Franz Mehring 19120823 Das restaurierte Preußen

Franz Mehring: Das restaurierte Preußen

23. August 1912

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Zweiter Band, S. 758-765. Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 257-265]

Es sind jetzt hundert Jahre verflossen, seitdem das französische Heer – das größte, das die Welt bis dahin gesehen hatte – in den russischen Ebenen verschwunden war und die zivilisierte Welt in atemloser Spannung der Dinge harrte, die da kommen würden. Wenige Monate, und die Kunde von seiner grauenvollen Vernichtung gab das Signal zu der europäischen, Koalition, die endlich, nach so vielen gescheiterten Anläufen, den Sieg über den Erben der großen französischen Revolution davontragen sollte.

Die Erinnerung an diesen Sieg, der für ein Menschenalter ein System der brutalsten Unterdrückung sicherte, ist den legitimen Fürsten nebst allem, was drum und dran hängt, immer teuer gewesen, und sie schicken sich an, die Säkularfeier der sogenannten Freiheitskriege mit dem üblichen Hallo! und Trara! zu feiern. In den bürgerlichen Klassen werden sie auch nicht einmal mehr den schwachen Widerstand finden, auf den sie immerhin vor fünfzig Jahren hier und da in diesen Klassen stießen, die noch nicht ganz vergessen hatten, wie unglaublich schlecht sie mit der „Freiheit" gefahren waren, die auf den Schlachtfeldern bei Leipzig und Waterloo erfochten wurde. Es kam damals wohl vor, dass sich diese oder jene Gemeinde weigerte, auf Regimentsunkosten an dem von oben her befohlenen Tamtam teilzunehmen. Das steht heute freilich nicht mehr zu befürchten. Im Gegenteil haben jetzt schon große Kommunen gewaltige Summen, die sie für wirkliche Kulturbedürfnisse nicht aufzubringen wissen, für den öden Festspektakel ausgeworfen, und wir gehen einer jener byzantinischen Orgien entgegen, an denen die Geschichte des neudeutschen Reiches so reich ist.

Es hieße auch, sich zum Opfer einer Illusion machen, wenn man dadurch etwas zu erreichen glaubte, dass man die historische Wahrheit der Flut der Lügen entgegensetzt, die sich in Festartikeln, Festgedichten und Festreden ergießen wird. Das stört die patentierten Patrioten so wenig, wie sie sich durch den erschütternden Anblick der Invaliden, die auf der Straße vor Hunger sterben, daran hindern lassen, ihren großen Mund aufzureißen über die Herrlichkeit ihrer Gesellschaft von Mammons Gnaden. Kaltblütige Geschäftsleute, wie sie in all ihrem angeblichen Begeisterungstaumel sind, empfinden sie es höchstens als eine Würze ihres schalen Treibens, zu wissen, dass sie sich in eitel Humbug gefallen.

Nicht um ihretwillen also, nicht um ihren nichtigen Festestrubel zu stören, sondern um uns selbst zu verständigen, lohnt es sich, einige kritische Rückblicke auf die Zeit vor hundert Jahren zu werfen. Mag die historische Wahrheit von den herrschenden Klassen auf den Kopf gestellt werden, so ist es doch nicht so ganz einfach, sie wieder auf die Füße zu stellen. Wenn es unzweifelhaft ist, dass Napoleon der Erbe der großen französischen Revolution war, und wenn es ebenso unzweifelhaft ist, dass ihn das verbündete Europa im Zeichen des historischen Rückschritts niederwarf, so liegt die Versuchung zum Napoleonkultus nahe, und manch einer ist ihm unterlegen, nicht nur in den Tagen Heinrich Heines, wo die Sache verständlich genug war, sondern auch in neuerer und neuester Zeit. Das heißt aber auch nur, das Pferd am Schwanze aufzäumen. Denn so gewiss Napoleon ein ganz anderer Mann war, als ihn die patriotische Legende darstellt, so gewiss er ein Löwe war, verglichen mit den russischen, österreichischen und preußischen Schakalen, die ihn endlich niederrissen, so war er doch eben auch nur, um im Bilde zu bleiben, ein Raubtier; gerade wenn man ihn als providentiellen Mann der bürgerlichen Entwicklung auffasst, so verkörperte er deren zweischneidiges Wesen in sich, ihre Missetaten nicht minder als ihre Wohltaten.

Am klarsten tritt dies Verhältnis in seinen Beziehungen zum preußischen Staate hervor. Er hat das alte Preußen bei Jena zertrümmert, und selten ist der gesitteten Menschheit eine größere Wohltat erwiesen worden. Aber an dem verstümmelten und zerstückelten Preußen hat Napoleon dann Missetat über Missetat verübt und sich selbst die Rute gebunden, die ihn am nachdrücklichsten gezüchtigt hat. Das preußische Heer war die stählerne Spitze an dem eisernen Keile der Koalition, die ihn endgültig danieder warf; preußische Generale erwiesen sich, ungleich mehr als die Generale irgendeiner anderen der verbündeten Mächte, als seine ebenbürtigen Schüler; bis aufs Blut ausgesogen, erhob sich die Bevölkerung der altpreußischen Provinzen in einer Art revolutionären Aufschwungs, der sich nicht nur gegen den auswärtigen Feind richtete, sondern ebenso gut gegen den eigenen König, der unter allerhöchstem Heulen und Zähneklappern gewaltsam in den Krieg gerissen wurde. Und dass Männer wie Fichte, Niebuhr, Wilhelm v. Humboldt im preußischen Lager standen, ist ein Beweis mehr und vielleicht der schlagendste von allen gegen die „schlechthinnige" Einschätzung der Kriege von 1813 bis 1815 als historisch reaktionäre Erscheinungen.

Aber dennoch – wie kam es, dass dieselbe Junkerklasse, über die bei Jena ein ebenso furchtbares wie gerechtes Strafgericht ergangen war, zehn Jahre später das Heft wieder so fest in Händen hatte wie jemals vorher? Weshalb war das restaurierte Preußen von 1816 dieselbe Junkerdomäne wie das friderizianische Preußen von 1806? Die Frage ist im Grunde die Frage nach dem geschichtlichen Wesen des preußischen Staates, der heute noch eine Art historischer Anomalie darstellt. So hart der Stoß war, den er durch die Revolution von 1848 erfahren hat, so wurde er doch noch viel härter durch den Frieden von Tilsit getroffen, der ihn völlig über den Haufen warf und ihn sogar vernichtet hätte, wenn diese Absicht Napoleons nicht an dem Widerstand des Zaren gescheitert wäre, der, wie einst seine Großmutter Katharina im Siebenjährigen Kriege, den preußischen Staat als russische Brustwehr gegen den europäischen Westen zu erhalten wünschte.

Um der Frage nach dem historischen Wesen des preußischen Staates wirklich näherzukommen, muss man sich durch einen wahren Urwald von Legenden arbeiten. Und es sind nicht die schlimmsten, vielmehr eher die harmlosesten dieser Legenden, die künstlich in den preußischen Schulen großgezogen werden. Diese Übertünchung der wirklichen Geschichte lässt sich schließlich mit leichter Mühe fortfegen. Unausrottbarer sind die Legenden, die einen im Grunde achtungswerten Ursprung haben und ursprünglich nicht unwürdige Zwecke verfolgten. Von solchen Legenden ist aber, wie ein neuerer preußischer Historiker treffend bemerkt, gerade das Gebiet der „Freiheitskriege" mehr überwuchert als irgendein anderer Teil der preußischen Geschichte. Sollte es einen Gott geben und sollte dieser Gott einmal auf den Einfall geraten sein, an einem einzelnen Individuum die ganze Unvernunft der Monarchie auch dem blödesten Auge klarzumachen, so müsste man ihm das Kompliment machen, an dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. ein wahrhaftes Meisterstück geliefert zu haben. Um diesen Idioten, dem selbst Jena und Tilsit nicht ein dürftiges Licht der Vernunft anzuzünden vermocht hatten, zur Unterschrift ihrer gesetzgeberischen Neuerungen zu bewegen, bedienten sich die preußischen Reformer mit Vorliebe des „historischen Beweises", das heißt, sie spiegelten ihm vor, ihre Reformen seien nichts anderes als die Wiederbelebung altpreußischer Einrichtungen. So haben zum Beispiel Scharnhorst und Genossen das Märlein aufgebracht, nach Machiavelli und Spinoza sei der preußische Nussknackerkönig Friedrich Wilhelm I. der dritte moderne Denker gewesen, der das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht entdeckt und nun – glorreicher als seine beiden Vorläufer – auch gleich in dem Kantonreglement von 1733 als rocher de bronze, als Felsen von Erz, statuiert habe. Dies Kantonreglement hat aber nie existiert, und Friedrich Wilhelm I. war ein so hartnäckiger Verteidiger des Söldnerheeres, dass er die letzten Reste des volkstümlichen Aufgebots, wie sie im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts noch bestanden, mit Stumpf und Stiel ausrottete und sogar den Namen der „Landmiliz" verpönte.

Haben die Scharnhorst und Genossen somit Erkleckliches geleistet in der Fabrikation von Legenden, sei es auch nur, um einen historischen Fortschritt zu erzielen, so sind sie selbst die Opfer von Legenden geworden, die ihnen Absichten und Zwecke unterschoben, von denen sie bei alledem weit entfernt waren. Selbst in sozialdemokratischen Reichstagsreden ist Scharnhorst als Befürworter der Miliz rühmend erwähnt worden, was er freilich in dem Sinne war, dass er die allgemeine Wehrpflicht oder, wie man damals sagte, die „Konskription" dem Söldnerheer vorzog, aber keineswegs in dem Sinne, worin wir von Miliz sprechen oder doch immer sprechen sollten, im Sinne einer allgemeinen Volksbewaffnung. Scharnhorst hat seinen militärischen Ruf zuerst durch seine beredte Verteidigung der stehenden Heere begründet, wie ihn denn Schön bereits einen „großen Liniensoldaten" genannt hat.

Auch diese Legenden haben einen nicht unverächtlichen Ursprung. Sie sind der altpreußischen Demokratie geschuldet, wie sie durch die Waldeck und Ziegler vertreten war; von ihnen nährte sich die Opposition, nachdem die „Freiheitskriege" mit so grausamen Enttäuschungen geendet hatten. Je schnöder und trauriger die Gegenwart war, mit desto helleren Farben malte man sich die Gestalten der besseren Vergangenheit aus; die „Stein-Hardenbergische Gesetzgebung" wurde das glorreiche Gegenstück nicht etwa nur zu dem altpreußischen Staat, sondern auch zur großen französischen Revolution, denn die altpreußische Demokratie war im Grunde militärfromm bis auf die Knochen; ihr Herz war da, wo die preußischen Fahnen wehten, und in der militärischen Disziplin des stehenden Heeres feierte sie die Mutter der Siege. Ihr graute vor der Revolution, und sie schwelgte in dem Gedanken, dass die preußischen Reformen nach 1806 in holdem Frieden und süßer Eintracht vollbracht hätten, was die Französische Revolution nur durch die gewaltsamsten Erschütterungen habe vollbringen können.

Immerhin – der gute Glaube ließ sich diesen altpreußischen Demokraten nicht abstreiten. Als aber ihre Illusionen in der Revolution von 1848 zerstoben waren, begannen die historischen Fälschungen der kleindeutschen Geschichtsbaumeister, die die Geschichte der „Freiheitskriege" mit Vorliebe behandelten, um die „deutsche Mission" des preußischen Staates zu beweisen. Die deutsche Bourgeoisie hatte immerhin so viel aus der Geschichte der Jahre 1848 bis 1850 gelernt, um zu wissen, dass die deutsche Einheit, nach der sie lechzte, nur durch eine Revolution, nur durch die Zertrümmerung des österreichischen und des preußischen Zwangsstaats zu haben war, und so entschloss sie sich, sich mit einem Surrogat zu begnügen, das ihre materiellen Interessen leidlich zu befriedigen versprach, wenn auch nur um den Preis, ihre fortschrittlichen Ideale in den Rauchfang zu schreiben: mit dem verstümmelten Deutschland, das sich unter der preußischen Pickelhaube durch eine Revolution von oben herstellen ließ, ohne die dunklen und unberechenbaren Mächte einer Revolution von unten zu beschwören.

Diesen Tendenzen der Bourgeoisie machte sich eine ganze Schar von Historikern dienstbar: die Droysen, Sybel, Häusser, Bernhardi, Duncker, Freytag, Treitschke und wie viele andere noch. Nicht alle gleich begabt und auch nicht alle gleich unehrlich, haben sie doch im ganzen und großen, ziemlich ein Menschenalter hindurch, vom Anfang der fünfziger bis zum Ende der siebziger Jahre die borussische Legende für die politischen Zwecke der Bourgeoisie zurechtgestutzt und den Hohenzollernstaat als den zuverlässigsten Blutzeugen bürgerlicher Freiheit frisiert. Schließlich ging aber dieser Krug auch nur so lange zum Brunnen, bis er brach. Als Treitschke in seiner „Deutschen Geschichte" den König Friedrich Wilhelm III. zum eigentlichen Helden der „Freiheitskriege" erhob und mit seinem berüchtigten Worte, dass Männer die Geschichte machen, die Hohenzollern als die rettenden Schutzengel der deutschen Nation pries, überschlug sich der Widersinn selbst, und es trat eine heilsame Reaktion ein, indem eine Schule jüngerer Historiker, ohne den bürgerlichen oder auch nur preußischen Standpunkt zu verleugnen, doch die urkundliche Wahrheit nicht mehr eskamotierte, sondern ihr zu ihrem Rechte verhalf.

Namentlich die umfangreichen Biographien Scharnhorsts und Steins, die Max Lehmann herausgegeben hat, enthalten eine Fülle archivalischen Materials, das die bürgerlichen wie die militärischen Reformen nach dem Jahre 1806 in ein helles und klares Licht stellt. Herr Lehmann bemüht sich auch keineswegs, diese oft sehr unbarmherzige Klarheit zu verschleiern. Er legt die Tatsachen wohl in seinem Sinne aus, aber er beugt und färbt sie nicht, geschweige denn, dass er sie fälscht und verheimlicht nach der mehr oder minder raffinierten Methode der kleindeutschen Geschichtsbaumeister. Wenn diese den preußischen Staat als das Werk der Hohenzollern priesen, weiß Herr Lehmann sehr gut, dass von jeher die Junker die„eigentlichen Regenten" dieses Staates gewesen sind, und wenngleich er als preußischer Professor den offiziellen Abscheu gegen den historischen Materialismus hegt, so kommt er ihm doch in seiner geschichtlichen Auffassung oft bedenklich nahe.

Im dritten Bande meiner Nachlassausgabe habe ich – als kritischen Kommentar zu den polnischen Artikeln der „Neuen Rheinischen Zeitung" – einen kurzen Abriss der polnischen Geschichte gegeben, in der ich – an der Hand einer glänzenden, aber leider noch immer ungedruckten Abhandlung der Genossin Luxemburg – als den entscheidenden Grund, der zum Untergang Polens führte, die Monopolisierung des Getreidehandels durch die polnischen Junker nachzuweisen versuchte. Durch diese Monopolisierung wurde die Ansammlung des städtischen Kapitals und damit die Entwicklung des modernen Staates unterbunden. Eine ganz analoge Erscheinung zeigt nun Lehmann im preußischen Staate auf. In Anknüpfung an die bekannte Entwicklung, die im sechzehnten Jahrhundert aus dem adligen Ritter einen getreideproduzierenden Landwirt machte, schreibt er: „Die Erträgnisse ihrer Wirtschaft hätten sie (die Junker) von Rechts wegen auf den Markt des Nährstandes, der Städte, bringen müssen. Indessen machten sie auch den Kaufmann, indem sie namentlich den Überschuss ihres Getreides außer Landes verschifften; mehr noch: Sie kauften, oft unter Anwendung von Zwang, von ihren und anderen Bauern dazu und verkauften weiter, sozusagen als Getreidehändler im Nebenamt; sie trieben, wie der Kurfürst einmal entrüstet erklärte, eine ihrem Stande missständige Kaufmannschaft und Nahrung. Endlich legten sie sich auch auf den Gewerbebetrieb. Das zeigt deutlich die Geschichte der Ziese, jener Biersteuer, die, zum ersten Male 1488 bewilligt, sowohl auf dem platten Lande wie in der Stadt erhoben werden sollte. Den Adligen war gestattet worden, für den Bedarf ihres Genusses steuerfrei Bier zu brauen. Sie brauten aber auch für andere, schenkten selbst aus, verkauften an die Bauern und an die Wirte der Krüge, zwangen sie geradezu, kein anderes Bier als das Ihrige zu schenken, hielten sie an, selbst zu brauen, indem sie ihnen teils mit Geld, teils mit Gerste zu Hilfe kamen: alles in Übertretung des Gesetzes und seines klaren Wortlauts. Es war fast wie eine Erneuerung des eben erst gebrochenen Raubrittertums."

Allerdings fuhren die Kurfürsten mit Verboten dazwischen. Aber, so meint Lehmann, die lange Reihe der Verordnungen (sie erstreckten sich über mehr als ein Jahrhundert) zeigt nur die Ohnmacht der Landesherren gegenüber den adligen Aspirationen, oder „müssen wir vielmehr zu der Annahme schreiten, dass bei ihnen der Wille, Abhilfe zu schaffen, nicht übermäßig groß war"? Der Landesherr war selbst Großgrundbesitzer und fand es zulässig sowohl wie einträglich, auf seinen Domänen brauen zu lassen ohne Ziesezahlung, zum Schaden des bürgerlichen Brauwesens. Richtig ist wohl, dass beide Momente zusammenträfen; die Ohnmacht des Landesherrn gegenüber den Junkern wurzelte nicht zuletzt darin, dass er der größte aller Junker war und den verhältnismäßig reichsten Anteil an der Beute ihrer Raubzüge erhielt.

Was sich an der Ziese als einer einzelnen Steuer nachweisen lässt, das lässt sich in noch ungleich verstärktem Maße an der Akzise nachweisen, einem wahren Rattenkönig indirekter Steuern, die gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts eingeführt, aber nur auf die Städte beschränkt wurde. Während sie Gewerbe und Handel in den Städten bedrängte, ließ sie Gewerbe und Handel der Junker vollkommen frei. Diese Biedermänner beriefen sich in ihrer Eigenschaft als Ritter auf die ihnen gebührende Immunität, deren Verlust sie in Armut stürzen und den Bauern gleichmachen würde; in ihrer Eigenschaft als Handel- und Gewerbetreibende aber forderten sie, dass die Kommerzia frei sein müsste und die Landbewohner nicht dem Zwange des städtischen Marktes unterworfen sein dürften. Wie bei den Ziesen, so wichen auch bei der Akzise die Landesherren vor der junkerlichen Opposition, und auch hier nicht nur wegen ihrer Ohnmacht, sondern weil sie bald entdeckten, dass die Akzise eine Goldgrube für ihre Kassen werden könne. Um sie weiter und weiter steigern zu können, verstaatlichten sie die ganze Stadtverwaltung. „So wurde die Akzise das Grab der städtischen Autonomie, die Städte verwandelten sich in eine Art Domäne."

Wenn so weit die Analogie zwischen der polnischen und der preußischen Geschichte in die Augen springt, so scheint das schließliche Ergebnis aber doch ein gerade entgegengesetztes zu sein: Die polnischen Junker haben ihren Staat in Grund und Boden ruiniert, während die preußischen Junker heute noch das neudeutsche Reich beherrschen und sich einbilden, überall in der Welt voran zu sein. Der Unterschied erklärt sich daraus, dass die preußischen Junker die städtische Entwicklung bei alledem nicht so weit zu unterbinden vermochten wie die polnischen Junker. Allerdings schieden die Städte seit der Mitte des fünfzehnten bis in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts aus den Klassenkämpfen innerhalb des preußischen Staates vollständig aus; diese Klassenkämpfe spielten sich namentlich zwischen König- und Junkertum ab, aber es fehlt auch nicht ganz an Bauernaufständen. Und es ist die beständige Sorge von König- und Junkertum, die Bauern in untertäniger Gesinnung zu erhalten. Dagegen behandeln König- wie Junkertum die Städte mit souveräner Verachtung, und in der Tat regt es sich in den preußischen Städten niemals. Sie scheinen nicht einmal eine instinktive Ahnung davon zu haben, dass sie eine Klasse mit besonderen Interessen vertreten.

Gleichwohl produzierten die preußischen Städte immerhin noch ein mehr oder minder beträchtliches Maß bürgerlicher Intelligenz, das – da es im Kampfe der eigenen Klasse nicht verwertet werden konnte – sich, um aufwärts und vorwärts zu kommen, in den Dienst der herrschenden Klassen stellte und ihnen den nötigen Verstand lieferte, um zu regieren. Schon seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts zeigt sich das bürgerliche Element in dem höheren Beamtentum des preußischen Staates unverhältnismäßig stark vertreten. Diese an sich unbestreitbare Tatsache ist von den borussischen Psalmensängern dazu benutzt worden, den „bürgerlichen" Charakter des preußischen Staates zu beweisen. Doch liegt auf der Hand, dass dieser Schluss erst dann berechtigt wäre, wenn sich die bürgerliche Klasse aus eigener Kraft einen Platz in der Regierung erkämpft hätte. So aber, wie die Dinge wirklich liegen, lieferte die bürgerliche Klasse den Junkern nur den Verstand, der nun einmal zum Regieren notwendig ist; sie in erster Reihe haben den preußischen Junkerstaat vor dem Schicksal des polnischen Junkerstaats bewahrt.

In keiner Periode der preußischen Geschichte tritt dies Verhältnis klarer hervor als in den Jahren 1806 bis zum Jahre 1815. An den Reformen nach Jena war das ostelbische Junkertum so gut wie gar nicht beteiligt. Stein war Reichsfreiherr und Schön ganz junger Briefadel; fast alle anderen waren Bürgerliche. Selbst an den militärischen Reformen hatte das Junkertum kaum einen Anteil. Scharnhorst war ein Bauernsohn, Gneisenau von höchst zweifelhaftem, angeblich österreichischem Adel, Grolman ganz junger Brief adel, Boyen entstammte einer böhmischen Emigranten-, Clausewitz einer alten Theologenfamilie. Selbst diejenigen Junker, die sich, obgleich grimmige Gegner der Reformen, wenigstens als geschickte und tapfere Kriegsknechte erwiesen, gehörten nicht zur eigentlichen Creme des ostelbischen Junkertums. Yorck, übrigens auch ein höchst zweifelhafter, kassubischer Adel, hatte eine Handwerkerstochter zur Mutter; Bülow war der uneheliche, später vom Vater legitimierte Sohn einer Küsterstochter.

Sieht man von einzelnen, sehr spärlichen Ausnahmen ab, so stand das Junkertum den Reformen als feindselige Masse gegenüber, und was diese ihm abtrotzen konnten, war eben nur so viel, als durch die bitterste Not unabwendbar geworden war und am letzten Ende darauf hinauslief, die Junkerherrschaft nicht zu stürzen – denn um dies zu vermögen, hätten die Reformer eine kampfbereite und kampfesfreudige Klasse hinter sich haben müssen –, sondern vielmehr nur unter zeitgemäßen Formen wiederherzustellen. Ehe sie ihre Herrschaft antasten ließen, hätten die Junker den Staat lieber umkommen lassen, gemäß dem geflügelten Worte eines von ihnen: Lieber drei Schlachten von Jena als ein Oktoberedikt! Sobald die Not gekehrt und Napoleon niedergeworfen war, zeigte sich denn auch, dass die Reformer nichts, aber auch gar nichts hinter sich hatten; trotz aller Lorbeeren, die sie im Kampfe gegen Napoleon davongetragen hatten, wurden sie aus allen einflussreichen Stellungen verdrängt und unter geheime polizeiliche Aufsicht gestellt. Sie haben den preußischen Staat nicht zu revolutionieren, sondern nur zu restaurieren vermocht, und wie es bei dieser Restauration zuging, mag nur noch von einigen Hauptgesichtspunkten beleuchtet werden.

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