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Franz Mehring 19090730 Zurück auf Schopenhauer!

Franz Mehring: Zurück auf Schopenhauer!

30. Juli 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Zweiter Band. S. 625-628. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 152-155]

Seit zwanzig Jahren, seitdem Kautsky zur hundertsten Wiederkehr von Schopenhauers Geburtstag einen umfangreichen Aufsatz veröffentlichte, ist in der „Neuen Zeit" stets sehr abfällig über diesen Philosophen geurteilt worden, es sei denn, dass gelegentlich seine vernünftigen Ansichten über die abgeschmackte Barbarei des Duells in zustimmendem Sinne angezogen wurden.

Bei dieser ablehnenden Stellung zu Schopenhauer wird es auch wohl in der Zukunft bleiben, denn es ist so undenkbar wie unmöglich, dass, wer immer in Reih und Glied des proletarischen Klassenkampfes steht, anders als mit sozusagen leidenschaftlicher Abneigung auf das Lebenswerk des Mannes blicken wird, der unter den Philistern ein Philosoph war, aber ein Philister unter den Philosophen. Gerade in der Leidenschaftlichkeit dieser Abneigung liegt aber doch auch eine gewisse Anerkennung für Schopenhauer; man ärgert sich an keinem unbedeutenden Gegner. Und es gibt sogar ein Gebiet, wo man den Alten von Zeit zu Zeit gern hören mag, ja wo man gut tut, ihn oft und oft zu genießen als meisterhaften Beherrscher der deutschen Sprache. Es ist vielleicht etwas übertrieben ausgedrückt, wenn Karl Hillebrand von Schopenhauer schreibt: „Die Proprietät der Ausdrücke, die Fülle der schönen Gleichnisse, die durchsichtige An- und Unterordnung der Gedanken, die Leichtigkeit und Korrektheit des Satzbaus, die Farbe und das Leben dieses Stils sind beinahe einzig in unserer Literatur", aber sicherlich gehört Schopenhauer zu den größten Prosaikern der deutschen Sprache, und an solchen Prosaikern sind wir nicht so überreich, als dass wir ihn ganz zum alten Eisen werfen dürften, weil seine Ideen uns aufs äußerste widerstreben. Und wo immer heute der nebelhafte Jargon der Hegelschen Schule wieder auftaucht, darf man mit Recht sagen: Zurück auf Schopenhauer!

Allein auch in anderer Beziehung ist dieser Ruf recht zeitgemäß geworden, seitdem sich die revisionistische Gedankenwelt zu entfalten begonnen hat. Schopenhauer war immerhin, wie wegwerfend man sonst über ihn urteilen mag, ein philosophischer Denker, der die Geschichte der Philosophie durch und durch kannte und auf ihrem Gebiet reinliche Grenzen zu ziehen vermochte. Wie oft mussten wir in den letzten Jahren an ihn denken, wenn das unklarste Gerede über Determinismus oder Indeterminismus produziert wurde, um dem historischen Materialismus eins auszuwischen! Sicherlich könnte man Schopenhauer, der als richtiger Philister den Philister seiner Zeit für den Menschen hielt, der immer dagewesen ist und immer da sein wird, und der demgemäß jede historische Entwicklung leugnete, gegen die materialistische Geschichtsauffassung mobil machen, aber wenn man seine Autorität in diesem Punkte aus triftigen Gründen verschmäht, so sollte man sie wenigstens da anerkennen, wo Schopenhauer eine Autorität ist, so namentlich in der Frage des Determinismus oder Indeterminismus.

Schopenhauer hat diese Frage nicht zuerst entschieden, und er selbst führt in seiner Abhandlung über die Freiheit des menschlichen Willens eine lange Reihe von Vorläufern an, aber er hat sie so anschaulich und klar gelöst, wie schwerlich einer vor ihm. Um die herkömmliche Redensart: Ich kann tun, was ich will, zu beleuchten, stellt Schopenhauer einen Menschen vor, der, etwa auf der Gasse stehend, zu sich sagte: „Es ist sechs Uhr abends, die Tagesarbeit ist beendigt. Ich kann jetzt einen Spaziergang machen, oder ich kann in den Klub gehen; oder ich kann auch auf den Turm steigen, die Sonne untergehen zu sehen; ich kann auch ins Theater gehen; ich kann auch diesen oder jenen Freund besuchen; ja ich kann auch zum Tore hinauslaufen, in die weite Welt, und nie wiederkommen. Das alles steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; tue jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe ebenso freiwillig nach Hause, zu meiner Frau." Das ist, meint nun Schopenhauer, gerade so, als ob das Wasser spräche: „Ich kann hohe Wellen schlagen (ja! nämlich im Meere und Sturm), ich kann reißend hinab eilen (ja! nämlich im Bette des Stromes), ich kann schäumend und sprudelnd hinunterstürzen (ja! nämlich im Wasserfall), ich kann frei als Strahl in die Luft steigen (ja! nämlich im Springbrunnen), ich kann endlich gar verkochen und verschwinden (ja! bei achtzig Grad Wärme); tue jedoch von dem allen jetzt nichts, sondern bleibe freiwillig, ruhig und klar im spiegelnden Teiche." Und so schließt Schopenhauer: „Wie das Wasser jenes alles nur dann kann, wenn die bestimmenden Ursachen zum einen oder anderen eintreten, ebenso kann jener Mensch, was er zu können wähnt, nicht anders als unter derselben Bedingung. Bis die Ursachen eintreten, ist es ihm unmöglich; dann aber muss er es, so gut wie das Wasser, sobald es in die entsprechenden Umstände versetzt ist… Denken wir uns, jener Mensch bemerke, dass ich hinter ihm stehe, über ihn philosophiere und seine Freiheit zu allen jenen ihm möglichen Handlungen abstreite, so könnte es leicht geschehen, dass er, um mich zu widerlegen, eine davon ausführte: dann wäre aber gerade mein Leugnen und dessen Wirkung auf seinen Widerspruchsgeist das ihn dazu nötigende Motiv gewesen. Jedoch würde derselbe ihn nur zu einer oder der anderen von den leichteren unter den oben angeführten Handlungen bewegen können, zum Beispiel ins Theater zu gehen; aber keineswegs zur letztgenannten, nämlich in die weite Welt zu laufen, dazu wäre dies Motiv viel zu schwach."

Dies ist nur eine kleine Probe der überaus einleuchtenden Art, in der Schopenhauer über die Freiheit des menschlichen Willens zu handeln versteht. Die ganze Abhandlung ist sehr lesenswert und kaum minder die andere Abhandlung, mit der sie Schopenhauer unter dem Gesamttitel „Die beiden Grundprobleme der Ethik" zusammengefasst hat: nämlich über das Fundament der Moral. In ihr räumt Schopenhauer gründlich auf mit der Ethik Kants, die uns heute ja auch mit aller Gewalt als eine unanfechtbare Weisheit aufgeredet werden soll. Ihren engherzig-kleinbürgerlichen Charakter hat Schopenhauer freilich nicht erkannt; dazu befand er sich mit seinem Meister Kant zu sehr in der gleichen Verdammnis. Aber ihren theologischen Ursprung und ihr ganzes Quidproquo1, das er kurzweg mit einem Taschenspielerstreich vergleicht, hat Schopenhauer vortrefflich nachgewiesen. Er meint, dass Kant als der Erfinder der Sache sich dabei beruhigt habe, sei recht und notwendig gewesen. „Aber nun sehen zu müssen, wie auf dem von ihm gelegten und seitdem immer breiter getretenen Ruhepolster jetzt sogar die Esel sich wälzen – das ist hart: ich meine die täglichen Kompendienschreiber, die mit der gelassenen Zuversicht des Unverstandes meinen, die Ethik begründet zu haben, wenn sie sich nur auf jenes unserer Vernunft angeblich einwohnende Sittengesetz berufen und dann getrost jenes weitschweifige und konfuse Phrasengewebe darauf setzen, mit dem sie die klarsten und einfachsten Verhältnisse des Lebens verständlich zu machen verstehen." Von dem kategorischen Imperativ Kants sagte Schopenhauer: „Die Fassung der Ethik in einer imperativen Form, als Pflichtenlehre, und das Denken des moralischen Wertes oder Unwertes menschlicher Handlungen als Erfüllung oder Verletzung von Pflichten, stammt, mitsamt dem Sollen, unleugbar nur aus der theologischen Moral und demnächst aus dem Dekalog. Demgemäß beruht sie wesentlich auf der Voraussetzung der Abhängigkeit des Menschen von einem anderen, ihm gebietenden und Belohnung oder Strafe ankündigenden Willen und ist davon nicht zu trennen. So ausgemacht die Voraussetzung eines solchen in der Theologie ist, sowenig darf sie stillschweigend und ohne weiteres in die philosophische Moral gezogen werden." So aber verfuhr Kant; seine Moral beruht auf den versteckten theologischen Voraussetzungen und ist im Wesen der Sache nichts als die alte wohlbekannte theologische Moral.

Schopenhauer tat einen entschiedenen Schritt über Kant hinaus, indem er das Mitleid für das Fundament der Moral erklärte. Seinem Ursprung nach ist es ihm freilich ein geheimnisvoller Vorgang im Menschen; Schopenhauers unsoziales Denken hinderte ihn, die sozialen Triebe zu erkennen, in denen die Moral wurzelt. Hätte er sie aber erkannt, so wäre er der allerletzte gewesen, ihre Anfänge schon in der Tierwelt zu bestreiten. Als den festesten und sichersten Bürgen für das sittliche Wohlverhalten erklärt er grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen, und er führt seitenlang aus, dass darunter auch die Tiere einbegriffen werden müssten. Die vermeintliche Rechtlosigkeit der Tiere sei geradezu eine empörende Barbarei und Rohheit. „Man muss wahrlich an allen Sinnen blind sein, um nicht zu erkennen, dass das Wesentliche und Hauptsächliche im Tiere und Menschen dasselbe ist und dass, was beide unterscheidet, nicht im Primären, im Prinzip, im inneren Wesen, im Kern beider Erscheinungen liegt, sondern allein im Sekundären, im Intellekt, im Grade der Erkenntniskraft, der beim Menschen durch das hinzugekommene Vermögen abstrakter Erkenntnis, genannt Vernunft, ein ungleich höherer ist, jedoch erweislich nur vermöge einer größeren, zerebralen Entwicklung, also der somatischen Verschiedenheit eines einzigen Teiles, des Gehirns, und namentlich seiner Quantität nach. Hingegen ist das Gleichartige zwischen Tier und Mensch, sowohl psychisch als somatisch, ohne allen Vergleich mehr. So einem okzidentalischen, judaisierten Tierverächter und Vernunftidolater muss man in Erinnerung bringen, dass wie Er von seiner Mutter, so auch der Hund von der seinigen gesäugt worden ist." Man sieht daraus, dass Schopenhauer, wenn er überhaupt fähig gewesen wäre, den sozialen Ursprung der Moral zu erkennen, bereitwillig den „Affen als Erzieher" anerkannt haben würde; den Universitätsprofessor als Erzieher hat er freilich hundertmal in Grund und Boden verflucht. – Summa Summarum: das Zurückmarschieren auf Kant ist eine so höchst konfuse und philiströse Sache, dass ihr gegenüber selbst der Ruf: Zurück auf Schopenhauer! schon beinahe wie ein revolutionärer Trompetenstoß klingt.

1 Quidproquo - eines für das andere, Verwechselung.

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