Franz Mehring 19051221 Dynastisches

Franz Mehring: Dynastisches

21. Dezember 1905

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 295, 21. Dezember 1905. Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 157-159]

Es geschehen Zeichen und Wunder. Zum Beginne des neuen Jahres könnten im Deutschen Reiche zwei dynastische Jubiläen gefeiert werden, jedoch sie sollen nicht gefeiert werden, weil die Dynastien, die sie feiern könnten, freiwillig darauf verzichten. Freilich in Preußen ist's nicht passiert, denn dann würden allerdings die ehernen Säulen, auf denen das preußisch-deutsche Reich beruht, in ihren Grundfesten wanken, aber doch in Bayern und in Württemberg. Die Fürsten dieser Länder wurden am 1. Januar 1806 Könige von Napoleons Gnaden, und nun wollen ihre Nachfahren auf dem Throne von einem so ehrwürdigen Gedenktage nichts wissen.

Ostensibler Vorwand für Bayern ist die unheilbare Krankheit des Königs Otto, während Württemberg überhaupt keine Gründe angibt, weshalb es nicht jubilieren will. Das wäre so weit nun ganz gut, aber die offiziösen Lobgesänge auf den „nationalen" Sinn des Prinzregenten von Bayern und des Königs von Württemberg sind deshalb doch nicht am richtigen Platze. Von dessentwegen hätte in München und Stuttgart ruhig gefeiert werden können, sintemalen erst vor wenigen Jahren der zweihundertste Geburtstag der preußischen Königskrone mit lärmendem Tamtam verherrlicht worden ist, obgleich an den ehemaligen Trägern dieser Krone unendlich viel mehr Landesverrat auf Kosten der deutschen Nation haftet als an den ehemaligen Trägern der bayrischen oder der württembergischen Königskrone. Der „große" Kurfürst, der Deutschland an Ludwig XIV., oder der „große" König, der Deutschland an Ludwig XV. verriet, versündigte sich unter „nationalem" Gesichtspunkt weit mehr als der bayrische Kurfürst und der württembergische Herzog, die wenigstens doch nur mit dem Erben der Französischen Revolution techtelmechtelten und nicht mit dem verfaulten Despotismus der Ludwige.

Also wenn der „nationale" Gesichtspunkt die Jubiläumsfeier der preußischen Königskrone nicht verbot, so kann er auch die Jubiläumsfeiern der bayrischen und der württembergischen Königskrone nicht verbieten.

Es sind demnach wohl andre Gründe, die das Jubilieren an der Isar und am Nesenbache hindern, Gründe sozusagen der dynastischen Subordination; mit der preußischen Königskrone ist es ein ander Ding als mit der bayrischen und württembergischen Königskrone. Es gibt aber nun noch eine dritte Königskrone von Napoleons Gnaden in Deutschland; das ist die sächsische Königskrone, und wir dürfen mit einiger Spannung der Lösung der Frage entgegensehen, ob man in Dresden dieselbe vorsichtige Resignation beobachten wird wie in München und in Stuttgart.

Man hat an der Elbe und der Pleiße etwas länger Zeit zum Überlegen. Denn als Bayern und Württemberg Rheinbunds-Königreiche wurden, war Sachsen mit Preußen verbündet, und selbst noch in der Schlacht bei Jena, am 14. Oktober 1806, haben die sächsischen Junker redlich die französischen Prügel mit ihren preußischen Spießgesellen geteilt. Jedoch gleich darauf fiel der sächsische Kurfürst – in „schändlichem Verrat", wie die preußischen Historiker sagen – von dem Bundesgenossen ab und lief ins Lager der Sieger über. Dafür wurde ihm sein Lohn denn auch sehr bald ausgezahlt; am 11. Dezember 1806 wurde Sachsen in den Rheinbund aufgenommen und mit der Königskrone begnadigt. Zudem steckte der neue König ein Stück Land von dem eben verlassenen Bundesgenossen ein, die preußische Niederlausitz, und stellte ein Hilfskorps gegen Preußen, mit dem der Krieg noch fortwährte.

Wir dächten, der hundertste Geburtstag einer so ehrlich und redlich erworbenen Königskrone sollte doch gefeiert werden. Es würde sonst ja so aussehen, als hätten die Neidhammel von preußischen Historikern recht, die von der sächsischen Königskrone behaupten, sie sei durch Lug und Trug und Landesverrat erworben und recht aus falschem Katzengolde geschmiedet. Und gerade in unserm guten Leipzig wird die Erinnerung noch nicht erloschen sein an das prächtige Freudenfest, das unsre Stadt zu Ehren der neuen Rautenkrone vor hundert Jahren gab. Auf dem Markte prangte der Altar des Vaterlandes; die Studenten rückten in feierlichem Zuge heran und verbrannten dort ihre Fackeln unter dem Jubelgesange: Gerettet ist das Vaterland! Auch die Kadaver in der akademischen Anatomie schlossen sich dem kursächsischen Nationalvergnügen an; eine erleuchtete Inschrift über der Eingangstür verkündete: Selbst die Toten rufen: Lebe!

Nein, diese schöne Begeisterung kann nicht ganz verflogen sein. Und welche Rücksicht hat der Rautenkranz auf die preußische Königskrone zu nehmen? Das halbe Land hat sie ihm auf dem Wiener Kongresse1 abgeknöpft, und auch der schöne Zorn jenes trutziglichen Kinderliedes kann noch nicht ganz verrauscht sein: „Die Preußen haben's Land gestohlen, wir werden's uns schon wiederholen; Geduld, Geduld, Geduld!" Selten haben sie sich in Dresden und in Berlin verstanden; nur wenn sie sich in der Begeisterung für das Dreiklassenwahlrecht2 oder in dem Niederhauen unbewaffneter Menschen, wie im Mai 18493 und auch sonst in Dresden, oder in ähnlichen Kulturtaten, fanden, da herrschte vollkommene Übereinstimmung. Man kann es verstehen, dass sich die bayrische und die württembergische Königskrone vor der preußischen eklipsieren, aber die sächsische Königskrone darf es nicht, wenn nicht gar zu arge Missverständnisse entstehen sollen.

Uns kann die Sache ja gleichgültig sein, denn sie geht nur monarchische Parteien an. Aber monarchisch sind alle bürgerlichen Parteien, sind die besitzenden Klassen durch die Bank, und nachdem sich diese Klassen und Parteien gerade in Sachsen so unendlich lendenlahm und windelweich gezeigt haben, wäre es doch sehr nett, wenn sie einmal den hehren Glanz der Rautenkrone hoch hielten, gegen die Seite, von wo dieser Glanz stets am stärksten getrübt worden ist.

Wir sind auch überzeugt: An der Elbe und der Pleiße wird man nicht so resigniert sein wie an der Isar und am Nesenbache. Unsre bürgerlichen Parteien rüsten sich sicherlich schon, um mit erhabenem Gepränge den hundertsten Geburtstag der sächsischen Königskrone zu feiern, und, erschüttert durch dies hehre Schauspiel, werden auch wir uns gern an dem sächsischen Nationalvergnügen beteiligen, indem wir aus aufrichtiger Überzeugung die devoteste der devoten Huldigungen von vor hundert Jahren wiederholen:

Selbst die Toten rufen: Lebe!

1 Wiener Kongress – die Zusammenkunft der am Kriege gegen Napoleon I. beteiligt gewesenen Herrscher und leitenden Staatsmänner der meisten europäischen Staaten, die vom September 1814 bis Juni 1815 in Wien stattfand. Sie diente der Restaurierung der politischen Verhältnisse Europas. Der Kongress wurde durch die Wiener Schlussakte vom 9. Juni 1815 abgeschlossen, die von den fünf Großmächten und Portugal und Schweden unterzeichnet wurde. England, Russland, Österreich und Preußen annektierten zum Teil erhebliche Gebiete. Der Deutsche Bund wurde gegründet.

2 Das reaktionäre Dreiklassenwahlrecht, zum Beispiel in Preußen für die Landtagswahlen bis 1918 gültig, war ein indirektes System: Die Urwähler jedes Wahlbezirkes wurden nach der Höhe der von ihnen entrichteten Steuern in drei Klassen eingeteilt, deren jede die gleiche Anzahl von Wahlmännern wählte; diese wählten die Abgeordneten.

3 Schon einige Tage, bevor mit dem Sturm des Volkes auf das Zeughaus am 3. Mai 1849 der bewaffnete Kampf in Dresden begann, hatte sich das sächsische Ministerium mit Preußen über militärische Hilfe gegen die Volksbewegung verständigt. Bereits am Morgen des 5. Mai standen den Barrikadenkämpfern zwei preußische Regimenter gegenüber, und zum Ende des Kampfes, am 9. Mai, war Dresden von preußischen Truppen fast eingeschlossen.

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