Franz Mehring 19120913 Anhang zu dem Artikel Das restaurierte Preußen

Franz Mehring: Anhang zu dem Artikel Das restaurierte Preußen

13. September 1912

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Zweiter Band, S. 897-899. Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 266-269]

Mein Artikel über das restaurierte Preußen hat einige Leser zu dem Wunsche einer näheren Ausführung über die unverhältnismäßig starke Beteiligung des bürgerlichen Elements an der preußischen Staatsverwaltung veranlasst. Von anderer Seite ist mir dann auch ein Zweifel an der Richtigkeit der Tatsache, namentlich im Hinblick auf den König Friedrich, geäußert worden. Ich möchte deshalb noch folgendes zu meinen Ausführungen über diesen Punkt bemerken.

Im sechzehnten Jahrhundert war bereits Lambrecht Distelmeyer, der Sohn eines Leipziger Schneiders, Kanzler der Kurfürsten Joachim II. und Johann Georg; seinen Bemühungen in erster Linie war die Belehnung der märkischen Hohenzollern mit dem Herzogtum Preußen zu danken. Ungleich stärker tritt das bürgerliche Element dann im siebzehnten Jahrhundert auf. Im Geheimen Staatsrat des sogenannten Großen Kurfürsten saßen an Bürgerlichen Jena, Fuchs, Meinders, Rheetz; Meinders war kur-brandenburgischer Gesandter bei den Friedensverhandlungen in Saint-Germain und dann etwa von 1670 bis 1690 neben Fuchs leitender Minister. Dass unter den immer noch spärlichen Generalen dieses Fürsten sich drei Bauernsöhne befanden, mag nur nebenbei bemerkt sein, da die Offiziersstellen damals noch kein adliges Monopol waren.

Unter dem ersten König waren die leitenden Minister wiederum Bürgerliche: erst Danckelmann, der noch sechs Brüder in hohen Staatsämtern hatte, und dann Kolbe-Wartenberg; auch ist einem bürgerlichen Gesandten, Bartholdi, in Wien der Schacher mit der Königskrone gelungen, nachdem ein adliger Gesandter, der Graf Dohna, damit gescheitert war. Unter dem Nachfolger dieses Königs, unter Friedrich Wilhelm I., begann dann die Kabinettsregierung. Es gab keine leitenden Minister mehr, sondern drei Ministerien, deren jedes mit mehreren Ministern besetzt war: das Generaldirektorium (Inneres, Finanzen, Handel und Gewerbe), Auswärtige Angelegenheiten, Justiz. In der Justiz kam der bürgerliche oder doch frisch geadelte Cocceji empor; die Auswärtigen Angelegenheiten leiteten die bürgerlichen Minister Ilgen und Thulemeyer; unter den fünf Ministern des Generaldirektoriums waren nur zwei adlig (Grumbkow und Görne), drei aber bürgerlich (Creutz, Katsch und Kraut). Nach Grumbkows Tode trat an seine Stelle Boden, in Finanz- und Verwaltungssachen der Vertrauensmann sowohl dieses Königs wie seines Nachfolgers.

Unter dem König Friedrich wurde es allerdings anders, aber doch nur scheinbar. Von zwanzig Ministern, die er während seiner langen Regierungszeit ins Generaldirektorium berufen hat, war nur ein Bürgerlicher. Aber wenn dieser „aufgeklärte Despot" die Junker auch mehr begünstigt hat als irgendein anderer preußischer König, so hielt er doch darauf, sich die „großen Perücken" nicht über den Kopf wachsen zu lassen. Seine adligen Minister sah er nur einmal im Jahre, seine stets bürgerlichen Kabinettssekretäre aber täglich. Am bekanntesten von diesen ist Eichel geworden, von dem schon die Zeitgenossen sagten, dass er es vorzöge, statt selbst Minister zu werden, die Minister vor sich kriechen zu sehen. Der Briefwechsel Eichels mit dem Hauptminister des Auswärtigen, v. Podewils, bestätigt diese Aussage der Zeitgenossen durchaus. Wie der bürgerliche Boden in der ersten, so war der bürgerliche Roden, den der König zum Präsidenten der Oberrechenkammer ernannte, in der zweiten Hälfte seiner Regierung sein Vertrauensmann in Finanz- und Verwaltungssachen. Roden und der ebenfalls bürgerliche Domhardt mussten 1772 den Anteil am polnischen Raube auf preußischen Fuß bringen. Domhardt war lange Jahre zugleich Präsident von nicht weniger als drei Kriegs- und Domänenkammern, die den heutigen Bezirksregierungen entsprachen. Als der König die Justiz zu reformieren suchte, musste der adlige Minister v. Arnim dem bürgerlichen Minister Cocceji weichen. Selbst im Offizierkorps, wo der König das Monopol des Adels am strengsten hütete, war die bürgerliche Intelligenz nicht zu entbehren; um nur einige aus der preußischen Kriegsgeschichte bekanntere Generale zu nennen, so waren Tempelhoff, Wunsch, Günther, Rohdich Bürgerliche.

Unter den Nachfolgern dieses Königs wuchs dann das Geschlecht der bürgerlichen Beamten heran, das an den Reformen nach der Schlacht bei Jena entscheidenden Anteil hatte.

Es sei mir noch eine Bemerkung zu dem Artikel über das restaurierte Preußen gestattet. Ich sage da, dass der Zar Alexander im Frieden von Tilsit den preußischen Staat als russische Brustwehr gerettet habe. Inzwischen sagt Genosse Eisner in einem historischen Aufsatz, der durch mehrere Parteiblätter geht, das gerade Gegenteil. Nach ihm hat Napoleon den preußischen Staat nach Jena nicht aus Gefälligkeit für den Zaren, sondern als Schutzwehr gegen den Zaren erhalten. Genosse Eisner schreibt: „Die Geschichtschreiber, die aristokratisch auf die Macht der Persönlichkeit schwören (womit sie in der Regel die zufällige und gleichgültige monarchische Dutzendware verstehen), vermögen gerade dann nicht in den Menschen vorzudringen, wenn sie wirklich einmal auf eine geniale bewegende Persönlichkeit treffen. Es heißt Napoleon zu einer Possenfigur entwürdigen, wenn man glaubt, in den Lebensfragen seines politischen Systems hätten derlei Gefälligkeitsdienste irgendwie von Einfluss sein können."

Dazu wäre zu bemerken, dass in diesem Falle niemand anders und niemand sonst den französischen Kaiser zu einer Possenfigur entwürdigt hat als er selbst. Bekanntlich sagte er in dem Friedensvertrag von Tilsit, dass er aus Gefälligkeit für den Zaren dem Hohenzollern einen Teil der preußischen Monarchie zurückgegeben habe. Diese Redefloskel haben jedoch selbst die älteren preußischen Historiker nie wörtlich genommen, sondern als einen blutigen Hohn auf ihren geliebten Landesvater; statt dem Zaren dankbar zu sein, haben sie ihm gemeiniglich den Vorwurf der Treulosigkeit gemacht, da er ein Stück der preußischen Beute in seine eigene Tasche steckte. Die neueren preußischen Historiker nun gar sind denn doch nicht so kindisch, wie Genosse Eisner annimmt. Was sie behaupten, ist nur dies: Napoleon habe allerdings die Vernichtung der preußischen Monarchie geplant und die Einwilligung Alexanders zu erlangen gesucht, indem er diesem die polnisch-preußischen Landesteile anbot. Das habe der Zar aber abgelehnt, einmal, weil es ihm bei aller Falschheit doch gegen den Strich gegangen sei, in die gänzliche Entthronung des Hohenzollern zu willigen, nachdem er diesem eben erst in dem Vertrag von Bartenstein die Integrität der preußischen Monarchie verbürgt habe, dann aber – und hauptsächlich –, weil er aus eigenstem Interesse das Vordringen der französischen Herrschaft bis an die Weichsel nicht habe dulden können und wollen.

Da Alexander und Napoleon die entscheidenden Verhandlungen unter vier Augen geführt haben, so lässt sich diese Auffassung der preußischen Historiker nicht streng aktenmäßig beweisen, aber sie wird im höchsten Grade wahrscheinlich gemacht durch mündliche und schriftliche Äußerungen der beiden Souveräne und ihrer Minister. Vor allen Dingen stimmt sie ganz und gar zu der Lage der Dinge selbst. Alexander hätte demnach dieselbe Politik befolgt wie seine Großmutter Katharina, die ebenfalls die preußische Monarchie vernichten und dabei Ostpreußen einsacken konnte, aber aus eigenem Interesse vorzog, Preußen als russischen Vasallenstaat fortbestehen zu lassen, wobei sie, wie ihr Enkel unzweifelhaft wusste, vortreffliche Geschäfte gemacht hat. Jedenfalls ist die Hypothese der preußischen Historiker mindestens ebenso wahrscheinlich, wie die Hypothese des Genossen Eisner unwahrscheinlich ist. Denn wenn Napoleon die preußische Monarchie als Schutzwehr gegen Russland gebrauchen wollte, so wäre es wirklich äußerst genial gewesen, sie erst auf die Hälfte zu reduzieren und diese Hälfte dann jahrelang so auszuplündern und auszusaugen, wie Napoleon sonst keines der von ihm besiegten Länder ausgeplündert und ausgesogen hat.

Die Begeisterung für den „Giganten" Napoleon ist ästhetisch gewiss begreiflicher als die Bewunderung für „die monarchische Dutzendware". Aber historisch und politisch kommt dabei doch nicht mehr heraus. Die Verbrüderung mit dem räuberischen Zarentum bleibt nun einmal Napoleons Sündenfall. Er handelte bei dem Frieden von Tilsit um kein Haar gescheiter als der alte Fritz bei der Westminsterkonvention von 1756. Der preußische König bildete sich ein, England werde seinen Handel mit Russland opfern, um ihm die Russen vom Leibe zu halten, und der französische Kaiser bildete sich ein, Russland werde seinen Handel mit England opfern, um ihm die Besiegung der Engländer zu erleichtern. Der eine büßte seine Torheit mit dem Siebenjährigen Kriege und der russischen Oberherrschaft, der andere mit dem russischen Feldzug und auf St. Helena.

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