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Franz Mehring 18910700 Zur Philosophie und Poesie des Kapitalismus

Franz Mehring: Zur Philosophie und Poesie des Kapitalismus

1891

[Franz Mehring: Kapital und Presse, Berlin 1891, S. 119-127. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 156-163]

[…] Nietzsche ist nicht, wie Herrn Lindaus „Nord und Süd" glauben machen will, der „Sozialphilosoph der Aristokratie", sondern der Sozialphilosoph des Kapitalismus. Es gehört zu den bedeutungsvollsten Erscheinungen der deutschen Geschichte, dass zwar die arbeitenden, aber leider nicht die bürgerlichen Klassen ihren geistigen Zusammenhang mit dem klassischen Zeitalter der deutschen Bildung zu bewahren gewusst haben. Wenn diese Bildung in Hegels Philosophie ihren höchsten, zusammenfassenden Ausdruck fand, so sind deren revolutionäre Elemente in Lassalle und noch weit schärfer in Engels und Marx zur klarsten Entwicklung gelangt, während die konservativen Elemente derselben Philosophie eine ebenbürtige Ausbildung vielleicht nicht finden konnten und jedenfalls nicht gefunden haben. Das Jahr 1848 war der Sündenfall, welcher den herrschenden Klassen die Augen öffnete über den Pferdefuß der „Preußischen Staatsreligion", zu welcher das Missverständnis des Satzes: „Alles was wirklich ist, ist vernünftig, und alles was vernünftig ist, ist wirklich", die Philosophie Hegels in den dreißiger und vierziger Jahren gemacht hatte. Man warf sie als altes Eisen beiseite, unbekümmert darum, ob ihr revolutionärer Rückschlag dadurch nicht vielleicht nur umso empfindlicher werden würde, und man warf sich selbst in die Arme Schopenhauers, der als Philosoph des Renten beziehenden Spießbürgertums, das sei' Ruh' haben will, einen dreißigjährigen Schimpfkrieg gegen Hegel geführt hatte und in der duckmäuserigen und katzenjämmerlichen Stimmung, welche die bürgerlichen Klassen nach 1848 ergriffen hatte, endlich das heißersehnte Verständnis seiner duckmäuserigen und katzenjämmerlichen, obzwar in ihrer Art mitunter ganz amüsanten Philosophie fand. An Schopenhauer aber bildete sich Nietzsche heran, ein treuer Schüler sowohl im Schimpfen auf Hegel als auch im bourgeoisen Klassenbewusstsein, nur dass er, gemäß dem Fortschritte der Zeiten, nicht mehr die spießbürgerliche Rente, sondern das ausbeutende Großkapital mit seinen Lorbeeren umkränzte.*

Es ist nun vollkommen richtig: In seiner Schrift „Jenseits von Gut und Böse" macht Nietzsche eine gewisse Wendung zu Hegel zurück. Er spricht darin nicht nur von Schopenhauers „unintelligenter Wut auf Hegel", welche es „dahin gebracht habe, die ganze letzte Generation von Deutschen aus dem Zusammenhange mit der deutschen Kultur herauszubrechen", sondern Titel wie Inhalt dieser Schrift klingen auch mannigfach an Hegels Worte an: „Man glaubt etwas sehr Großes zu sagen, wenn man sagt: der Mensch ist von Natur gut, aber man vergisst, dass man etwas weit Größeres sagt mit den Worten: der Mensch ist von Natur böse." Und Nietzsche tritt denn auch – ohne Hegel zu zitieren – Hegels Gedanken, dass gerade die schlechten Leidenschaften des Menschen, wie Habsucht und Herrschsucht, zu Hebeln der geschichtlichen Entwicklung werden, mit ermüdender Weitschweifigkeit breit; er tut so, als ob ihm damit eine noch nie gemachte Entdeckung in „diesem ungeheuren fast noch neuen Reiche gefährlicher Erkenntnisse" gelungen sei, und man kann kaum den nötigen philosophischen Ernst bewahren, wenn er an die feierliche Aufstellung eines seit Hegel zum Gemeinplatze gewordenen Satzes die Apostrophe knüpft: „Ist man einmal mit seinem Schiffe hierher verschlagen, nun! wohlan! jetzt tüchtig die Zähne zusammengebissen! die Augen aufgemacht! die Hand fest am Steuer! – wir fahren geradewegs über die Moral weg; wir erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unseren eigenen Rest Moralität, indem wir dorthin unsere Fahrt machen und wagen, – aber was liegt an uns!" Allerdings nicht viel, wenn „wir" solche philosophische Kapriolen schneiden über Dinge, welche „wir" entweder nicht verstehen können oder nicht verstehen wollen.

Denn jenes „Böse", in welchem Hegel die Triebkraft der geschichtlichen Entwickelung erblickte, hat nach seiner dialektischen Methode mit ihrer konservativen und revolutionären Seite noch einen zweiten Sinn. Er meint damit auch, dass jeder neue Fortschritt auftritt als ein Frevel gegen ein Heiliges, als Rebellion gegen die alten, absterbenden, aber durch die Gewohnheit geheiligten Zustände. Weil Nietzsche den Gedanken von Hegel nicht zu Ende denken konnte oder wollte, nennt er die Französische Revolution, von welcher Hegel stets mit hoher Begeisterung sprach, eine „schauerliche und, aus der Nähe beurteilt, überflüssige Posse" und schimpft er die revolutionären Denker, welche die dialektische Methode Hegels erst fruchtbar gemacht haben, indem sie dieselbe aus der Region des unfindbaren „absoluten Geistes" auf das Gebiet der ökonomischen Zustände überleiteten, eine „sehr enge, eingefangene, an Ketten gelegte Art von Geistern, welche ungefähr das Gegenteil von dem wollen, was in unsern Absichten und Instinkten liegt", – vermutlich! – „fälschlich genannte ,freie Geister', beredte und schreibfingrige Sklaven des demokratischen Geschmacks", „unfrei und zum Lachen oberflächlich, vor allem mit ihrem Grundhange, in den Formen der bisherigen alten Gesellschaft ungefähr die Ursache für alles menschliche Elend und Missraten zu sehen: wobei die Wahrheit glücklich auf den Kopf zu stehen kommt". Es gehört in dieselbe Reihe der tragikomischen Purzelbäume, aus denen die Philosophie Nietzsches besteht, wenn er das Christentum befehdet, nicht wegen des Missbrauchs kirchlicher Formen für weltliche Habsuchts- und Herrschsuchtszwecke – das ist ihm vielmehr der einzige, wahre Zweck der Religion –, sondern wegen der „Herdentiermoral", mit welcher das Christentum die Nächstenliebe als die höchste menschliche Tugend hingestellt hat.

Die dialektische Methode Hegels zerstörte alle festen Begriffe; ihr konservativer Charakter bestand darin, dass sie die Berechtigung gewisser Erkenntnis- und Gesellschaftsstufen je nach Zeit und Umständen anerkannte, aber ihr revolutionärer Charakter fasste die geschichtliche Entwicklung als einen ununterbrochenen Prozess des Werdens und Vergehens auf, in welchem sich trotz aller scheinbaren Zufälligkeiten und zeitweiliger Rückschläge doch eine fortschreitende Entwickelung vom Niederen zum Höheren vollzieht. Sie kannte deshalb sowenig eine endgültige und vollkommene Moral wie einen endgültigen und vollkommenen Staat. Die Moral war ihr auch nur das Erzeugnis des historischen Geistes, und die Begriffe „gut" und „böse" galten für sie nicht absolut, sondern relativ. Aber ein „Absolutes" kannte Hegel doch, nämlich den „absoluten Geist" seines Systems, den geheimen und unsichtbaren Leiter seines weltgeschichtlichen Prozesses von Werden und Vergehen, wodurch er sich die Konsequenzen seiner Denkmethode versperrte. Diese Konsequenzen zogen erst Engels und Marx, indem sie dem „absoluten Geiste" den Laufpass gaben und indem sie fanden, dass die wirklichen Dinge nicht die Abbilder unserer Begriffe, sondern vielmehr unsere Begriffe nur die Abbilder der wirklichen Dinge sind, mit anderen Worten, dass die Menschen erst essen, trinken und wohnen müssen, ehe sie denken und dichten können. Damit verschwinden, wie die „absoluten Wahrheiten" aus der Philosophie, der Politik usw., auch die für alle Völker und alle Zeiten gültigen Vorschriften aus der Moral; es gibt keine absolut gültige Moraltheorie mehr, sondern nur noch relative Moralsysteme, die sich je nach den ökonomischen Lebensbedingungen der einzelnen Völker und der einzelnen Klassen sehr verschieden gestalten. Ein Unterschied, der sich übrigens in so heftigen Klassenkämpfen, wie sie heute herrschen, jeden Tag an den merkwürdigsten Proben von „Klassenmoral" mit Händen greifen lässt.

Aus der Relativität der Moral, welche im Keime schon bei Hegel vorhanden ist, folgert Nietzsche nun aber nicht, wie Engels und Marx, die historische Bedingtheit der Moral, sondern die unbedingte Nichtigkeit jeder Moral. Er kommt zu diesem Schlusse durch die einseitige Auffassung des „Bösen", welches nach Hegel die Triebfeder der geschichtlichen Entwicklung ist. Er sieht nur in Neid, Hass, Habsucht, Herrschsucht lebenzeugende Affekte, das „Grundsätzliche und Grundwesentliche" im Gesamthaushalte der Geschichte, und wenn diese Affekte „böse" genannt werden, so ist das nur der „pöbelmännischen Feindschaft gegen alles Bevorrechtigte und Selbstherrliche" geschuldet, wie es eine unverschämte Selbstüberhebung des „Herdentieres" Mensch ist, die ihm bequemen Eigenschaften: Mitleiden, Aufopferungsfähigkeit, Hingebung usw. „gut" zu nennen. Nietzsche kennt zwar auch einen Klassenkampf und eine ihm entsprechende „Herren-" und „Sklavenmoral", aber er kennt ihn nicht als einen dialektischen Prozess der Weltgeschichte, in welchem sich eine Entwicklung von Niederem zu Höherem vollzieht, sondern als ein unerschütterliches und unverrückbares Naturgesetz. In diesem Kampfe besitzen die Herrscher und Unterdrücker, die „freien Geister", immer die Macht und also auch das Recht, während die Beherrschten und Unterdrückten, das „Herdenvieh", immer zur Ohnmacht und also auch zum Unrecht verurteilt sind. Die einzige und wirkliche Moral ist für Nietzsche die „Lehre von den Herrschaftsverhältnissen", aus denen das geschichtliche Leben entsteht: in diese Moral die „moralischen" Begriffe von „gut" und „böse" eingeschmuggelt zu haben ist nur ein verschmitzter Schabernack, durch den sich das „Herdentier" an den „freien Geistern" zu rächen sucht und durch den es freilich – siehe beispielsweise das Christentum! – gräulichen Unfug in der Geschichte angestiftet hat. Aber die Zeiten des Wahns schwinden dahin, und die „Philosophen der Zukunft" kommen herauf, die „freien", die „sehr freien", die „feinen" und „vornehmen Geister". Sie stehen „jenseits von gut und böse".

Begreiflicherweise ist der Gedankeninhalt dieser anmutigen und erhebenden Philosophie ein sehr dürftiger, und um überhaupt zu einer Art von „Weltanschauung" ausgereckt zu werden, bedarf er einer Unmasse ideologischen Aufputzes. Nach Wegsäuberung desselben ergeben sich etwa folgende Hauptsätze, die ich der Schrift „Jenseits von Gut und Böse" entnehme:

Wo das Volk isst und trinkt, selbst wo es verehrt, da pflegt es zu stinken. Man soll nicht in Kirchen gehen, wenn man reine Luft atmen will." S. 42.

Es hilft nichts: man muss die Gefühle der Hingebung, der Aufopferung für den Nächsten, die ganze Selbstentäußerungsmoral erbarmungslos zur Rede stellen und vor Gericht führen … Es ist viel zu viel Zauber und Zucker in jenen Gefühlen des ,für andere', des ,nicht für mich', als dass man nicht nötig hätte, hier doppelt misstrauisch zu werden und zu fragen: ,sind es nicht vielleicht – Verführungen?' Seien wir also vorsichtig! …" S. 45.

Der Philosoph, wie wir ihn verstehen, wir freien Geister,… wird sich der Religionen zu seinem Züchtungs- und Erziehungswerke bedienen, wie er sich der heutigen politischen und wirtschaftlichen Zustände bedienen wird. – Für die Starken, Unabhängigen, zum Befehlen Vorbereiteten und Vorbestimmten, in denen die Vernunft und Kunst einer regierenden Rasse leibhaft wird, ist Religion ein Mittel mehr, um Widerstände zu überwinden, um herrschen zu können: als ein Band, das Herrscher und Untertanen gemeinsam bindet und die Gewissen der letzteren, ihr Verborgenstes und Innerlichstes, das sich gerne dem Gehorsam entziehen möchte, den ersteren verrät und überantwortet… Zuletzt freilich, um solchen Religionen auch die schlimme Gegenrechnung zu machen und ihre unheimliche Gefährlichkeit ans Licht zu stellen: – es bezahlt sich immer teuer und fürchterlich, wenn Religionen nicht als Züchtungs- und Erziehungsmittel in der Hand des Philosophen, sondern von sich aus und souverän walten, wenn sie selber nur letzte Zwecke und nicht Mittel neben andern Mitteln sein wollen…" S. 77 ff.

Die seltsame Beschränktheit der menschlichen Entwicklung beruht darauf, dass der Herdeninstinkt des Gehorsams am besten und auf Kosten der Kunst des Befehlens vererbt wird. Denkt man sich diesen Instinkt einmal bis zu seinen letzten Ausschweifungen schreitend, so fehlen endlich geradezu die Befehlshaber und Unabhängigen, oder sie leiden innerlich am schlechten Gewissen und haben nötig, sich selbst erst eine Täuschung vorzumachen, um befehlen zu können: nämlich als ob auch sie nur gehorchten. Dieser Zustand besteht heute tatsächlich in Europa: ich nenne ihn die moralische Heuchelei der Befehlenden. Sie wissen sich nicht anders vor ihrem schlechten Gewissen zu schützen als dadurch, dass sie sich als Ausführer älterer oder höherer Befehle gebärden (der Vorfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder gar Gottes) oder selbst von der Herdendenkweise her sich Herdenmaximen borgen, zum Beispiele als ,erste Diener ihres Volkes' oder als ‚Werkzeuge des gemeinen Wohls'. Auf der andern Seite gibt sich heute der Herdenmensch in Europa das Ansehen, als sei er die einzig erlaubte Art Mensch, und verherrlicht seine Eigenschaften, vermöge deren er zahm, verträglich und der Herde nützlich ist, als die eigentlich menschlichen Tugenden, also Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht, Fleiß, Mäßigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht…" S. 119 ff.

Moral ist heut in Europa Herdentiermoral… Ja, mit Hilfe einer Religion, welche den sublimsten Herdentierbegierden zu Willen war und schmeichelte, ist es dahin gekommen, dass wir selbst in den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen einen immer sichtbareren Ausdruck dieser Moral finden: die demokratische Bewegung macht die Erbschaft der christlichen. Dass aber deren Tempo für die Ungeduldigeren, für die Kranken und Süchtigen des genannten Instinkts noch viel zu langsam und schläfrig ist, dafür spricht das immer rasender werdende Geheul, das immer unverhülltere Zähnefletschen der Anarchistenhunde, welche jetzt durch die Gassen der europäischen Kultur schweifen: anscheinend im Gegensatze zu den friedlich-arbeitsamen Demokraten und Revolutionsideologen, noch mehr zu den tölpelhaften Philosophastern und Brüderschafts-Schwärmern, welche sich Sozialisten nennen und die ,Freie Gesellschaft' wollen, in Wahrheit aber eines mit ihnen allen in der gründlichen und instinktiven Feindseligkeit gegen jede andere Gesellschaftsform, als die der autonomen Herde (bis hinauf zur Ablehnung selbst der Begriffe ‚Herr' und ‚Knecht') – ni dieu ni maître heißt eine sozialistische Formel…" S. 125 f.

Korruption ist, je nach dem Lebensgebilde, an dem sie sich zeigt, etwas Grundverschiedenes. Wenn zum Beispiele eine Aristokratie wie die Frankreichs am Anfange der Revolution mit einem sublimen Ekel ihre Privilegien wegwirft und sich selbst einer Ausschweifung ihres moralischen Gefühls zum Opfer bringt, so ist dies Korruption. Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist, dass sie mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen …" S. 226.

Hier muss man gründlich auf den Grund denken und sich aller empfindsamen Schwächlichkeit erwehren: Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung, aber wozu sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen, denen von alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist? … In keinem Punkte ist aber das gemeine Bewusstsein der Europäer widerwilliger gegen Belehrung als hier; man schwärmt jetzt überall, unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen der Gesellschaft, denen der ‚ausbeuterische Charakter' abgehen soll: – das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfinden verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte …" S. 227 f.

Auf die Gefahr hin, unschuldige Ohren missvergnügt zu machen, stelle ich hin: der Egoismus gehört zum Wesen der vornehmen Seele, ich meine jenen unverrückbaren Glauben, dass einem Wesen, wie ,wir sind', andere Wesen von Natur Untertan sein müssen und sich ihm zu opfern haben. Die vornehme Seele nimmt diesen Tatbestand ihres Egoismus ohne jedes Fragezeichen hin, auch ohne ein Gefühl von Härte, Zwang, Willkür darin, vielmehr wie etwas, das im Urgesetz der Dinge begründet sein mag. – Suchte sie nach einem Namen dafür, so würde sie sagen: ,es ist die Gerechtigkeit selbst'."

In so lapidaren Sätzen schreibt Nietzsche die Philosophie des – Kapitalismus. Rein als geistiges Erzeugnis betrachtet, ist seine Geschichtsauffassung eine brutale und geistlose Rohheit, welche durch die „geistreich" glitzernde Sprache nur umso widerwärtiger durchscheint, dabei voller Unklarheit und Widersprüche – man beachte nur, wie Nietzsche den Begriffen „gut" und „böse" mit dem „guten" und „schlechten" Gewissen zu Leibe geht! – und selbst bei den bescheidenen Ansprüchen, die sie überhaupt nur erheben kann, nicht einmal originell. Karl Marx hat in seinem „Kapital" eine ganze Reihe von seltsamen Käuzen ans Tageslicht gezogen, welche in England die Philosophie des Kapitalismus vor einem halben Jahrhundert und noch früher genauso geschrieben haben, wie sie Nietzsche in seinem „Jenseits von Gut und Böse" schreibt. Wenn Nietzsche die christliche Religion – soweit sie nicht Mittel für weltliche Herrschaftszwecke sein, sondern „souverän" walten will – für „fürchterlich" erachtet, weil sie den „Überschuss von Missratenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, notwendig Leidenden" am Leben zu erhalten sucht, so hat „Pfaffe Townsend" – siehe das „Kapital" I, 634 – mit ein bisschen anderen Worten dasselbe gesagt, indem er dem englischen Armengesetze vorwarf, es strebe, „die Harmonie und Schönheit, die Symmetrie und Ordnung dieses Systems, welches Gott und die Natur in der Welt errichtet haben, zu zerstören".1 Man wende nicht ein, dass Nietzsche dem kapitalistischen Getriebe immer fern stand, dass er in seiner Weise ehrlich um Wahrheit rang, dass er gewissermaßen die höchste Höhe des geistigsten Geistes erklimmen wollte, dass er sich nur in der Einsamkeit des Hochgebirges wohl fühlte und dass ihm jede Gemeinschaft mit Menschen „gemein" war. Alles das beweist nur, wie sehr der Kapitalismus unser geistiges Leben schon zersetzt hat, und die materialistische Geschichtsauffassung von Engels und Marx feiert wieder einmal einen ihrer Triumphe, wenn eine Philosophie, welche nur in fesselloser Ätherhöhe atmen will und die Bedingungen des wirklichen Lebens missachtet, in die Materie zurück plumpst gerade da, wo sie am ekelhaftesten und unsaubersten ist. Und ebendeshalb ist jenes „Jenseits von Gut und Böse", welches philosophisch und wissenschaftlich nicht die Tinte wert ist, mit welcher es niedergeschrieben wird, sozialpolitisch von hoher, systematischer Bedeutung. Dieser Kampf gegen die Moral ist tatsächlich die Begründung einer neuen Moral. Der rote Faden, der durch all die Widersprüche von Nietzsche läuft, ist der Versuch, die Klassenmoral des Kapitalismus auf der heutigen Stufe seiner Entwicklung zu entdecken und die Bande zu zersprengen, welche die Klassenmoralen seiner früheren Entwicklungsstufen, die kleinbürgerliche Ehrbarkeit und die großbürgerliche Respektabilität, ihm noch anlegen. […]

* Über den inneren Zusammenhang zwischen Hegels Philosophie und der heutigen Arbeiterbewegung vergleiche Friedrich Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie", Stuttgart 1888; über Schopenhauer Karl Kautskys Abhandlungen in der „Neuen Zeit", Februar- und Märzheft von 1888.

Ein Bourgeoisschriftsteller, der als solcher ein Verehrer von Schopenhauer und ein Gönner von Nietzsche war, aber der mit den ersten, entscheidenden Eindrücken seiner geistigen Bildung bis vor 1848 zurückreichte, nämlich Karl Hillebrand, schreibt in seinen „Zeiten, Völkern und Menschen" II, 354 über eine Erstlingsschrift Nietzsches trotz allen sonstigen Lobes, dass „Herr Nietzsche weit über sein Ziel hinausschießt und sich der schreiendsten Ungerechtigkeit gegen den deutschen Gedanken, namentlich gegen den einflussreichsten Repräsentanten desselben, Hegel, schuldig macht. Seine Absicht ist offenbar die beste, aber um sich mit Erfolg gegen die Herrschaft der Autorität aufzulehnen, muss man selbst nicht so vollständig unter der infallibeln Autorität des Meisters stehen, wie es mit ihm, Schopenhauer gegenüber, der Fall ist. Nicht einsehen wollen, dass Hegel eigentlich den Grundgedanken der deutschen Bildung in ein System gebracht – folglich auch zuweilen ad absurdum getrieben –, heißt entweder die geistige Entwicklung Deutschlands von Herder bis auf Feuerbach ignorieren oder Deutschlands Beitrag zur europäischen Zivilisation als wertlos darstellen!"

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