute, und von allen bürgerlichen Spielarten, die auf eine „Versöhnung" mit dem Sozialismus ausgehen, mögen sie wohl die ehrlichsten sein. Aber praktisch läuft ihr Beginnen doch nur auf eine schädliche Abschwächung und Abstumpfung des proletarischen Klassenkampfs hinaus. Und was für Kant noch erklärlich, ja für ihn in gewissem Sinne ein historischer Fortschritt war, das ist für seine heutigen Anbeter ein unverzeihlicher Rückschritt.

Doch hören wir wieder Kautsky: „Was einem Kant noch als das Produkt einer höheren Geisterwelt erschien, ist ein Produkt der Tierwelt. Wie eng die sozialen Triebe mit dem Kampf ums Dasein verwachsen sind und wie sehr sie ursprünglich nur der Erhaltung der Art dienen, ersieht man schon daraus, dass ihre Wirkung sich oft bloß auf Individuen erstreckt, deren Erhaltung für die Art vorteilhaft ist. Eine ganze Reihe von Tieren, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um jüngere oder schwächere Genossen zu retten, töten unbedenklich alte oder kranke Genossen, die für die Erhaltung der Art überflüssig geworden sind und der Gesellschaft zur Last fallen. Der ,moralische Sinn', die ,Sympathie' erstreckt sich nicht auf diese Elemente. Auch viele Wilde handeln so. Ein tierischer Trieb, nichts andres ist das Sittengesetz. Daher seine geheimnisvolle Natur, diese Stimme in uns, die mit keinem äußerlichen Anstoß, keinem sichtbaren Interesse zusammenhängt; diesen Dämon oder Gott, den seit Sokrates und Plato bis Kant jene Ethiker in sich empfanden, die es ablehnten, die Ethik aus dem Selbsttrieb oder der Luft abzuleiten. Sicher ein geheimnisvoller Drang, aber nicht geheimnisvoller als die Geschlechtsliebe, die Mutterliebe, der Selbsterhaltungstrieb, das Wesen des Organismus überhaupt und so viele andre Dinge, die nur der Welt der ‚Erscheinungen' angehören und die niemand als Produkt einer übersinnlichen Welt ansehen wird. Weil das Sittengesetz ein tierischer Trieb ist, der den Trieben der Selbsterhaltung und Fortpflanzung ebenbürtig, deshalb seine Kraft, deshalb sein Drängen, dem wir ohne Überlegung gehorchen, deshalb unsre rasche Entscheidung in einzelnen Fällen, ob eine Handlung gut oder böse, tugendhaft oder lasterhaft sei; deshalb die Entschiedenheit und Energie unsres sittlichen Urteils und deshalb die Schwierigkeit, es zu begründen, wenn die Vernunft anfängt, die Handlungen zu zergliedern und nach ihren Gründen zu fragen. Dann findet man schließlich, dass alles begreifen alles verzeihen heißt, dass alles notwendig, nichts gut und böse ist. Nicht aus unserm Erkenntnisvermögen, sondern aus unserm Triebleben stammt mit dem Sittengesetz auch das sittliche Urteil sowie das Gefühl der Pflicht und das Gewissen."'4

Aber damit ist noch nicht das ganze ethische Problem gelöst. Lassen sich auch der sittliche Drang, Pflicht und Gewissen sowie die Grundtypen der Tugenden aus den sozialen Trieben erklären, so versagen diese doch, wo es sich um die Erklärung des sittlichen Ideals handelt. Davon ist in der Tierwelt auch nicht der leiseste Keim zu entdecken. Nur der Mensch setzt sich Ideale und strebt ihnen nach. Woher rühren diese? Hierüber in einem letzten Artikel.

III

Indem wir uns zu dem dritten und wichtigsten Teile der Schrift Kautskys über Ethik und materialistische Geschichtsauffassung wenden, gelangen wir auch zu dem schwierigsten Teil unsrer Aufgabe, nämlich unsern Lesern einen zutreffenden Begriff von dem zu geben, was Kautsky in einer ungemein gedrängten Darstellung von etwa 60 bis 70 Druckseiten zusammenzufassen gewusst hat. Der fesselnde Reiz seiner Darstellung beruht nicht zum wenigsten in der Fülle und dem Reichtum der Details, aber dahinein zu dringen müssen wir uns notgedrungen versagen und uns darauf beschränken, sozusagen nur den roten Faden bloßzulegen, der sich durch das meister- und musterhaft geordnete Tauwerk seines Gedankenschiffleins zieht.

In fünf Kapiteln behandelt Kautsky die Ethik des Marxismus. Das erste deckt die Wurzeln der materialistischen Geschichtsauffassung auf, indem es diese Theorie als das notwendige Produkt objektiver historischer Ursachen nachweist. Gewiss wird sie nach Marx und Engels benannt, und auch mit Recht, da nur so tiefen Denkern eine derartige Leistung möglich war. Aber keinem Engels, keinem Marx wäre sie möglich gewesen im achtzehnten Jahrhundert, ehe alle die neuen Wissenschaften eine genügende Menge neuer Resultate gezeitigt hatten. Anderseits hätte wohl ein Mann von dem Genie eines Helvetius oder Kant auch die materialistische Geschichtsauffassung entdecken können, wenn zu seiner Zeit ihre wissenschaftlichen Vorbedingungen gegeben waren. Endlich aber hätten auch Engels und Marx trotz ihres Genies und trotz der Vorarbeit, welche die neuen Wissenschaften geleistet, auch in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts es nicht vermocht, die materialistische Geschichtsauffassung zu entdecken, wenn sie nicht auf dem Standpunkt des Proletariats standen, also Sozialisten waren. Auch das war unbedingt notwendig, um diese Geschichtsauffassung zu entdecken. Sie ist in diesem Sinne eine proletarische Philosophie, und die ihr entgegenstehenden Anschauungen sind bürgerliche Philosophien. Aus diesem Grunde erklärt sich Kautsky – und wir können ihm darin nur zustimmen – gegen den Vorschlag, den historischen Materialismus in „Monismus" oder „Kritizismus" oder „Realismus" umzutaufen. Alle diese Ausdrücke lassen sich sachlich ebenso sehr anfechten wie der Ausdruck „Materialismus", der historisch den entscheidenden Vorzug hat, seit der Herrschaft des Christentums eine Philosophie des Kampfes gegen die herrschenden Gewalten zu sein. Am wenigsten kann es uns kümmern, dass die Bourgeoisie den „Materialismus" in allerlei Verruf zu bringen gewusst hat. So haben sich Marx und Engels ihrer Zeit geweigert, das „Kommunistische Manifest" als ein Sozialistisches Manifest zu taufen, obgleich dadurch auch – bei den Spielarten des Kommunismus, die im Jahre 1848 sich aufgetan hätten – allerlei Missverständnisse möglich wurden. Das Wort Sozialismus deckte und deckt eben sehr mannigfaltige Waren und darunter recht erbärmliche, christlichen und nationalen Sozialismus; das Wort Kommunismus bezeichnete dagegen klar und unzweideutig das Ziel des im revolutionären Kampf um seine Emanzipation ringenden Proletariats.

Das zweite Kapitel handelt über den „Organismus der menschlichen Gesellschaft". Weder als denkendes noch als moralisches Geschöpf unterscheidet sich der Mensch wesentlich vom Tiere. Auch produziert schon das Tier, indem es die in der Natur gefundenen Stoffe durch Form- oder Ortsveränderungen seinen Zwecken anpasst; ebenso kennt es schon den Gebrauch von Werkzeugen, wenigstens in seinen Anfängen; der Affe gebraucht Baumäste, um sich zu verteidigen, Steine, um Nüsse aufzuschlagen usw. Aber im besten Falle weiß das Tier ein Werkzeug in der Natur zu finden; ein solches zu erfinden ist ihm versagt. Es produziert Dinge zu seinem unmittelbaren Gebrauch, legt Wohnungen an, sammelt Vorräte an Lebensmitteln, jedoch so weit denkt es nicht, Dinge zu produzieren, die nicht dem direkten Konsum dienen, sondern der Produktion von Konsummitteln. Mit der Produktion von Produktionsmitteln beginnt die Menschwerdung des Tiermenschen; damit löst er sich von der übrigen Tierwelt los, um sein eignes Reich zu begründen, ein Reich mit einer besonderen Art der Entwicklung, die in der übrigen Natur völlig unbekannt ist, dort ihresgleichen nicht findet.

Mit der Erfindung und Produzierung des Werkzeugs – dies Wort im weitesten Sinne genommen – verleiht der Mensch sich absichtlich und bewusst neue Organe oder verstärkt seine natürlichen Organe, so dass er dasselbe, was diese Organe produzierten, besser oder leichter produzieren und Resultate gewinnen kann, deren Erreichung für ihn früher ganz unmöglich war. Da aber der Mensch nicht bloß ein mit hoher Intelligenz und Händen begabtes Tier ist – die notwendige Voraussetzung der Anwendung und Produktion von Werkzeugen –, sondern auch ein gesellschaftliches Tier von Anfang an gewesen sein muss, so ging die Erfindung und Produktion eines Werkzeugs durch ein besonders begabtes Individuum – einen die Bäume des tropischen Urwalds bewohnenden Marx oder Kant oder Aristoteles – mit dessen Tode nicht verloren. Seine Horde nahm die Erfindung auf und führte sie fort, gewann durch sie einen Vorsprung im Kampfe ums Dasein, so dass ihre Nachkommen und Abzweigungen besser gediehen als die andern Artgenossen. Aller weiterer Scharfsinn, der in der Horde vorhanden war, diente von nun an dazu, die Entdeckung zu vervollkommnen oder neue Entdeckungen zu machen.

Jeder einzelne Schritt auf dieser Bahn der technischen Entwicklung nach vorwärts ist ein bewusster und ein gewollter. Jeder entspringt dem Bestreben, die Kräfte des Menschen künstlich über die von der Natur gegebenen Grenzen hinaus zu vergrößern. Aber jeder dieser technischen Fortschritte zieht auch mit Notwendigkeit Wirkungen nach sich, die von seinen Urhebern nicht gewollt wurden und werden konnten, weil diese nicht imstande waren, sie auch nur zu ahnen, Wirkungen, die man ebenso wie die der natürlichen Auslese Anpassungen an das Milieu nennen könnte, aber an ein Milieu, das der Mensch selbst künstlich verändert hat. Bei diesen Anpassungen spielt das Bewusstsein, die Erkenntnis des neuen Milieus und seine Bedürfnisse, auch wieder eine Rolle, ohne jedoch eine selbständige, die Richtungen angebende Triebkraft zu sein.

Kautsky zeigt nun auf, wie die technische Entwicklung die Lebensweise der Menschen umwälzt, und untersucht dann den Unterschied des tierischen und des gesellschaftlichen Organismus. Die Erfindung des Werkzeugs gestattet, dass in einer Gesellschaft besondere Individuen besondere Werkzeuge ausschließlich oder doch so viel mehr als andre Individuen handhaben, dass sie sie weit besser als diese zu handhaben wissen. So kommen wir zu einer Form der Arbeitsteilung in der menschlichen Gesellschaft, die ganz andrer Art ist als die dürftigen Anfänge der Arbeitsteilung in den tierischen Gesellschaften. In diesen bleibt bei aller Arbeitsteilung das Individuum ein Wesen für sich, das alle Organe besitzt, deren es zu seinem Lebensunterhalt bedarf. In der menschlichen Gesellschaft ist das umso weniger der Fall, je weiter die Arbeitsteilung in ihr fortschreitet. Je mehr diese entwickelt ist, um so größer die Zahl der Organe, über die die Gesellschaft zur Gewinnung ihres Lebensunterhalts verfügt, um so größer aber auch die Zahl der Organe, die dazu erforderlich sind, und desto unselbständiger die Organe, über die das einzelne Individuum verfügt. Desto größer die Macht der Gesellschaft über die Natur, aber desto hilfloser auch das Individuum außerhalb der Gesellschaft, desto abhängiger von ihr. Die tierische Gesellschaft, die selbst naturwüchsig entstanden ist, hebt ihr Mitglied nicht aus der Natur heraus. Dagegen ist der Mensch in seinem ganzen Wesen von der Gesellschaft abhängig, sie beherrscht ihn, nur durch ihre Eigenart wird seine Eigenart begreiflich. Ihre Eigenart aber ist ein beständiger Entwicklungsprozess gemäß der immer reicheren Entfaltung der Technik, die sich auch nicht aufhalten lässt, sondern sich revolutionär Bahn bricht, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse versteinern, die den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprungen sind.

Wie wandelt sich nun die Kraft der sozialen Triebe, von denen wir sahen, dass sie schon in dem Tierreich tätig sind, in der unablässigen und unaufhaltsamen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft? Mit dieser Frage beschäftigt sich Kautsky im dritten Kapitel. In den Anfängen der Gesellschaft müssen die sozialen Triebe der Tierwelt mit voller Stärke weitergewirkt haben, ja sie haben eine mächtige Stärkung erfahren durch die Gemeinsamkeit der Arbeit, das Zusammenwirken in der Arbeit, das sich in der Sprache ein neues Werkzeug des gesellschaftlichen Verkehrs schuf. Die Entwicklung der Sprache ist gar nicht zu verstehen ohne die Entwicklung der Produktionsweise. Von dieser hängt es auch ab, ob eine Sprache der lokale Dialekt einer kleinen Horde bleibt oder eine Weltsprache wird, die hundert Millionen Menschen sprechen. Und es ist klar, dass mit der Entwicklung der Sprache ein ungemein starkes Werkzeug sozialen Zusammenhalts, eine enorme Verstärkung und ein klareres Bewusstsein der sozialen Triebe gewonnen wird. Dann aber werden die sozialen Triebe gestärkt auch durch das Aufkommen des Kriegs. Der technische Fortschritt entfesselt Kämpfe, die dem Affenmenschen ganz fern lagen, Kämpfe nicht mit Tieren andrer Art, sondern mit Gattungsgenossen selbst. Nichts irrtümlicher als die Ansicht, dass fortschreitende Kultur und steigendes Wissen notwendig auch höhere Humanität mit sich bringen. Man könnte vielmehr sagen, der Affe sei humaner, also menschlicher als der Mensch. Mord und Totschlag an Artgenossen aus ökonomischen Gründen sind Produkte der Kultur, der Waffentechnik. Und an ihre Vervollkommnung wendet die Menschheit heute noch einen großen Teil ihrer geistigen Arbeit.

Zeitigt der Krieg gegenüber dem Feinde Blutgier und Grausamkeit, so erweist er sich auf der andern Seite als ein mächtiges Mittel, den Zusammenhalt innerhalb des Stammes, der Gesellschaft, zu verstärken. Je größer die Gefahren, die dem einzelnen vom Feinde drohen, desto abhängiger fühlt er sich von seiner Gesellschaft, seinem Stamm, seiner Sippe, die allein ihn mit ihren vereinten Kräften zu stützen vermag. Desto größer das gesellschaftliche Ansehen, das die Tugenden der Aufopferung und der Tapferkeit gewinnen, die das Leben für die Gesellschaft wagen. Je blutiger die Kriege zwischen Horde und Horde, desto mehr wirkt aber auch das System der Auslese unter ihnen, und jene Horden müssen sich am ehesten behaupten, die nicht bloß die stärksten, sondern auch die klügsten, die tapfersten, opferwilligsten und diszipliniertesten Mitglieder aufweisen. So wirkt der Krieg in jenen primitiven Zeiten auf den verschiedensten Wegen dahin, die sozialen Triebe in den Menschen zu stärken.

Allein der Krieg ändert im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung seine Formen. Er stärkt die sozialen Triebe nicht mehr, sondern schwächt sie, sobald die technische Entwicklung zum Privateigentum, zur Scheidung der Gesellschaft in gegensätzliche Klassen mit besonderem Eigentum führt, sobald der Krieg zu einer besonderen Angelegenheit der herrschenden Klassen wird und damit aufhört, in der Volksmasse eine Schule sozialer Empfindungen zu sein. Geradezu mörderisch wirkt der Konkurrenzkampf auf die sozialen Triebe ein, sobald er durch die immer schroffere Entwicklung des Privateigentums zum Regulator des gesellschaftlichen Zusammenarbeitens geworden ist. In diesem Kampfe behauptet sich jeder um so eher, je weniger er sich von sozialen Rücksichten leiten lässt, je ausschließlicher er sein eigenes Interesse ins Auge fasst. Für den Menschen der entwickelten Warenproduktion liegt es denn auch nahe, im Egoismus den einzigen natürlichen Trieb im Menschen zu sehen und die sozialen Triebe entweder als einen raffinierten Egoismus oder als eine Erfindung von Pfaffen zur Beherrschung der Menschen oder als ein übernatürliches Mysterium zu betrachten. Wenn in der heutigen Gesellschaft die sozialen Triebe noch einige Kraft bewahrt haben, so ist es nur dem zu danken, dass die allgemeine Warenproduktion noch eine junge Erscheinung ist, kaum hundert Jahre alt, und dass in dem Maße, wie der urwüchsige demokratische Kommunismus verschwindet und damit auch der Krieg aufhört, eine Quelle sozialer Triebe zu sein, eine neue Quelle dieser Triebe um so reicher fließt, der Klassenkampf aufstrebender, ausgebeuteter Volksklassen, ein Krieg, der nicht von Söldnern, nicht von Zwangsheeren, sondern von Freiwilligen, nicht für fremde Interessen, sondern für die Interessen der eigenen Klasse geführt wird.

Das vierte Kapitel beschäftigt sich dann mit dem Geltungsbereich der sozialen Triebe. Die herkömmliche Ethik erblickt in dem Sittengesetze die Kraft, die das Verhältnis des Menschen zum Menschen regelt. Da sie vom Individuum, nicht von der Gesellschaft ausgeht, übersieht sie vollständig, dass das Sittengesetz nicht den Verkehr des Menschen mit jedem andern Menschen regelt, sondern bloß den Verkehr des Menschen mit Menschen der gleichen Gesellschaft. Dass es nur für diese gilt, wird begreiflich, wenn man sich den Ursprung der sozialen Triebe vergegenwärtigt. Allein, wenn das Sittengesetz nur für Mitglieder der eigenen Gesellschaft gilt, so ist deren Umfang doch keineswegs ein für allemal gegeben. Er wächst vielmehr in dem Maße, wie die Arbeitsteilung fortschreitet, die Produktivität der menschlichen Arbeit wächst sowie die Mittel des Menschenverkehrs sich vervollkommnen. Schon im Altertum bildete das römische Reich für alle Länder um das Mittelmeer herum einen internationalen Kreis, worin die nationalen Unterschiede ausgelöscht waren. Auf diesem Boden erwuchs jene sittliche Anschauung, die schon das Christentum aussprach – aber sehr voreilig, so dass es sie nicht zu verwirklichen vermochte und sie für die Masse der Christen bloße Phrase blieb –, die Anschauung von der Gleichheit aller Menschen, die Anschauung, dass die sozialen Triebe, die sittlichen Tugenden allen Menschen gegenüber in gleicher Weise zu betätigen seien. Wenn es das Kapital ist, das die materielle Grundlage einer allgemein menschlichen Moral schafft, so schafft es sie doch nur dadurch, dass es diese Moral ununterbrochen mit Füssen tritt.

Dieselbe ökonomische Entwicklung, die den Kreis der Gesellschaft erweitert, innerhalb dessen die sozialen Triebe und Tugenden gelten, engt ihren Wirkungskreis wieder ein durch die immer schroffere Klasseneinteilung. Je mehr sich die Gesellschaft zerklüftet, je mehr der Klassenkampf die allgemeinste, dauerndste, vornehmste Form für den Daseinskampf der Individuen in der menschlichen Gesellschaft wird, in demselben Maße verlieren die sozialen Triebe gegenüber der Gesamtgesellschaft an Kraft, werden sie aber nur um so kräftiger innerhalb der Klasse, deren Wohl für die Masse der Individuen nur immer identischer wird mit dem Gesamtwohl, und es sind namentlich die ausgebeuteten, unterdrückten, aufstrebenden Klassen, in denen der Klassenkampf die sozialen Triebe in solcher Weise stärkt.

Endlich schafft die ökonomische Entwicklung auch einen besonderen moralischen Faktor, der in der Tierwelt gar nicht existiert, den wandelbarsten von allen, der nicht nur in seiner Kraft und seinem Geltungsbereich, sondern auch in seinem Inhalt den stärksten Veränderungen unterworfen ist. Es sind die Satzungen der Moral, die Kautsky in seinem fünften und letzten Kapitel behandelt. Wir können auch hier nicht auf die feinen Einzelheiten eingehen, worin Kautsky untersucht, wie sich die moralischen Satzungen als Unterbau der Produktionsweise mit dieser umwälzen. Genug, im Widerspruch mit der stagnierenden Moral der herrschenden Klasse entwickelt sich das sittliche Ideal in den ausgebeuteten und unterdrückten Klassen. Es wird immer tiefer, je mehr diese Klassen an Kraft gewinnen, und in demselben Maße wächst in ihnen die Begeisterung dafür. Allein, das sittliche Ideal, sosehr es eine starke Kraft, eine unentbehrliche Waffe des proletarischen Klassenkampfes ist, kann niemals sein Leitstern werden. Denn es entspringt nicht aus irgendeiner tiefen wissenschaftlichen Erkenntnis des gesellschaftlichen Organismus, der den Urhebern des Ideals vielfach ganz unbekannt ist, sondern aus einem tiefen gesellschaftlichen Bedürfnis, einem heißen Sehnen, einem energischen Wollen nach etwas anderm als dem Bestehenden, nach etwas, was das Gegenteil des Bestehenden ist. Und so ist auch das sittliche Ideal im Grunde nur etwas rein Negatives, nichts als der Gegensatz zur herrschenden Sittlichkeit. Die Arbeiterklasse kann das sittliche Ideal nicht entbehren, aber nicht aus ihm, sondern nur aus der wissenschaftlichen Erkenntnis kann sie die Grundsätze und Regeln schöpfen, nach denen ihr Befreiungskampf bis zum endlichen Siege geführt werden muss.

Nicht eine Herabsetzung des sittlichen Ideals bezweckt Kautsky; er weiß seine historische Bedeutung schärfer und tiefer zu würdigen, als es in allem qualmenden Wortschwall bürgerlicher Ethik nur immer gewürdigt worden ist oder gewürdigt werden kann. Er will ihm nur den richtigen Platz anweisen oder vielmehr seinen richtigen Platz im Emanzipationskampfe des Proletariats historisch abgrenzen. Kautsky hat damit eine so dankbare wie notwendige Aufgabe gelöst, denn es sind wahrlich nicht die schlechtesten Elemente der Arbeiterklasse, deren starkes sittliches Empfinden sie nicht immer gehörig zwischen der ökonomischen Tatsache und der ethischen Phrase unterscheiden lässt. Kautsky selbst hebt hervor, dass auch Marx mitunter bei seiner wissenschaftlichen Forschung das Wirken eines sittlichen Ideals spüren lässt; im Sozialismus ist der Forscher stets auch ein Kämpfer, und der Mensch lässt sich nicht künstlich in zwei Teile zerschneiden, von denen der eine mit dem andern nichts zu tun hat.

Aber umso verdienstlicher ist das Bemühen Kautskys, auf diesem Gebiete klare Grenzlinien zu ziehen. Wir empfehlen seine gedankenreiche Schrift, die zu dem besten gehört, was er je geschrieben hat, noch einmal dringlich unsern Lesern.

1 Im Sommer und Herbst 1905 wandte sich der marxistische Flügel in der Sozialdemokratie scharf gegen den verschwommenen, mit dem Revisionismus liebäugelnden Kurs, den das Zentralorgan der Partei, der „Vorwärts", unter Leitung des damaligen Chefredakteurs Kurt Eisner eingeschlagen hatte. Karl Kautsky — damals noch Marxist — beteiligte sich maßgeblich an den Auseinandersetzungen gegen den ethisch gefärbten Gefühlssozialismus Eisners.

2 Irrtum Mehrings oder des Setzers? Soll vielleicht erneut „Sittengesetz“ oder „sozialistisches Sittengesetz“ heißen. Jedenfalls ist nicht Bismarcks Sozialistengesetz (1878-1890) gemeint

3 Es ist richtig, dass wir die Keimformen des Denkens bereits im Tierreich finden. Aber das Denken selbst entwickelt sich erst mit der Sprache, also in der menschlichen Gesellschaft.

4 Mehring referiert hier zustimmend den Gedankengang Karl Kautskys, der nicht frei ist von einer mechanischen Übertragung der Erscheinungen im Tierreich auf die menschliche Gesellschaft. Die sittlichen Triebe im Tierreich können nicht gleichgesetzt werden mit der menschlichen Moral, auch dort nicht, wo deren Keime in das Tierreich zurückreichen. Die moralischen Verhaltensweisen in der menschlichen Gesellschaft sind durch die jahrtausendelange gesellschaftliche Entwicklung des Menschen geformt worden, und ihre jeweilige historische Ausprägung wird bestimmt durch die konkrete gesellschaftliche Ordnung.

Kommentare