Franz Mehring 19100318 Das westfälische Bulletin

Franz Mehring: Das westfälische Bulletin

18. März 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Erster Band, S. 897-899. Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 244-246]

Die bürgerliche Presse in Deutschland und namentlich in Preußen, jubiläumsfroh wie sie ist, hätte in diesem Frühjahr allen Anlass, einen hundertjährigen Gedenktag zu feiern: den Beginn der zweiten Periode jener preußischen Reformen, die nach der feierlichen Versicherung der patriotischen Historiker die Gesetzgebung der Französischen Revolution an Verstand und Weisheit so weit übertroffen haben sollen.

Die Gedenktage der ersten Reformperiode sind mit allem Klang und Sang gefeiert worden, sowohl das Oktoberedikt von 1807, das übrigens nicht nur der französischen, sondern auch der Gesetzgebung einer ganzen Reihe anderer Länder kümmerlich nachhinkte, wie die preußische Städteordnung von 1808, die immerhin einen Hauch der Französischen Revolution verriet und seit hundert Jahren nur rückwärts revidiert worden ist. Gewährte sie auch noch nicht das allgemeine, so doch wenigstens das geheime und gleiche Wahlrecht, und der große Fortschritt, den unser tapferes Bürgertum seit einem Jahrhundert gemacht hat, besteht darin, dass es sich für die städtischen Wahlen zwar keineswegs das allgemeine Wahlrecht erobert hat, aber sich dafür das gleiche und geheime Wahlrecht hat eskamotieren lassen.

Die erste preußische Reformperiode knüpfte sich an den Namen des Freiherrn vom Stein, der nichts weniger als ein Liberaler, vielmehr durch und durch ein Aristokrat war, aber ein Aristokrat nach englischem Muster, ein ehemaliger Reichsfreiherr, voll tiefer Verachtung für das ostelbische Kraut- und Zaun Junkertum. Diese würdige Klasse rächte sich an dem Reformer, indem sie einen Brief Steins, worin er franzosenfeindliche Gesinnungen aussprach, an die französische Polizei verriet und so seinen Sturz herbeiführte. Indessen das Ministerium junkerlicher Mittelmäßigkeiten, das ihm folgte, machte sehr bald bankrott; es konnte auf der einen Seite die Kriegskontributionen nicht mehr aufbringen, die der preußische Staat an Frankreich zu zahlen hatte, auf der anderen Seite ging es auch nicht mehr weiter mit dem völligen Stillstand der bürgerlichen Reformen;

mit denen nunmehr das von Napoleon neugegründete und seinem jüngsten Bruder Jerôme übergebene Königreich Westfalen westlich der Elbe vorging. Dies Königreich bestand zum größten Teile aus ehemals preußischen Gebieten und sollte nach Napoleons Absicht als moderner Staat eine Hauptstütze seiner Herrschaft über Deutschland werden; einer so wirksamen Propaganda gegenüber konnte der preußische Staat nicht ewig im feudalen Unrat steckenbleiben.

Im März 1810, also gerade vor hundert Jahren, kam die Sache zum Klappen. Das junkerliche Ministerium wusste keinen besseren Rat, als die Abtretung der Provinz Schlesien an Napoleon zu empfehlen. Vom Standpunkt der modernen Kultur war der Rat so uneben nicht, denn dann wäre der preußische Staat, der schon im Frieden von Tilsit die Hälfte seiner Provinzen verloren hatte, wie ein Häuflein Unglück zusammengeklappt. Ebendeshalb aber ging der Vorschlag des junkerlichen Ministeriums selbst seiner eigenen Klasse über den Spaß; ehe sie auf ein Rattenloch verzichtete, wie es ihr gleich bequem auf der weiten Welt nicht hergerichtet werden konnte, gestattete sie seine Ausflickung durch einige „liberale" Notröhren.

Diese Aufgabe übernahm und löste der Freiherr v. Hardenberg, der dem modernen Liberalismus viel näher stand als Stein, aber somit auch dessen entbehrte, was diesen Aristokraten auszeichnete, nämlich des Rückgrats. Nach Hardenbergs Tode schrieb Stein über ihn: „Es fehlte seinem Charakter sowohl an einer moralischen Basis als auch an Größe, Kraft und Festigkeit, seinem Verstand an Tiefe, seinen Kenntnissen an Gründlichkeit, daher seine Schwäche, sein Übermut im Glück, seine weinerliche Weichheit in Widerwärtigkeiten, seine Oberflächlichkeit, die, durch Stolz und Falschheit geleitet, so vieles Übel verursachten. Er entfernte alle tüchtigen Menschen, umgab sich nur mit schlechten, oft mittelmäßigen, die ihn missbrauchten … Nicht nach dem Großen und Guten strebte er um des Großen und Guten willen, sondern als Mittel zu eigenem Ruhme, daher begriff er es nicht, erreichte es nicht und ging dahin, nicht geachtet, nicht betrauert." Unzweifelhaft atmet Steins Urteil einen gewissen persönlichen Groll und kann insoweit nicht als unbefangen gelten, aber die Ursache dieses Grolles wirft das schlagendste Licht auf Hardenbergs Charakter: Zur Zeit der Demagogenverfolgungen1, die sich gerade gegen sein Regiment richteten, gab er in echt liberaler Feigheit und Perfidie seinen Segen dazu, dass die Zentraluntersuchungskommission in Mainz ihre Fänge nach Stein ausstreckte, wovor selbst Metternich zurückschauderte.

Mit den Reformen nun aber, mit denen Hardenberg vor hundert Jahren begann, machte er es sich sehr bequem; er klatschte einfach die napoleonisch-westfälische Gesetzgebung ab, soweit ihre Konkurrenz dem preußischen Staate gefährlich zu werden drohte. Für den preußischen Patrioten mag es nicht erhebend sein, anzuerkennen, dass der viel verhöhnte König Morgen-Wieder-Lustig die, wie die liberalen Blätter zu rühmen pflegen, „glorreichste Periode" der preußischen Geschichte aus der Taufe gehoben hat, und so ist es begreiflich, dass die loyale Geschichtschreibung viele Jahrzehnte hindurch das holde Geheimnis sorgfältig behütet hat; höchstens dass in dem verschwiegenen Briefwechsel waschechter Junker darüber gekichert wurde, wie etwa Bismarck im Dezember 1851 an den General v. Gerlach schrieb, die ganze Gesetzgebung Hardenbergs sei ja nur aus dem westfälischen Bulletin übersetzt worden. Erst der französischen Geschichtschreibung blieb es vorbehalten, der historischen Wahrheit zu ihrem Rechte zu verhelfen; in Cavaignacs, des ehemaligen Ministers, Werk über das zeitgenössische Preußen, das vor etwa zehn Jahren erschien, ist bis ins einzelne hinein nachgewiesen worden, dass Hardenberg ein imitateur presque servile und zugleich ein imitateur timide des französischen Vorbildes gewesen sei.

Es scheint ein Widerspruch darin zu liegen, dass Hardenberg ein „fast sklavischer" und doch zugleich nur ein „scheuer Nachahmer" des lustigen Jerome gewesen sein soll. Indessen erklärt sich der Zusammenhang leicht, wenn man beachtet, dass die napoleonisch-westfälische Gesetzgebung auch nur ein Abklatsch der französischen Revolutionsgesetzgebung gewesen ist. Je näher sie ihrem Vorbild blieb, umso scheuer ging Hardenberg daran, sie nun seinerseits abzuklatschen, aber je weiter sie sich davon entfernt hatte, umso sklavischer kopierte er sie.

Das Edikt vom 11. September 1811 über die Regulierung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse las sich noch ganz leidlich und ging selbst über Steins Pläne hinaus, aber es blieb auf dem Papier; kaum hatten die Bauern, durch seine Verheißungen geködert, den Feind aus dem Lande geschlagen, als Hardenberg es, in feiger Nachgiebigkeit gegen die Junker, durch die Deklaration vom 26. Mai 1816 auf den Kopf stellte und die große Masse der Bauern, an Händen und Füßen gebunden, den Junkern auslieferte. Umso dauernder hat sich als eherne Stütze des preußischen Staates erhalten, was Hardenberg an Kinkerlitzchen aus König Jeromes Gesetzgebung abschrieb: die Einteilung der Orden in Klassen, die Einführung einer Nationalkokarde, die Ersetzung des Schwertes durch das Beil bei Hinrichtungen usw.

Im einzelnen auszuführen, wie die Reformen Hardenbergs in ihren Agrar- und Gewerbe-, in ihren Finanz- und Steuergesetzen, in ihren Behörde- und namentlich in ihren Polizeiorganisationen nur der Abklatsch eines Abklatsches der französischen Revolutionsgesetzgebung gewesen sind, würde uns heute zu weit führen. Vielleicht bietet sich Gelegenheit dazu, wenn sich die bürgerliche Presse noch zu einer Gedenkfeier dieser herrlichen Reformen aufraffen sollte.

Einstweilen legt sie sich eine große Reserve auf, und das kann man ihr so sehr auch nicht verdenken. Eine wahrheitsgetreue Geschichte jener borussischen Reformperiode, die vor hundert Jahren einsetzte, würde in drastischer Weise zeigen, wie jämmerlich der preußische Staat auf den Bahnen moderner Kultur nachhinkt, an einem Beine gefesselt durch die bornierte Klassenselbstsucht der Junker und am anderen Beine gelähmt durch die charakterlose Feigheit des Bürgertums.

1 Gemeint sind die auf Grund der Karlsbader Beschlüsse einsetzenden Repressalien gegen die Teilnehmer oppositioneller Bewegungen.

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