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Franz Mehring 19090319 Philosophieren und Philosophie

Franz Mehring: Philosophieren und Philosophie

19. März 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 921-925. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 401-406]

Von dem hundertsten Jahre und Tage, da Karl Marx das Licht der Welt erblickte, trennt uns nahezu noch ein Jahrzehnt, aber die Freunde seiner Jugend, die ihn zu ihrer Zeit in die Hegelsche Philosophie eingeführt haben, sind in den Jahren 1808 und 1809 geboren, und wenn ihrer die Nachwelt noch gedächte, so würden wir ihre hundertsten Geburtstage eben gefeiert haben oder demnächst feiern.

Nun gedenkt ihrer die Nachwelt freilich nicht mehr, und daraus kann man ihr auch keinen allzu großen Vorwurf machen, selbst wenn man mit anschlägt, wie sehr die Jahrhundert- und selbst Halbjahrhundertfeiern zur literarischen Mode geworden sind. Jene Junghegelianer, in deren Mitte Karl Marx zum philosophischen Selbstbewusstsein erwachte, sind, mit einer Ausnahme etwa, nicht ohne Grund vergessen und verschollen, und diese eine Ausnahme bestätigt nur die Regel, zumal, da Bruno Bauer als revolutionärer Philosoph auch aus dem Gedächtnis der Menschen geschwunden sein würde, wenn er nicht ein historisches Problem von großer Wichtigkeit entscheidend gefördert hätte.

Selten in der Geschichte ist ein gleich kühner Anlauf unternommen worden wie von diesen Freien, die die Menschheit von dem zwei tausendjährigen Alp des Christentums und damit überhaupt von jedem Alp der Unterdrückung zu befreien gedachten, aber nie ist ein gleich kühner Anlauf gleich elend gescheitert. Was soll man etwa von jenem Rutenberg sagen, der als dreißigjähriger Mann den jungen Karl Marx in die Hegelsche Philosophie einführte und dann mit ihm an der „Rheinischen Zeitung" arbeitete, der zehn Jahre später mit dem braven Philister Zabel die „Nationalzeitung" gründete und wieder zwanzig Jahre später, ein sechzigjähriger Mann, als Redakteur des königlich preußischen „Staatsanzeigers" selig entschlief?

Wäre er der einzige gewesen, so könnte man sagen: für das eine räudige Schaf sei die Herde nicht verantwortlich gewesen. Aber alle diese Junghegelianer haben ein mehr oder minder trauriges Ende genommen, nicht weil sie persönlich schlechte Kerle waren, sondern weil die „Idee" sie narrte, in der sie nach Hegels Vorbild die Leiterin der historischen Entwicklung sahen. Bruno Bauer ist zum Mitarbeiter der „Kreuz-Zeitung" und der „Post" geworden, nicht aus persönlichem Eigennutz oder sonst unlauteren Beweggründen. Auch in dieser Stellung blieb er stolz auf seine ehrenwerte Armut. Als der Siebzigjährige eine Sammlung seiner in der „Post" veröffentlichten Artikel an einen Jugendfreund sandte, schrieb er dazu: „Nun könnten Sie doch auch wissen wollen, wie es mir sonst geht – oder der Autor der beiliegenden Scharteken müsste doch auch sagen, was er sonst noch daneben Wichtigeres macht. Kurz, er ist ein Zinsensklave. Er hat in der noch billigen Zeit 1865 sechs Morgen Land gekauft, aus dem Grund und Boden den Lehm zu Wirtschaftsgebäuden genommen und gebrannt, sein Bruder, der frühere Buchhändler, bebaut den Garten, ihm fehlt aber alle Heiterkeit und Sammlung dazu, und ich muss seit 1865 die aufgenommenen Kapitalien und sonstiges verzinsen und wie ein Riese arbeiten. Die Geduld des Riesen ist aber jetzt daran, ein Ende zu finden." Und wenige Jahre darauf brach der alte Mann zusammen.

So ist die Hegelsche Philosophie nicht an den Junghegelianern umgekommen, sondern umgekehrt diese an der Hegelschen Philosophie. Was Marx und Engels gerettet hat, war ihr völliger Bruch mit dem alten, verwelkten und verwitweten Weibe, das seinen „zur widerlichsten Abstraktion ausgedörrten Leib schminkt und aufputzt und in ganz Deutschland nach einem Freier umher schielt"1. Von der Philosophie behielten sie allein die dialektische Methode bei, die Hegel selbst von der altgriechischen Philosophie übernommen hatte und die Marx und Engels vom Kopfe auf die Füße stellten, aber der „Seelenführerin" Idee und ähnlichen Chosen gaben sie den endgültigen Abschied. Ihre Stellung hat Engels später in den Satz zusammengefasst: „Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehen bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen – die formelle Logik und die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte."2

Sehen wir ganz davon ab, wie weit sie selbst es auf diesem Wege gebracht haben, so hat die Geschichte ihnen darin recht gegeben, dass seit den Tagen des „Kommunistischen Manifestes" und der Revolution von 1848 die Philosophie nicht im entferntesten mehr die historische Entwicklung der deutschen Nation beeinflusst, es sei denn, dass sie als fünftes Rad am Wagen der Reaktion geknarrt hat. Wir sehen dabei wieder ganz von den staatlich angestellten und bezahlten Philosophieprofessoren ab, die natürlich tun müssen, was ihres Amtes ist, das heißt die herrschenden Klassen verherrlichen. Aber auch diejenigen Philosophen, denen man in ihrer Weise nicht abstreiten kann, selbständige Köpfe gewesen zu sein, sind immer nur hinter dem rollenden Wagen der Geschichte scheltend einher getrabt. Es sei nur an Schopenhauer, an Eduard v. Hartmann, an Nietzsche erinnert. Man mag gern zugeben, dass Schopenhauer ein geistreicher Mann und Nietzsche ein Stück Poet war, aber wie standen sie zu den großen Fragen, die ihre Zeit bewegten? Schopenhauer räsonierte auf die Revolution von 1848 mit der ganzen Borniertheit des verkümmerten Spießbürgers, Hartmann pries das Sozialistengesetz, und Nietzsche verdonnerte den Sozialismus mit den abgegriffensten Schlagworten der kapitalistischen Ausbeutung, mit Redewendungen, wie sie kaum noch ein Handlungsreisender am Biertisch kolportiert.

Man kann sich keinen schlagenderen Beweis dafür denken, dass es mit der „ganzen bisherigen Philosophie" vorbei ist. Ihr Ruhm, um mit Marx zu sprechen, bestand darin, dass sie die Frucht ihrer Zeit und ihres Volkes war, „dessen subtilste, kostbarste und unsichtbarste Säfte in den philosophischen Ideen roulieren"3, oder man kann von ihr auch sagen, was Lassalle einmal von den Parlamenten der großen französischen Revolution gesagt hat, dass sie immer auf der höchsten theoretischen Höhe ihrer Zeit stand, dass in ihrer Zeit kein Gedanke nachweisbar gewesen sei, der nicht ihren Puls bewegt hätte. Das gilt von dem Holländer Spinoza wie von den Engländern Hobbes und Locke und Hume, wie von den Franzosen Holbach und Helvetius, wie von den Deutschen Kant, Fichte und Hegel. Und damit vergleiche man die Stellung der Schopenhauer, Hartmann und Nietzsche zu allem, was die deutsche Welt in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bewegt hat!

Sicherlich hat sich wohl gegen sie innerhalb der bürgerlichen Klassen eine mehr oder minder starke Opposition erhoben. Doch wusste auch sie nichts Besseres vorzubringen als die Flucht in die Vergangenheit. Erst hieß es: Zurück auf Kant!, und nachdem dieser Ruf so ziemlich verhallt ist, taucht die „Wiedergeburt der Hegelschen Philosophie" auf, was womöglich noch sinnloser ist. Als Friedrich Albert Lange zuerst auf Kant zurückzumarschieren unternahm, wollte er aus dem Nebelmeer der romantischen Begriffsphilosophie auf einen sicheren Boden zurück, und nun, nachdem sich dieser Boden als trügerisch erwiesen hat, soll das Zurücktauchen ins Nebelmeer die einzige Rettung sein.

Lange selbst, wenn er heute noch lebte, würde dieses Zurück vom Zurück! wohl nicht mitmachen. Dazu war er ein zu klarer und logischer Kopf. In seinem Buche über die Arbeiterfrage schildert er einmal selbst, was bei solchem Zurückgehen auf vergangene Ideologien herauskommt; er beweist an den Nachwirkungen der platonischen und aristotelischen Philosophie, wie „gerade Männer von höherer wissenschaftlicher Bildung, die mit ihrem geistigen Dasein in der Überlieferung der Jahrhunderte wurzeln, leicht davor zurückschrecken, auf eine fundamentale Änderung der gesellschaftlichen Zustände bedacht zu sein", mit anderen Worten, politische und soziale Reaktionäre werden. In anderer Weise bewies Lange die Sinnlosigkeit alles Zurückgehens auf vergangene Ideologien durch seine scharfe Kritik desjenigen Materialismus, den die Büchner, Moleschott und Vogt predigten: dieser Materialismus war in der Tat nichts anderes als ein fader Absud des französischen Materialismus, der einst die große französische Revolution vorbereitet hatte.

War je ein Mann dazu geschaffen, die Philosophie im bisherigen Sinne, als die übergreifende Krone aller Wissenschaften, zu retten, so war es Albert Lange. Neben glänzenden Vorzügen des Charakters und des Geistes besaß er namentlich den Blick für die treibenden Kräfte seiner Zeit, der den Schopenhauer, Hartmann und Nietzsche so gänzlich fehlte; gerade dadurch aber ist er ein noch beweiskräftigerer Zeuge dafür geworden, dass alle bisherige Philosophie abgestorben ist und nicht wieder erweckt werden kann. Bei aller treffenden Kritik des philosophischen Idealismus und des philosophischen Materialismus kam Lange nicht über einen „obersten und letzten Zweifel" oder, wie es Dietzgen einmal drastischer ausgedrückt hat, über das „erbärmlichste Zappeln in der metaphysischen Schlinge" hinaus. Ohne dem vortrefflichen Manne, dessen Andenken von der Arbeiterklasse in allen Ehren gehalten zu werden verdient, mit einem anderen Vergleich irgend zu nahe zu treten, so machte ihn sein philosophisches Denken doch zu jenem Hahne, der sich durch einen Kreidestrich über seinem Schnabel am Vorwärtsschreiten gehindert glaubt: obgleich Lange die Schriften von Marx durch und durch kannte, hat er nie eine blasse Ahnung vom historischen Materialismus gehabt; in seiner kritischen Geschichte des Materialismus erwähnt er die materialistische Geschichtsauffassung nicht mit einer Silbe.

Kann nun aber der historische Materialismus, der nur eine historische Methode ist, dem Proletariat die Philosophie ersetzen, immer im bisherigen Sinne des Wortes, als eine allgemeine und geschlossene Weltanschauung, in die alle Ströme der natur- und geisteswissenschaftlichen Forschung münden? Man kommt da mit dem berühmten „metaphysischen Bedürfnis", das irgendwo hinaus wolle, und es lässt sich auch nicht bestreiten, dass ein solches Bedürfnis in den Arbeitermassen vorhanden ist. Keine Frage, dass Arbeiter oft ein merkwürdig tiefes Interesse und Verständnis für philosophische Fragen entwickeln, und gerade ein um so tieferes Interesse und Verständnis, je größer das Elend ist, aus dem sie sich emporzuarbeiten bemüht sind. Und es kann auch nicht bezweifelt werden, dass die Befriedigung dieses Bedürfnisses ein kräftiges und wesentliches Mittel ist, die Arbeiterklasse für die Erfüllung ihrer historischen Aufgaben fähiger und geschickter zu machen.

Aber dies „metaphysische Bedürfnis" hat durchaus keine metaphysischen Wurzeln, und es lässt sich am wenigsten dadurch befriedigen, dass ihm eine neue Philosophie zurecht gebraut wird, sei es auch aus den edelsten und köstlichsten Surrogaten vergangener Philosophien. Es hat durchaus nur historische Wurzeln, aus denen es sich nährt und mit denen es stirbt. Diese Wurzeln sind einerseits der „metaphysische Stoff", womit schon die Gehirne der Proletarierkinder in der Volksschule erdrückt werden, in der brutalen und rohen Form von unverständlichen Bibelsprüchen und Gesangbuchliedern, andererseits die entseelte Form der modernen Massenproduktion, die mechanische Arbeit, die in ihrer ewigen Monotonie den Geist des Arbeiters frei lässt und ihn nun so antreibt, über die Sinnlosigkeit dieses Daseins, das ihm von Kindesbeinen an als Werk überirdischer Mächte eingepaukt worden ist, zu – philosophieren.

Höchst lehrreiche Beiträge zu dieser Frage liefert eine kleine Sammlung von Arbeiterbriefen, die unter dem Titel „Aus der Tiefe" (Morgenverlag, Berlin 1909) erschienen ist. Wir geben einige Proben aus den Briefen eines Bergmanns, der sich aus den tiefsten Tiefen des Proletariats heraufgearbeitet hat: „Frei vom Dogma des diktatorisch fordernden Dualismus, frei vom Servilismus will ich sein. Meine Philosophie ist die Autokratie des Geistes… Ist das Zivilisation, wenn die Intelligenz in physischer Grässlichkeit stirbt? Ist das Humanität, wenn die Seele verhungert? Der nach Schönheit und Kraft lechzende Impuls verdurstet? Ich fordere Remedur von euch! Der Pflug, der Meißel, die Kelle in die nervige Faust, aber diese Faust gehört einem Menschen. Achtet darauf! Die Feder, die Lyra, das Teleskop gehört dem Zyklus des Geistes. Verwehrt's ihnen nicht! Denn bitter rächt sich die unterdrückte Kraft… Das Denken ist innerhalb meines Milieus ein Faktor des Leidens, weil ich durch das Denken eben weiß, wie elend und unglücklich ich bin. Läge noch das Tuch der Unwissenheit über mein geistiges Auge, wahrhaftig, mein Herz fühlte nur halb so sehr das Wehe des irdischen Leids … Ich bin vollständig in der marxistischen Idee aufgegangen, dass gerade das wirtschaftliche Elend die Grundlage der Degenerierung des Volkskörpers so gut wie der Volksseele darstellt und dass erst ein halbwegs sorgenfreies Leben den Menschen zu einer ganzen Persönlichkeit ausreifen lässt. Woher kommt denn sonst der Umstand, dass bisher nur der materiell Sichergestellte, ich will nicht sagen absolut, aber doch vorzugsweise den Zirkel der künstlerischen Elite bildet? Wohingegen manches wertvolle Talent unter dem gemeinen Drucke ökonomischer Kalamität vermodert oder, besser gesagt, eine Embryoleiche bleibt? Der Mensch ist Stoff, ist Materie, auch sein Geist ist nur eine stoffliche Verbindung, und wo die physische Nahrung nur durch die äußerste, alles in Anspruch nehmende Kraft notdürftig zu erringen ist, da fällt das geistbelebende, die Seele befruchtende Element fort. Ein solcher Mensch geht naturgemäß ganz in dem Kampfe um die ordinäre Magenfrage auf, er ist und bleibt, von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, das Tier, dem die geistige Persönlichkeit eine Farce ist. Hier liegt die große schimpfliche Kardinalschuld des heutigen Herrenmenschentums." Es mag an diesen Proben genug sein, so verlockend es wäre, seitenlang diese Bekenntnisse von Arbeitern über ihr „metaphysisches Bedürfnis" abzuschreiben.

Man sieht daraus, dass moderne Arbeiter, auch wenn sie – dank unserer herrlichen Volksschule! – weder grammatikalisch noch orthographisch richtig schreiben können, doch den alten Kant ganz gut verstanden haben. Sie verstehen zu philosophieren, aber von einer Philosophie wollen sie nichts wissen, weder von dem „Dualismus" des philosophischen Idealismus noch von der „ordinären Magenfrage" des philosophischen Materialismus. Worin sie „vollständig aufgehen", das ist die „marxistische Idee", das ist der historische Materialismus, der in der Tat ihre „metaphysischen Bedürfnisse" völlig befriedigen kann, nicht durch eine neue Philosophie, sondern durch eine Geschichte der Philosophie, geschrieben nach der historisch-materialistischen Methode.

In gewissen Beziehungen wäre sie nicht gar so schwer zu schreiben, denn wie Schopenhauer ganz richtig sagt, bewegt sich alle bisherige Philosophie um einige Grundgedanken, die immer wiederkehren. Aber wie sie wiederkehren, aus welchen Gründen, in welcher Form und unter welchen Umständen, das zu schildern würde ein desto größeres wissenschaftliches Rüstzeug erfordern. So werden wir von heute auf morgen noch nicht darauf rechnen dürfen. Aber umso mehr sollten wir uns hüten, philosophische Spekulationen und Spielereien in den proletarischen Klassenkampf zu tragen, dessen „metaphysisches Bedürfnis" in seinem dunklen Drange sich des rechten Weges weit besser bewusst ist.

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