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Franz Mehring 18950605 Stoeckers Zwilling

Franz Mehring: Stoeckers Zwilling

5. Juni 1895

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Zweiter Band, S. 321-324. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 131-136]

Von den drei nicht sowohl Lehrern als Predigern des Materialismus in den fünfziger Jahren sind Jakob Moleschott und Karl Vogt nicht lange nacheinander gestorben, während Ludwig Büchner als Vorsitzender des Freidenkerbundes Dinge treibt, die für seinen wissenschaftlichen Ruf ärger sind, als der Tod für sein physisches Leben sein könnte. Der Freidenkerbund, an dessen Spitze er steht, hatte gegen die Umsturzvorlage einen Protest erlassen, der, wie viel das immer sagen will, selbst unter den bürgerlichen Protesten durch seine klägliche Zerfahrenheit peinlich auffiel. Als nun auf einer neulichen Zusammenkunft des Bundes einige seiner Mitglieder sich darüber beschwerten, stellte sich heraus, dass Herr Ludwig Büchner an der Form des Protestes die Schuld trug. Und mehr noch! Als jene Mitglieder eine Resolution einbrachten, die der Wiederkehr ähnlicher Blamagen zu begegnen bestimmt war, erklärte Herr Büchner, dass er den Vorsitz niederlegen würde, falls diese Resolution angenommen werden sollte. Und alsbald knickte alle Kraft des berühmten Bundes zusammen. Um seinen Vorsitzenden zu ehren, begnügte er sich mit einem schwachköpfigen Proteste gegen das schwachköpfige Verhalten seines Vorstandes in Sachen der Umsturzvorlage.

Herr Büchner ist damit allerdings nur auf einem Wege fortgeschritten, den er längst betreten hatte. Vor einigen Jahren veröffentlichte er eine Schrift von etwa sieben Druckbogen über zwei gekrönte Freidenker, „ein Bild aus der Vergangenheit als Spiegel für die Gegenwart". Der eine dieser gekrönten Freidenker war irgendein orientalischer Sultan, um den wir uns hier nicht weiter kümmern wollen; der andere aber König Friedrich II. von Preußen, dem man, wie Herr Büchner preislich sagte, „den Beinamen des Großen oder Einzigen gegeben hat". Herr Büchner beklagte, dass man diesen „freidenkerischen König", diesen „vollkommenen Freigeist und Freidenker", „viel zu sehr" vergessen habe, und er beeiferte sich deshalb, sein Bild zu erneuern. Dass der alte Fritz „vergessen" sei, kann man nun eigentlich kaum behaupten; im Gegenteil wird mit der friderizianischen Legende ein so ohrzerreißender Lärm gemacht, dass eine sehr stark ausgebildete Taubheit dazu gehört, nichts davon zu vernehmen. Indessen, in seiner besonderen Weise hat Herr Büchner doch wohl recht. Friedrichs „Freidenkerschaft" ist allerdings „vergessen", nicht oder doch nicht allein, weil christliche Frömmigkeit am preußischen Hofe herrscht, sondern auch aus dem besseren Grunde, weil sich selbst die loyalen preußischen Historiker schämen, einen der ärgsten Volksverdummer, einen der boshaftesten Despoten, der mit den raffiniertesten Mitteln alles freie Denken in seinen Staaten auszurotten versuchte, wegen seines „freien Denkens" zu feiern. Vielleicht erklärt sich übrigens Herrn Büchners zarte Stellung zur Umsturzvorlage daraus, dass dieses gewaltige Eselsohr namentlich auch in seiner klerikalisierten Zustutzung die Schul- und Zensurinstruktionen des „gekrönten Freidenkers" getreulich widertönte.

Die Verherrlichung eines der gemeingefährlichsten Despoten ergänzte Herr Büchner durch dies oder jenes Traktätchen gegen die Sozialdemokratie, durch gesellschafts- und staatsretterische Beweisführungen, die durchaus geeignet waren, Herrn Eugen Richter in den Ruf eines geistreichen Originals zu bringen. Weshalb er sich aber all diesem anstrengenden Geistesringen unterzog, das sagte er unverhohlen in seiner Schrift über die gekrönten Freidenker. Er will das „Freidenkertum" wieder auf einen grünen Zweig bringen. Im achtzehnten Jahrhundert war es – so meint Herr Büchner – mächtig, angesehen und in den höchsten Kreisen der Gesellschaft allgemein verbreitet; heute liegt die Sache gerade umgekehrt. Sogar der Name eines „Freidenkers" ist heutzutage verpönt oder ein Gegenstand des Spottes. Diesem für ihn betrübenden Zustand der Dinge will Herr Büchner durch seinen Freidenkerbund abhelfen, und Pamphlete gegen die Sozialdemokratie, Lobhudeleien auf den Heros der preußischen Geschichte, Wiederaufmunterung der ältesten, von der preußischen Legende selbst längst auf den Kehrichthaufen geworfenen Schnurren über den alten Fritz erscheinen ihm als der geeignetste Weg, um das „Freidenkertum" wieder „mächtig, angesehen und in den höchsten Kreisen der Gesellschaft allgemein verbreitet" zu machen.

Unseres Erachtens hätte aber ein so profunder Historiker, wie Herr Büchner ist, das Ding etwas gründlicher überlegen müssen, ehe er es praktisch in die Hand nahm. Sein und Moleschotts und Vogts Materialismus verhält sich zu dem Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts wie das vermanteuffelte Spießbürgertum der fünfziger Jahre zu der bürgerlichen Klasse, welche die große französische Revolution machte. Hieraus erklärt sich zur Genüge, weshalb der eine ein so mächtiges Ansehen in der Geschichte gewonnen hat, während der andere zum „Gegenstande des Spottes" geworden ist. Über diese beiden Arten von Materialismus lässt sich dasselbe sagen, was Lassalle einmal über die französischen Nationalversammlungen der Revolutionszeit und die preußische Kammer von 1863 mit den Worten sagte: „Die französischen Nationalversammlungen vereinigten in sich alles Genie und allen Geist Frankreichs … Nicht ein Gedanke ist nachweisbar in der gesamten Literatur und Philosophie jener Periode, welcher nicht den Puls dieser Versammlungen bewegt, den Gegenstand ihrer Verwirklichungsarbeit gebildet hätte! Sie standen auf der höchsten theoretischen Höhe ihrer Zeit… Sie aber, meine Herren, setzen Ihre Ehre gerade dahinein, nicht auf der theoretischen Höhe zu stehen, Sie setzen das Praktische gerade dahinein, nichts zu wollen und zu erstreben, was nicht dem Gedankenniveau des letzten Spießbürgers im Lande entspräche." Der historische Materialismus, derjenige Materialismus, der auf der theoretischen Höhe der Zeit stand, war in den vierziger Jahren durch Marx und Engels begründet worden; sie hatten den bleibenden Gehalt des deutschen Idealismus in den Materialismus aufgenommen wie einst Kant den bleibenden Gehalt des französischen Materialismus in den Idealismus. Der spießbürgerliche Materialismus der fünfziger Jahre aber fiel nicht nur hinter den deutschen Idealismus, sondern selbst auf eine verhältnismäßig frühe Anfangsstufe des französischen Materialismus zurück. Er kitzelte die aufwuchernde Bourgeoisie, die ihre politischen Ideale längst in den Schornstein gehängt hatte, aber an dem industriell-naturwissenschaftlichen Fortschritte ihre helle Freude hatte, zum Nachtische mit materialistischen Kraftphrasen, wie Lamettrie den alten Fritz mit ebensolchen Phrasen zum Nachtische gekitzelt hatte. Wie großartig musste sich der satte Mastbürger noch in seinem geheimen Gemache vorkommen, wenn Karl Vogt ihn versicherte: die Gedanken stehen in demselben Verhältnis zu dem Gehirn, wie der Urin zu den Nieren!


Es ist anzuerkennen, dass Herr Ludwig Büchner damals unter seinen Genossen noch der verhältnismäßig tiefste Denker war. Er bekundete eine schwärmerische Begeisterung für den Fortschritt der Menschheit und eine Art ästhetischen Ekels vor Vogts Renommistereien. Wir rechnen es ihm, da schließlich niemand aus seiner Haut heraus kann, keineswegs zum Vorwurfe an, dass er sich mit Lassalle nicht anzufreunden vermochte. Im Gegenteil heben wir ausdrücklich hervor, dass Büchner auch in dieser Beziehung sich über seine Genossen erhob: er hielt sich wenigstens zu den politisch radikalen Elementen des Bürgertums und stand darin über Moleschott, der sich um Politik überhaupt nicht kümmerte, und vollends über Vogt, der sich im Laufe eines kurzen Jahrzehnts vom deutschen Reichsregenten zum bonapartistischen Geheimagenten mauserte. Gerade aber weil Herr Büchner seine Sache am ernsthaftesten und am ehesten noch mit philosophischem Bemühen führte, ist er am tiefsten in die Tinte gekommen und hat die ganze Unzulänglichkeit des Materialismus, der in den fünfziger Jahren den deutschen Philister entzückte, am klarsten offenbart.

Bei Lichte besehen kam dieser Materialismus nämlich auch da, wo er wirklich etwas zu leisten versuchte, um einen oder selbst zwei Posttage zu spät. Ging er um die politischen und sozialen Probleme herum, wie die Katze um den heißen Brei, so wollte er wenigstens mit dem „Köhlerglauben" der Religion aufräumen, so wollte er von einer „doppelten Buchführung" zwischen Glauben und Wissen nichts hören. Erstens hatte nun aber schon der deutsche Idealismus mit der Religion in ihren gröberen oder feineren Formen reinen Tisch gemacht, und gegen Feuerbachs „Wesen des Christentums" kamen die Materialisten der fünfziger Jahre nicht auf. Sie verstanden nicht einmal, wie namentlich auch Büchner nicht, die philosophischen Begriffe richtig zu unterscheiden, und halfen sich in dieser Verlegenheit damit, dass sie alle Philosophie, die nicht sofort von jedem Gebildeten – will sagen: jedem Bourgeois – begriffen werden könne, zum Teufel wünschten. Zweitens aber – und ebendeshalb, weil sie den Idealismus überhaupt nicht verstanden – wussten sie auch nicht den sterblichen Punkt der Religion zu treffen. Sie stolperten über das Denken, wie der Idealismus über das Sein gestolpert war. Vogt mochte jene Kraftphrase vom Verhältnis zwischen Gedanke und Gehirn hinschleudern und in dieser saftigen Prahlhanserei sein Genüge finden; Büchner aber, der die Dinge ernsthafter nahm, landete in dem längst versandeten Hafen der urältesten Kirchenväter.

Indem er jene Kraftphrase Vogts zurückwies, sagte er selbst, Kraft und Stoff seien unzertrennlich, aber doch begrifflich sehr weit auseinandergehend, „ja in gewissem Sinne einander geradezu negierend". Und weiter: „Wenigstens wüssten wir nicht, wie man Geist, Kraft, als etwas anderes denn als Immaterielles, an sich die Materie Ausschließendes oder ihr Entgegengesetztes definieren wolle." Damit war aber der ganze Dualismus des Christentums anerkannt, wie schon Albert Lange gegen Büchner eingewandt hat. Dass Kraft und Stoff unzertrennlich verbunden sind, ist für die sichtbare und greifbare Natur hinlänglich bewiesen. Wenn aber die Kraft etwas ihrem Wesen nach Übersinnliches ist, warum soll sie nicht in einer Welt, welche unsere Sinne nicht zu fassen vermögen, für sich oder in Verbindung mit immateriellen Substanzen existieren? Auf diesen Einwand Langes hat Büchner in den späteren Auflagen von „Kraft und Stoff" nichts zu erwidern gewusst, als dass er die kompromittierliche Stelle einfach wegließ, womit jedenfalls nichts bewiesen war.

Im Anschluss an seinen Einwand sagt Lange, man könne hier wieder einmal deutlich sehen, wie wenig die Hoffnung berechtigt sei, dass die bloße Verbreitung der materialistischen Naturauffassung samt allen sie stützenden Kenntnissen jemals genügen werde, religiöse oder abergläubige Meinungen auszurotten, zu denen der Mensch aus Gründen hinneige, die tiefer wurzelten als in seiner theoretischen Ansicht von den Naturdingen. Als Lange so schrieb, wusste er nicht, dass die Frage, wie Religionen entstehen und vergehen, vom historischen Materialismus bereits beantwortet war; darin aber machte er gegenüber dem Materialismus der fünfziger Jahre einen großen Fortschritt, dass er – bis auf Kant rückwärts oder vielmehr vorwärts ging.1 Ein theoretischer Fortschritt, der sich in der praktischen Tatsache widerspiegelte, dass Lange ein aufrichtiger Freund der arbeitenden Klassen war und mit tiefer Sympathie ihren Emanzipationskampf begleitete, auf den Vogt mit lästerndem Abscheu und Büchner selbst in seiner besseren Zeit mit geheimem Grauen blickte.

Je kräftiger sich die revolutionäre Arbeiterbewegung und mit ihr der proletarische Materialismus entwickelte, umso mehr pfiff das von vornherein schwindsüchtige Geschöpf des spießbürgerlichen Materialismus auf dem letzten Loche. Der Freidenkerbund des Herrn Büchner ist heute nichts anderes als ein Zwilling von der christlich-sozialen Partei des Herrn Stoecker. Beide suchen die arbeitenden Klassen durch ideologische Flausen über ihre praktischen Interessen hinwegzutäuschen. Mit welchem Maße von gutem oder schlechtem Glauben, das ist für das praktische Urteil über diese wunderbaren Gebilde ganz gleichgültig. In ihren ökonomischen Forderungen gleichen sie sich merkwürdig. Staatliche Alters- und Unfallversicherung wie Reform des Erbrechts steht in Büchners wie in Stoeckers Programm; was beide nicht wollen, ist die selbsttätige Bewegung des Proletariats. Worin sie sich unterscheiden, das sind Farbenspielereien auf dem Grundton der bürgerlichen Gesellschaft. Ja, wenn Büchner durch die Abschaffung der Bodenrente dem Junkertum, Stoecker aber durch den Normalarbeitstag der Bourgeoisie eins versetzen will, so ist man fast noch versucht, zum Stoecker zu gehen. Denn er stellt doch eine Forderung, die, wie ehrlich oder wie unehrlich er sie meinen mag, auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft durchführbar ist und wirklich im Interesse der arbeitenden Klassen liegt, während die Abschaffung der Bodenrente in der bürgerlichen Gesellschaft erstens ein himmelblaues Ideal darstellt, und zweitens, wenn sie möglich wäre, zur Konzentrierung ihrer Unterdrückungsmittel führen müsste.

Noch in einer anderen Beziehung zeigt sich Stoecker praktischer als sein Zwilling: in der Beantwortung der Frage nämlich, wie man heute „in den höchsten Kreisen der Gesellschaft mächtig und angesehen werden" könne. Büchner hält sich zu diesem Behufe an die materialistischen Kapriolen, die sich der „Philosoph von Sanssouci" zum Dessert von seinen Hofnarren schneiden ließ, während Stoecker sich an die gewaltsamen Verdummungsmittel klammert, durch die „Friedrich der Große oder der Einzige" dem Volke die Religion erhielt. Wir glauben wirklich, dass der brave Stoecker die schärfere Witterung hat, und das ist auch ganz gut so: der Freidenkerbund hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn er zu einem „Gegenstand des Spottes" geworden ist.

1 Das Zurückgehen auf Kant war kein historischer Fortschritt. Der Neukantianismus war seiner sozialen Funktion nach eine Reaktion auf den stürmischen Siegeszug des Marxismus in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Er richtete sich vor allem gegen die wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse und gegen die materialistischen Grundlagen der Naturwissenschaft. Der Optimismus des Wissens und der Wissenschaft, das Vertrauen in die menschliche Erkenntnisfähigkeit, durch die Entwicklung der Naturwissenschaft gefördert, waren zu einer machtvollen Waffe der Arbeiterbewegung und zu einer geistigen Gefahr für die Klasseninteressen der Bourgeoisie geworden. Die Neukantianer der achtziger und neunziger Jahre knüpften - bewusst oder unbewusst - an das Kantsche Wort an: das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu bekommen. Auch nach seiner ethisch-sozialen Seite hin war das Neukantianertum eine bürgerliche Antwort auf das Wachstum der marxistischen Arbeiterbewegung. Mit der Ethik Kants sollte der Arbeiterbewegung die revolutionäre Spitze genommen und der Geist des Reformismus gestärkt werden.

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