Franz Mehring 18920707 Die von Westphalen

Franz Mehring: Die von Westphalen

Juli 1892

[Die Neue Zeit, 10. Jg. 1891/92, Zweiter Band, S. 481-486 und 513-518. Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 404-418]

I

Am 3. Juli 1792 starb der Herzog Ferdinand von Braunschweig, der Sieger von Krefeld und Minden, und die „Kreuz-Zeitung" feierte die hundertjährige Wiederkehr des Tages mit einem beredten Gedenkartikel, der, wie alle militärischen Aufsätze dieses Blattes, gut und mit großer Sachkenntnis geschrieben war. Dagegen haben wir nun auch nichts einzuwenden; es trifft sich, dass die „Neue Zeit" in ihrer vor dem Säkulartage erschienenen Nummer den Namen des Herzogs, der einen Lessing und einen Pitt zu seinen Freunden zählen durfte, ebenfalls in einem ehrenden Zusammenhange nannte. Aber es ist ein bisschen stark, dass die „Kreuz-Zeitung" in ihrem gerade die Strategie und die Taktik des Herzogs beleuchtenden Artikel mit keiner Silbe den Namen des Geheimsekretärs Westphalen nennt, von dem sie oder doch ihr militärischer Mitarbeiter recht gut weiß, dass er ganz allein für die Strategie und die Taktik in den Feldzügen des Herzogs verantwortlich war. Sie begeht damit mindestens das gleiche Unrecht, als wenn sie die militärische Bedeutung Blüchers würdigen wollte, ohne den Namen Gneisenau auch nur zu nennen.

Zwar - gar zu sehr möchten wir das konservative Blatt auch nicht tadeln, denn es gibt in dieser Frage noch weit Schuldigere. Wenn die „Kreuz-Zeitung" das Andenken adliger und fürstlicher Soldaten sorgfältig pflegt, mag dabei auch einmal bürgerliches Verdienst unter den Tisch fallen, so kämpft sie wenigstens rücksichtslos für die Klasse, welche sie vertritt und vertreten soll. Aber was soll man zu dieser bürgerlichen Presse sagen, die nach mehr als hundert Jahren noch nicht weiß, dass es ein bürgerlicher Mann war, der im Siebenjährigen Kriege in einer höchst berechtigten Verteidigung des deutschen Bodens fünf französische Marschälle des Ancien regime in fünf Feldzügen und fünf Schlachten siegreich aufs Haupt schlug? Die es nicht weiß, obgleich seit zwanzig oder sogar dreißig Jahren die Tatsache selbst in urkundlich vollkommen unanfechtbarer Weise festgestellt ist? Ja, es ist anzuerkennen, dass wir diese Kenntnis gerade einem „Kreuz-Zeitungs"mann verdanken, dem bekannten reaktionären Minister von Westphalen, der 1859 in zwei und dann 1872 in vier weiteren starken Bänden die Papiere seines Großvaters mit reichen Ergänzungen aus den militärischen Archiven unter dem Titel „Die Feldzüge des Herzogs Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg" herausgab. Es macht einen beschämenden Eindruck, wenn der Herausgeber unter den eifrigen Förderern seines zur Ehrenrettung eines bürgerlichen Mannes bestimmten Werkes eine ganze Reihe von Fürsten, Prinzen und adligen Generalen anführt, darunter den 1859 noch unberühmten Generalleutnant von Moltke; wenn als Verlagsanstalt die Oberhofbuchdruckerei von Decker angegeben ist; wenn auf der letzten Seite des letzten Bandes in dem Verzeichnis der Subskribenten wieder eine lange Reihe von Fürsten, Prinzen und adligen Generalen aufmarschiert und dann zu guter Letzt – 36 Bestellungen von bürgerlichen Buchhandlungen, unter deren Kunden sich dann auch wohl noch adlige Offiziere, Regimentsbibliotheken usw. befinden mögen.

Aber das war vor zwanzig Jahren, und nachdem der Minister von Westphalen in einer immerhin mühseligen und verdrießlichen Arbeit das gesamte Baumaterial zusammengeschleppt hatte, da war es am Ende nicht zu viel verlangt, dass sich nun auch ein bürgerlicher Historiker ein paar Jahre auf die Hosen setzte und aus den bereitliegenden Steinen ein literarisches Denkmal des alten Philipp Westphalen errichtete. Indessen weit gefehlt! Ja, wenn es sich noch um eine byzantinische Lobhudelei auf den König Friedrich oder einen seiner Junkergenerale gehandelt hätte! Die haben, soweit sie irgend namhaft waren, alle längst ihre Biographie oder gar ihrer mehrere, und meist von bürgerlichen Historikern; hat doch selbst ein Lieblingsschüler Rankes vor einigen Jahren schon den verhältnismäßig unbedeutenden Vorpostengeneral Zieten in zwei dicken, beiläufig herzlich schwachen Bänden biographisch verewigt! Aber an eine Biographie Westphalens hat noch keiner dieses jungen, vielgepriesenen und ach! so geisteskräftigen Geschlechts gedacht, das, wenn es sich nach drei Jahren Judenhetzens und Schoppenstechens glücklich durchs Referendarexamen gequält hat, ohne den Reserveleutnantstitel auf der Visitenkarte nicht mehr anständig leben zu können glaubt. Und vielleicht liegt hierin gerade der Grund seiner Enthaltsamkeit. Denn der größte Stratege des Siebenjährigen Krieges hat es nicht zum Leutnant, ja nicht einmal zum Gefreiten gebracht; er hat nie eine soldatische Uniform getragen, und als der König von England ihn zum Generaladjutanten von der Armee ernannte, hat er diesen Titel – welcher Umstürzler! – nicht einmal auf der Visitenkarte geführt, sondern lächelnd beiseite geschoben.

Das deutsche Bürgertum hegt eine wahre Idiosynkrasie gegen alles Bedeutende und Große, das aus seinem eigenen Schoße hervorgegangen ist.

Wie die Arbeiterklasse in Deutschland noch nebenbei alle Kulturaufgaben zu lösen hat, die nach Pflicht und Recht der geschichtlichen Entwicklung die bürgerliche Klasse lösen sollte, so muss sie auch das Andenken der Männer, die dem deutschen Bürgertum wirkliche Ehre gemacht haben, von der Straße auflesen und rettend bergen. Und so werden die Leser der „Neuen Zeit" es natürlich finden, wenn hier der Versuch unternommen wird, gegenüber der Herausforderung der „Kreuz-Zeitung" mit einigen großen Strichen die geschichtliche Bedeutung Westphalens zu zeichnen und auch einiges über seine Familie beizubringen. War doch die erste und treueste Freundin des Proletariats, eine Frau, der namentlich die deutsche Arbeiterklasse zu dauernder Dankbarkeit verpflichtet ist, die Gattin von Karl Marx, seine rechte Enkelin!

Philipp Westphalen wurde am 24. April 1724 zu Blankenburg am Harz geboren. Seine Familie stand seit einer Reihe von Geschlechtern in den Diensten des braunschweigischen Herzogshauses, und er selbst schlug die gleiche Laufbahn ein. Nachdem er zwei Jahre in Helmstedt und drei Jahre in Halle studiert sowie große Reisen durch Deutschland, Frankreich und Italien gemacht hatte, wurde er 1751 Geheimsekretär des Herzogs Ferdinand von Braunschweig, der in den militärischen Diensten des Königs von Preußen, seines Schwagers, stand und beim Ausbruche des Siebenjährigen Krieges die wichtige Stellung eines Gouverneurs von Magdeburg bekleidete. Im ersten Jahre dieses Krieges kämpfte Herzog Ferdinand als Unterfeldherr des Königs, aber nach der Schlacht bei Roßbach, gegen Ende des Jahres 1758, übernahm er auf Wunsch des englischen Hof es und mit Zustimmung des preußischen Königs den Oberbefehl über das englisch-hannöverisch-hessische Heer, das den deutschen Westen gegen die Einbrüche der Franzosen schützen sollte. Der bisherige Befehlshaber dieses Heeres, der unfähige Herzog von Cumberland, war bei Hastenbeck von den Franzosen geschlagen worden und hatte dann die Kapitulation von Kloster Zeven abgeschlossen, die ihn zur Entlassung seines Heeres verband. Aber diese schimpfliche Katastrophe brachte das Ruder der englischen Regierung in Pitts Hände; er versagte der Kapitulation von Zeven die Genehmigung und entschloss sich zu einer energischen Kriegführung in Deutschland. Fünf Jahre, von Ende 1757 bis Ende 1762, hat Herzog Ferdinand diesen Krieg erfolgreich geführt auf einem weiten Kriegstheater, das sich vom Niederrhein bis Hannover, von Westfalen bis an den Main erstreckte, fast ohne befestigte Plätze, meist gegen zwei starke, feindliche Heere, immer aber in der Minderzahl, beispielsweise in der zweiten Hälfte des Feldzuges von 1758 mit 72.000 gegen 125.000, im Feldzuge von 1761 mit 100 142 gegen 203.000 Mann. Aber der Herzog Ferdinand war nur die Hand, während sein Geheimsekretär der Kopf war. In seiner äußerlich bescheidenen Stellung machte Westphalen, ohne jede Kontrolle durch einen Kriegsrat, die strategischen Entwürfe, gab die taktischen Operationen bis in die kleinsten Einzelheiten an, bereitete sie vor und half sie in der Ausführung verbessern. Nach seinen Vorschlägen, wann, wo und wie die Treffen zu liefern seien, verfuhr der Herzog. Westphalen allein besorgte die Generalstabsgeschäfte, und daneben war er noch, indem er die Korrespondenz über alles führte, was sich auf die Verpflegung, Bekleidung, Bewaffnung, Rekrutierung und Verstärkung der Truppen bezog, der Generalintendant und Generalquartiermeister des verbündeten Heeres. Alles das ist in der Fülle der Urkunden, die der Minister von Westphalen in seinem großen Werke gesammelt hat, über jeden Zweifel hinaus bewiesen; steht diese militärische Vertrauensstellung eines bürgerlichen Mannes in der gesamten Kriegsgeschichte schon einzig da, so erhält sie dadurch noch einen eigentümlichen Zug, dass der Herzog und Westphalen immer schriftlich miteinander verkehrten, auch wenn sie unter einem Dache wohnten. Auf diese Weise hat sich eine Masse von Zeugnissen erhalten, die das Verhältnis der beiden Männer in das klarste Licht stellen.

Die bürgerlichen Historiker des Siebenjährigen Krieges müssen denn auch, wenn sie einmal nicht umhin können, Westphalens Namen zu erwähnen, ihm die höchsten Lobsprüche zuerkennen. Der eine (Preuß) nennt ihn „unvergleichlich", der andere (Graf Lippe) „hochverdienstvoll", der dritte (Bernhardi) den „leitenden Genius von Ferdinands Hauptquartier", der vierte – wenn wir nicht irren: Delbrück – den „Gneisenau des Siebenjährigen Krieges". Und diese Bezeichnung ist zunächst insofern die treffendste, als sie auch dem Herzog Ferdinand sein gutes Recht gibt. Er war, wie Blücher, ein glänzender Feldsoldat und dabei ein ehrlicher, großherziger, offener Charakter, der sich ohne Eifersucht der höheren Einsicht seines Geheimsekretärs zu fügen wusste. Denn um eine höhere Einsicht handelte es sich allerdings. Große Strategen sind ungleich seltener als glänzende Feldsoldaten. Und wie der Herzog ohne Eifersucht gegen Westphalen war, so war Westphalen ohne Neid gegen den Herzog. Darin stand er fast noch über Gneisenau, der es wohl einmal in einer Stunde des Unmuts bitter empfand, dass die Mitwelt alle Ruhmeskränze zu den Füßen Blüchers niederlegte. Dieser merkwürdige Mann, der fünf Feldzüge eines großen Heeres geleitet hat, war so durch und durch bürgerlich gesinnt, dass er nie ein soldatisches Kleid getragen und sogar, wie schon erwähnt, nicht einmal den hohen, militärischen Titel geführt hat, durch den der König von England seine strategischen Verdienste ehren zu können meinte.

Und es ist deshalb sehr wohl möglich, dass er auf dem Schlachtfelde ebenso schlecht kommandiert haben würde, wie der Herzog Ferdinand gut kommandiert hat. Aber wie der eine neben dem anderen trefflich bestand, so scheinen beide niemals daran gedacht zu haben, wie der eine ohne den anderen bestehen könne. Sie haben in ihren gemeinsamen Feldzügen und dreißig weitere Jahre stets in guter Freundschaft miteinander gelebt, auch dann noch, als nichtswürdige Höflinge in Braunschweig den Geheimsekretär gegen den Herzog ausspielten, weil sie dadurch dem heimlichen Neide schmeichelten, mit dem der Erbprinz von Braunschweig, der Lessing-Quäler und Menschenverkäufer, auf seinen berühmten Oheim sah. Es ist ein gleich gutes Zeugnis für den Charakter des Herzogs wie Westphalens, dass sie in dieser immerhin peinlichen Probe niemals irre aneinander wurden.

Aber auch noch in einer anderen Beziehung trifft der Vergleich mit Gneisenau auf Westphalen zu. Er war der erste Stratege seiner Zeit. Die französischen Marschälle, die er einen nach dem anderen schlug, können ihm diesen Rang nicht streitig machen, aber auch nicht die Österreicher Daun und Lascy oder der preußische Prinz Heinrich, denen allen der Mut der Initiative fehlte. Höchstens König Friedrich selbst könnte als Stratege über Westphalen gestellt werden. Indessen lässt sich ein erschöpfendes Urteil über diese Frage erst gewinnen, wenn man die notgedrungene Verschiedenheit in der Kriegführung beider Männer in gebührenden Anschlag bringt. Friedrichs Hauptstärke als Feldherr lag darin, dass er nach dem Ausdrucke von Clausewitz der „Kriegsgott" selbst war; er war diplomatisch, politisch, militärisch völlig unabhängig und besaß, wenigstens im Anfange des Krieges, das technisch vorzüglichste Heer der Zeit, das auch, als es an Qualität und Quantität von Jahr zu Jahr abnahm, eine geschlossene Masse und zu seiner unbedingten Verfügung blieb. Das Hauptquartier des Herzogs Ferdinand dagegen war diplomatisch und politisch an die englische Regierung und ein halbes Dutzend kleiner deutscher Höfe gebunden; es war ferner militärisch in seiner Bewegungsfreiheit durch die Rücksicht auf den friderizianischen Hauptkriegsschauplatz stark beschränkt. Das Heer aber war nach der Kapitulation von Kloster Zeven ein militärisch und moralisch zerrütteter Haufe, und auch als es durch Westphalen mit bewundernswerter Schnelligkeit reorganisiert worden war, litt es in auffallendem Maße an den Schwächen aller Koalitionsheere: an der Buntscheckigkeit der Truppen, die zum vierten Teile aus englischen, zum dritten Teile aus hannöverischen und im übrigen aus hessischen, braunschweigischen und bückeburgischen Kontingenten bestanden, und an der Rivalität der Generale. Von jener mag man sich einen Begriff daraus machen, dass mehrere Tausend, jeder Disziplin abholden Hochländer mit ihren Dudelsäcken und Plaids mitten unter steifgedrillten deutschen Söldnern marschierten; von dieser aber daraus, dass ein englischer General mitten in einer entscheidenden Hauptschlacht einfach den Gehorsam verweigerte. Aus alledem ergibt sich, dass der Stratege Westphalen ungleich behinderter war als der Stratege Friedrich, und wenn jener vergleichsweise hinter diesem hier oder da zurückgeblieben zu sein scheint, so fragt es sich, ob dieser Unterschied in den tatsächlichen Leistungen wirklich dem sehr großen Unterschied in den beiderseitigen Machtmitteln entsprach oder nicht vielmehr viel geringer war, weil ihn Westphalen durch ein größeres Maß persönlicher Genialität ausglich.

Es ist schon gar kein Vorwurf für Westphalen, dass er einen so betäubenden Schlag, wie beispielsweise Friedrich bei Prag, niemals geführt hat. Er durfte bei der Art seiner Kriegsmittel und für die Zwecke seiner Kriegführung nicht so viel aufs Spiel setzen wie Friedrich bei Prag, und dann hat diese Medaille auch eine ganz verzweifelte Kehrseite. Kann Westphalen für sich auf kein Prag hinweisen, so hat er auch nicht so furchtbare Schlappen, wie Hochkirch und Maxen, so zerschmetternde Niederlagen, wie Kunersdorf, erlitten. Eins bedingte das andere. Wenn Westphalen – nicht aus Behutsamkeit oder Zaghaftigkeit, sondern aus strategischer Einsicht – vorsichtiger operierte als Friedrich, so ist er dafür in offener Feldschlacht – mit einziger Ausnahme des missglückten Angriffs bei Bergen – immer siegreich gewesen. So bei Krefeld, Vellinghausen, Warburg, Wilhelmsthal, so vor allem bei Minden. Diese glänzendste Schlacht Westphalens steht, was den einfachen und großen Wurf des Planes anbetrifft, mindestens ebenbürtig neben Leuthen, der glänzendsten Schlacht Friedrichs; der König selbst schrieb an den Herzog Ferdinand, dass er den Schlachtplan von Minden „sehr bewundere". Aber es besteht auch ein großer Unterschied zwischen Leuthen und Minden. Leuthen ist nicht zum wenigsten deshalb die klassische Schlacht Friedrichs geworden, weil bei der Ausführung des königlichen Schlachtplanes alles aufs genaueste klappte; noch auf dem Schlachtfelde umarmte er seinen ersten Unterfeldherrn, den Fürsten Moritz von Anhalt-Dessau, mit den Worten, der habe ihm geholfen, wie ihm noch nie einer geholfen habe. Das war keine Höflichkeitsphrase, sondern bei der eifersüchtigen und neidischen Art, die dem Könige gegenüber seinen höheren Generalen eignete, eine sehr seltene Auszeichnung, eine so seltene, dass der Fürst Moritz die Worte sofort von den Hörern beglaubigen und zu ewigem Gedächtnisse im Archive von Dessau niederlegen ließ. Bei Minden aber weigerte sich der erste Unterfeldherr des Herzogs Ferdinand, Lord Sackville, auf dem Höhepunkte der

Schlacht einfach seiner Pflicht; trotz der dringendsten und unzweideutigsten Befehle des Herzogs rückte er nicht vor; er ist nach der Schlacht dann von einem englischen Kriegsgerichte infam kassiert worden. Aber dass der Schlachtplan Westphalens diesen furchtbaren Stoß aushielt und doch zu einem großen Siege führte, das fällt gar sehr zugunsten seines Urhebers ins Gewicht; hätte Fürst Moritz bei Leuthen gehandelt wie Lord Sackville bei Minden, so wäre Friedrich rettungslos verloren gewesen.

Man verzeihe uns, dass wir von diesen alten Kriegsgeschichten mit einiger Wärme sprechen und beinahe schon in den Stil der „brillanten Kavallerieattacken" fallen. Immerhin handelt es sich nicht nur um einen guten Mann, sondern auch um eine gute Sache. Der Krieg, den Westphalen führte, war bis zu den Tagen der Französischen Revolution der gerechteste Krieg des achtzehnten Jahrhunderts. Friedrichs Siebenjähriger Krieg war zwar auch ein Verteidigungskrieg, aber er verteidigte doch nur frühere Eroberungen. Dagegen welches immer die ökonomischen Interessengegensätze Englands und Frankreichs in Amerika sein mochten: Der französische Krieg in Europa war nichts als ein Raubeinfall, um zunächst zwar England in Hannover zu strafen, aber dann auch, um das westliche Deutschland überhaupt zu plündern. Er nimmt einen sehr hervorragenden Platz in dem Sündenregister des Ancien regime ein. Herzog Ferdinand erbeutete und veröffentlichte die Befehle, in denen der französische Kriegsminister Belle-Isle mit dürren Worten die französischen Marschälle anwies, aus dem westlichen Deutschland eine Wüste zu machen. Und die Befehle waren nicht umsonst gegeben. Die altfeudalen Marschälle und Generale stahlen wie die Raben, stahlen viel ärger als die plebejischen Marschälle und Generale Napoleons, deren Plünderungen wenigstens teilweise stark übertrieben worden sind, jemals gestohlen haben. Noch heute heißt das schöne Gartenschloss, das sich der Herzog von Richelieu in Paris aus seiner Beute errichtete, Pavillon d'Hanovre, und daneben bezahlte dieser eine Ehrenmann noch Millionen von Schulden. Die Abwehr eines nichtswürdigen Raubkrieges war Westphalens militärisches Verdienst; er und sein Herzog sind als Sieger ebenso arm aus ihren Feldzügen hervorgegangen, wie die Besiegten reich.

Der Kriegszweck wirkt nun aber auch bestimmend auf den Geist zurück, in dem der Krieg geführt wird, und nach dem leider allzu wenigen zu schließen, was wir von dem Hauptquartiere des Herzogs Ferdinand wissen, herrschte in ihm trotz aller Rivalitäten ein ungleich gebildeterer und gesitteterer Ton als sonst in den Hauptquartieren der Zeit. Man wird den deutschen wie den englischen Junkeroffizieren nicht zu viel zutun, wenn man voraussetzt, dass sie für den bürgerlichen Geheimsekretär, der den Krieg leitete, nicht gerade voreingenommen gewesen sind; um so schwerer fällt es ins Gewicht, wenn einer von ihnen, wie Graf Schlieffen, Westphalens Charakter aus täglichem Verkehr also schildert: „Eine männliche, aber von Rauheit und Schmeichelsucht gleich entfernte Seele, Würde ohne Stolz, Rechtschaffenheit ohne Geräusch, Einsicht ohne Dünkel, Anhänglichkeit ohne Schwachheit, Strenge in Anschauung seiner selbst, Nachsicht gegen andere, Einfachheit im Umgange, Heiterkeit in verworrenen Umständen, Unermüdlichkeit in übermäßiger Arbeit." So ist von keinem Mitgliede eines friderizianischen Hauptquartiers, den König mit eingeschlossen, jemals gesprochen worden; unter den deutschen Kriegsmännern hat erst wieder Gneisenau – und das ist eine dritte Ähnlichkeit – von einsichtigen Zeitgenossen ein ähnliches Lob erfahren.

Im Kriege war Westphalen zu hoch gewachsen, um nach dem Frieden noch der Geheimsekretär des Gouverneurs einer preußischen Festung bleiben zu können. Er zog sich ins Privatleben zurück, spärlich genug, aber für seine bescheidenen Bedürfnisse ausreichend belohnt. Die englische Staatskasse zahlte ihm fortan 200 Pfd. St., die hannoversche 500 Taler Jahrespension. Militärische Titel und Würden verschmähte er, dagegen „genehmigte er", wie man damals zu sagen pflegte, den Reichsadel und den Titel eines braunschweigischen Landdrostes; Herzog Ferdinand erwirkte ihm beides. Es scheint, dass Westphalen dabei von ähnlichen Beweggründen geleitet wurde wie Schiller bei Annahme des Adels- und Hofratstitels. Wie dieser um seiner altadligen Lotte von Lengefeld willen in den sauren Apfel biss, so anscheinend jener um seiner altadligen Jeanie Wishart of Pittarow willen, die er als einzige Beute aus seinen Feldzügen heimbrachte. Von ihr und ihrer Nachkommenschaft demnächst mehr.

II

Jeanie Wishart war die Tochter eines Stadtpfarrers von Edinburgh. Die Wisharts gehören zu den ältesten Baronsfamilien in Schottland; George Wishart, ein gleichnamiger Vorfahr von Jennys Vater in gerade aufsteigender Linie, hatte 1547 im Kampfe gegen den Kardinal Beatoun für die Einführung der Reformation in Schottland den Scheiterhaufen bestiegen. Diese Notiz gibt der Minister von Westphalen in den Familiennachrichten, mit denen er die Handschriften seines Großvaters einleitet. Er teilt zugleich mit, dass Jennys Mutter eine Campbell of Orchard gewesen sei, erwähnt jedoch nicht die revolutionären Überlieferungen, die sich an diesen berühmten Namen der schottischen Hochlande knüpfen. Im Vogt-Pamphlet von Karl Marx heißt es: „Der letzte Beleg des ,nicht verlegenen' Vogt für meine Entente cordiale [mein herzliches Einvernehmen] mit der geheimen Polizei im Allgemeinen und ,meine Beziehungen zu der Kreuzzeitungspartei im Besonderen' besteht darin, dass meine Frau die Schwester des preußischen Ministers a. D. Herrn von Westphalen ist… Wie nun parieren des feisten Falstaff feige Finte? Vielleicht verzeiht der Clown meiner Frau den kognaten preußischen Minister, wenn er erfährt, dass einer ihrer schottischen Agnaten als Rebeller im Freiheitskampf gegen Jakob II. auf dem Markte zu Edinburgh enthauptet worden ist."1 Marx spielt hier auf den berühmtesten der Campbells, den Earl Archibald Argyle an, dessen nichtswürdige Verurteilung durch ein jakobilisches Blutgericht und dessen im Kerker wie auf dem Blutgerüste bewährter heiterer Heldenmut männiglich aus Macaulay bekannt sind.

Eine ältere Tochter des Stadtpfarrers von Edinburgh war an den General Beckwith verheiratet, der unter dem Herzog Ferdinand englische Truppen befehligte. Bei einem Besuche, den Jeanie Wishart ihrer verheirateten Schwester machte, gewann sie die Liebe Philipp Westphalens. Im Oktober 1765 fand die Hochzeit in Wesel statt. Das junge Ehepaar erwarb ein bescheidenes Lehngut in Bornum bei Königslutter, von wo es im Jahre 1781 nach einem größeren Gute, Blücher bei Boitzenburg im Mecklenburgischen, übersiedelte. Hier starb Philipp Westphalen, wenige Wochen nach dem Tode des Herzogs Ferdinand, am 21. September 1792. Er hatte mit einer Frau, die ihm an hohen Eigenschaften des Charakters vollkommen glich, in der glücklichsten Ehe gelebt, daneben im Ackerbau und reicher geistiger Tätigkeit ein volles Genüge gefunden. Was ihn gehindert hat, nach seinem eigenen und des Herzogs Ferdinand Wunsche der Geschichtschreiber ihrer gemeinsamen Feldzüge zu werden, ist nicht sicher zu erkennen; die weitläufigen, aber nichts weniger als erschöpfenden Erläuterungen seines Enkels lassen sich, wenn wir recht lesen, in das eigentümliche Wort von Moltke zusammenfassen: „Es ist eine Pflicht der Pietät und der Vaterlandsliebe, gewisse Prestigen nicht zu zerstören, welche die Siege unserer Armee an gewisse Persönlichkeiten knüpfen." König Friedrich sollte nun einmal der alles überwältigende Genius sein, der ganz Europa im Schache gehalten hatte, und wenngleich der Herzog Ferdinand sich sehr bald nach dem Hubertusburger Frieden dem unerträglichen Despotismus dieses Kriegsherrn entzogen hatte, so war er nunmehr doch auch nicht mehr als ein dürftig apanagierter Prinz des Hauses Braunschweig, dessen Haupt noch viel eifersüchtiger, kleinlicher und neidischer war als der preußische König. Was der Minister von Westphalen aus den Papieren seines Großvaters veröffentlicht hat, namentlich das umfangreichste Bruchstück, die Geschichte der Feldzüge von 1757 und 1758, lässt doppelt und dreifach bedauern, dass dieser kernige, klare und kräftige Geist so oder so verhindert worden ist, sich literarisch völlig auszuleben; seine Art, Geschichte zu schreiben, ist dem ziemlich flachen Rationalismus des Königs Friedrich gar sehr überlegen, wie sich dieser auch in der Handhabung der französischen oder gar der deutschen Sprache nicht entfernt mit Westphalen messen kann.

Aus der Ehe von Philipp Westphalen und Jeanie Wishart waren vier Söhne entsprossen, von denen Ferdinand, der älteste und angeblich begabteste, schon bei Lebzeiten der Eltern im Alter von 23 Jahren starb. Die beiden nächsten, Heinrich und Hans, haben nicht Glück, nicht Stern gehabt, obschon Heinrich nahe an 90 Jahre alt wurde. Dagegen ist Ludwig, der jüngste und der einzige, der Nachkommenschaft hinterlassen hat, wenn nicht der alte Block selbst, so doch ein Span von dem alten Blocke gewesen. Leider lässt sich der Minister von Westphalen in den erwähnten Familiennachrichten über diesen seinen Vater kürzer und sozusagen unsicherer aus als über seinen Oheim. Das sieht bescheiden aus, soll es vielleicht auch sein, hat aber jedenfalls noch andere Gründe. Erstens nämlich hatte Ludwig von Westphalen nach den Anschauungen der junkerlichpreußischen Bürokratie einen „Klecks in seiner Konduite". Ursprünglich braunschweigischer Rat, war er nach Absetzung der Weifen durch Napoleon und Gründung des Königreichs Westfalen erst Generalsekretär der Präfektur zu Halberstadt, dann, im Jahre 1809, Unterpräfekt des Arrondissements Salzwedel im Elb-Departement geworden, hatte also „westfälische Dienste" genommen, was nach der feilen Geschichtschreibung, die schon zu Zeiten des Ministers von Westphalen und nun gar erst heute das große Wort führt, eine mehr oder minder große Schande sein soll. Tatsächlich liegt die Sache aber so, dass die „westfälische Zeit" für die preußischen, hessischen, braunschweigischen und sonstigen Landesteile, über die sie hereinbrach, eine Fülle der segensreichsten sozialen Reformen mit sich brachte, von Reformen, die im Interesse der bürgerlichen Klassen längst notwendig, aber von den entsprechenden „angestammten" Landesvätern in der schändlichsten Weise hintangehalten worden waren. Wenn Ludwig v. Westphalen lieber diese Reformen mit angriff, als sich graue Haare darüber wachsen ließ, ob in Kassel ein eitler und windiger Patron wie Jerome Bonaparte oder aber ein siebenfach destillierter Gauner von „angestammtem" Landesvater und Menschenverkäufer gebot, so gebührt ihm dafür lautes Lob. Man kann gar nicht scharf genug jener infamen Liebedienerei entgegentreten, welche die napoleonischen Kriege auf die lächerliche Frage zurückführen will, ob die bodenlos nichtigen Individuen, die im Anfange dieses Jahrhunderts auf den deutschen Thronen saßen, bei ihren Kronen erhalten werden sollten oder nicht. Gewiss hatte auch der napoleonische Despotismus seine schmach- und für die bürgerlichen Klassen verhängnisvolle Seite, aber wie trefflich Ludwig von Westphalen in diesem Punkte zu unterscheiden wusste, beweist die Tatsache, dass er 1813 von Marschall Davoust verhaftet und in Gifhorn unter harter Behandlung eingetürmt wurde. Es spricht nicht weniger für die Tüchtigkeit des Mannes, dass ihn die preußische Regierung nach dem Frieden als Landrat in Salzwedel beließ und 1816 als ältesten Rat an die Regierung in Trier beförderte, denn damals und bis zu dem reaktionären Umschlag von 1819 hatten die Hardenberg und Gneisenau noch ein entscheidendes Wort mitzureden, und wie Gneisenau seihst den militärischen Oberbefehl in Koblenz übernahm, so befolgte Hardenberg den Grundsatz, die freisinnigsten und tüchtigsten, die von allen bürokratisch-junkerlichen Schrullen freiesten Zivilbeamten in die neu gewonnenen, überaus schwierigen und widerspenstigen Rheinlande zu werfen.

Es ist dann aber noch ein anderer Grund, der den Minister von Westphalen so karg insbesondere von den Familienverhältnissen seines Vaters sprechen lässt. Er sagt, durch die Katastrophe von Jena sei die Existenz Ludwigs von Westphalen bedroht gewesen, „nachdem ihm und seinen Kindern die Gattin und Mutter durch einen frühen Tod entrissen worden". Darnach wäre die Mutter des 1799 geborenen Ministers von Westphalen spätestens 1806 gestorben, und von einer zweiten Heirat seines Vaters berichtet der Minister mit keiner Silbe. Gleichwohl ist es eine unbestrittene Tatsache, dass dem Landrat von Westphalen im Jahre 1814 ein Töchterchen geboren und nach der drei Jahre vorher in Salzwedel gestorbenen Großmutter väterlicherseits Jenny benannt wurde. Aber man begreift das Schweigen des Ministers, wie immer man sonst darüber denken mag, recht gut, wenn man sieht, dass seine Familiennachrichten aus dem September 1859 datiert sind. Eben damals erleuchtete Herr Karl Vogt das deutsche Philisterium mit dem Humbug der Londoner „Schwefelbande", und da Jenny von Westphalen längst die Gattin des angeblichen Hauptes dieser angeblichen Bande war, so mag dieser Zusammenhang wohl die – loyale Kürze erläutern, deren sich der Minister von Westphalen in diesem Teile seiner Familiennachrichten beflissen hat.

Jedenfalls lebte er zur Zeit, als ihm sein Schwesterchen oder, wie es nach seinen eigenen Angaben scheint, Halbschwesterchen geboren wurde, noch im elterlichen Hause. Dafür gibt es ein Zeugnis in der Lokalliteratur von Salzwedel, in einem 1815 und dann wieder 1860 gedruckten, tausend Hexameter umfassenden Gedichte: „Der Helden Primas und Sekundas Schneekampf. Gesungen von W. Woltersdorf, Gymnasiast in Salzwedel".

Dies Epos schildert in homerischem Stile ein allgemeines Schneeballwerfen der beiden oberen Gymnasialklassen, und unter den gefeierten Helden tritt auch „Ferdinand, der mutige, löwenbeherzte", eben der spätere Minister von Westphalen auf. Von Jenny von Westphalen, die schon als zweijähriges Kind aus Salzwedel schied, weiß ebendeshalb die örtliche Überlieferung nichts zu melden. Doch hat es uns immer als ein anmutiger Zufall erscheinen wollen, dass in dem Turmknopfe der Hauptkirche von Salzwedel, in der nach einer erlaubten, historischen Konjektur der Landrat von Westphalen sein Töchterchen hat taufen lassen, bei einem Umbau das prächtigste Stück materialistischer Geschichtschreibung entdeckt wurde, das uns aus dem märkischen Mittelalter überliefert worden ist. Die Stadt Salzwedel war ehedem sehr namhaft, schon 1112 so mächtig, dass sie einem Angriffe des Kaisers Heinrich V. trotzen konnte. Sie war lange der bedeutendste Handelsplatz der Mark und hatte zur Zeit der Hansa einen Sitz auf der Handelsbank Wisby. Über Salzwedel führte die alte wichtige Landstraße von Magdeburg nach den Seestädten, ferner die große Salzstraße von Lüneburg nach Stendal und nach Brandenburg mit dem Elbübergang bei Tangermünde; vor allem blühte in Salzwedel die Tuchweberei, deren Erzeugnisse in großen Massen nach fremden Ländern ausgeführt wurden. Aber mit dem bekannten ökonomischen Umschwünge des fünfzehnten Jahrhunderts begann auch Salzwedel zu sinken, und sein ökonomischer Niedergang wurde beschleunigt durch das, was die gutgesinnten Geschichtschreiber die „köstliche Gabe der monarchischen Zucht" nennen, welche die Hohenzollern dem „verwahrlosten Lande" gebracht haben.

Schon die ersten Hohenzollern hatten die märkischen Städte derbe angezapft, namentlich die Schwesterstädte Berlin und Cölln an der Spree, doch wenigstens in der Altmark war von den Städten noch manches zu holen, und als 1486 im Erbgange die fränkischen Besitztümer der Hohenzollern mit den Goldquellen des Fichtelgebirges sich von der Mark trennten, da entsann sich der treue Markgraf Johann sehr bald des märkischen Sprichworts: „De Soltwedler hebben dat got."

Bereits im Jahre 1488 rückte er mit reisiger Macht und mit dem Henker in Salzwedel ein, und als acht Jahre später, im Jahre 1496, ein neuer Knopf auf den Turm der Marienkirche gesetzt wurde, da legte der Ratmann Hans Barthold eine Schrift hinein, worin es nach den üblichen Personalnotizen über die Ratmannen und den Turmdecker heißt: „Hoyer Barthold, der auch Bürgermeister gewesen, der starb, da man schrieb 1476. Auch binnen zwölf Jahren bedrückte Markgraf Hans unser Herr diese arme Stadt und ließ zwei Bürgern auf dem Markte die Köpfe abhauen und nahm die Schlüssel von allen Toren und alle Gerechtigkeit und setzte auf die Ziese von der Tonne Bier zwölf stendalsche Pfennige. Auch hat er in neun Jahren darnach die Juden hier in die Stadt gesetzt, die denn hier zuvor auch nicht drin gewesen. Hierzu haben geholfen Thiele Cunrad, Arend Riebau, Arndt Neylinge, Kersten Alemann, Hinrik Koppe, Hinrik Kryhl, Hans Cunrad. Bittet unsern lieben Herrn Gott, dass diese frommen Knechte alle gehängt werden, so kriegt ihr die Kleider (dat dese frome Knechte alle hangen worden, so krüge gy de Kleder)."Wie herzerhebend sticht dies märkische Bürgertum, das doch erst, nachdem das Beil des Henkers seine blutige Arbeit getan hatte, die Faust im Kirchturmknopfe ballt, von dem heutigen märkischen Bürgertum ab, das diensteifrigst die Hände im Wasser des Schlossbrunnens wäscht, sobald der Schatten eines etwaigen Mangels an untertänigster Gesinnung darauf geworfen wird. Aber wenn der gute Hans Barthold die „köstliche Gabe der monarchischen Zucht" so trefflich auf ihren ökonomischen Ursprung zurückzuführen weiß, so macht er von seinem ökonomischen Standpunkte aus auch nur ideologische Geschichtslegende. Die Juden waren allerdings „zuvor auch drin gewesen". Eine Vorstadt von Salzwedel heißt heute noch der Perver (Parvar ist das hebräische Wort für Vorstadt), und da diese Vorstadt in Urkunden des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts Judaearum vicus und Judendorp genannt wird, so ist es zweifellos, dass die Juden in den Tagen von Salzwedels Blüte zahlreich und mächtig in der Stadt gewesen sind. Der Himmel weiß, unter welchen ideologischen Vorwänden der ehrbare Rat von Salzwedel sich die mit den sinkenden Geschäftskonjunkturen um so unbequemere Konkurrenz vom Halse geschafft hatte, aber sehr säuberlich muss es selbst nach mittelalterlichen Begriffen dabei nicht hergegangen sein, da Hans Barthold die christlich-germanischen Heldentaten so gänzlich verleugnet, dass er überhaupt von keinem Juden wissen will. Markgraf Johann aber schlug zwei Fliegen mit einer Klappe, indem er die Juden in Salzwedel wieder ansetzte. Er wirtschaftete sowohl aus der Tasche der widerspenstigen Kaufleute von Salzwedel heraus, als auch in seine oder seines Geschlechtes Tasche hinein. Er setzte die Juden an, und sein Sohn Joachim I. presste den vollgesogenen Schwamm wegen – Hostiendiebstahls wieder aus. Joachim II. aber setzte die Juden wieder an, und sein Nachfolger Johann Georg presste den abermals vollgesogenen Schwamm wegen – Zauberei wieder aus. So immer umschichtig: Das war die Judenpolitik der alten Hohenzollern. Und wenn die heutigen Antisemiten auf die „altdeutsche Biederkeit" ihrer monarchischen Gesinnung gar so stolz sind, so muss man zu den sonstigen Vorzügen des Charakters und Geistes, die sie auszeichnen, auch einen gewissen, feinen, historischen Instinkt rechnen. Übrigens sollte es den Ratmannen von Salzwedel nicht so gut werden, dass sie die Kleider wiederkriegten. Noch zu Lebzeiten des braven Hans Barthold, im Jahre 1509, schrieb der Rat der Stadt Hamburg an den Rat von Salzwedel, der „gemeine Kaufmann" in England hätte täglich geschrieben, dass die Leinwand von Salzwedel untüchtig sei und schlechte Maße (quade mate) liefere. Aber der Rüffel half nichts, und es war vielleicht nicht ganz freiwillig, dass Salzwedel im Jahre 1518 aus dem Hansabunde schied; wenigstens scheiterten alle späteren Versuche der Stadt, wieder aufgenommen zu werden. Salzwedel war eine kleine und verödete Stadt, als Ludwig von Westphalen darin gebot. Aber immerhin stand die Tuchmacherei noch auf einer gewissen Höhe. In allen Gassen klapperten die Webstühle, und zu ihrem Takte sangen die fleißigen Tuchknappen ein Lied, von dem Ludolf Parisius in seinen „Bildern aus der Altmark" wenigstens die erste Strophe gerettet hat. Da sie das erste Volkslied sein mag, das zu den Ohren der kleinen Jenny von Westphalen gedrungen ist, verdient sie hier wohl einen Platz. Sie lautet:

Es gingen drei Tuchknapp' zum Tore hinein,

Tritt auf!

Sie kehrten wohl in ihre Herberge ein,

Tritt auf!

Da tranken sie Bier, da tranken sie Wein,

Und wollten recht lustig und fröhlich sein.

Tritt auf und schieß nieder,

Lass 'runter, sperr' wieder!

Tritt auf!

Tritt auf!

So das Arbeits- und auch das Schwanenlied der fröhlichen Tuchknappen von Salzwedel. Je mehr der Handwerks- dem Fabrikbetriebe unterlag, um so schneller starben und verdarben sie. Salzwedel macht noch immer den Eindruck einer verfallenen Stadt. Während in anderen altmärkischen Städten, wie Stendal und Tangermünde, zwischen den prächtigen Domen und Toren des Mittelalters die modernen Fabrikschlote aus dem Boden wachsen und bei den letzten Reichstagswahlen eine erfrischend hohe Anzahl von sozialdemokratischen Stimmen abgegeben wurde, hat Salzwedel nur eine „Weltindustrie": Es versorgt die Prunktafeln der Geldprotzen von Amerika bis Russland mit dem süßen Gebäck seiner Baumkuchen …

Im Jahre 1816 wurde Ludwig von Westphalen von Salzwedel nach Trier versetzt. Hier befreundete er sich innig mit der Familie Marx. „Die Kinder wuchsen zusammen heran. Die beiden hochbegabten Naturen fanden sich. Als Marx die Universität bezog, war die Gemeinsamkeit ihrer künftigen Geschicke schon entschieden.

1843, nach der Unterdrückung der ersten, eine Zeitlang von Marx redigierten ,Rheinischen Zeitung', war die Hochzeit. Von da an hat Jenny Marx die Schicksale, die Arbeiten, die Kämpfe ihres Mannes nicht bloß geteilt, sie hat daran mit dem höchsten Verständnis, mit der glühendsten Leidenschaft Anteil genommen."2 So Engels am Grabe der hochherzigen Frau. Und wenn er dann ihren Rat kühn und klug nennt, „kühn ohne Prahlerei, klug, ohne der Ehre je etwas zu vergeben"3, so mag man wohl sagen, dass Jenny Marx nicht nur dem. Blute, sondern auch dem Geiste nach die rechte Enkelin des alten Philipp Westphalen gewesen ist. So erfüllen sich die Geschicke: Der Stein, den die bürgerlichen Bauleute verworfen haben, ist zu einem Ecksteine der arbeitenden Klassen geworden.

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