Franz Mehring 19080815 Ein Mann

Franz Mehring: Ein Mann

15. August 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Zweiter Band, S. 745-748. Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 248-252]

Dieser Tage ist Herr v. Lucanus gestorben, dessen Name genannt werden musste, wenn man zwar nicht die besten, aber doch die populärsten Namen in Deutschland nennen wollte. Jeder Zeitungsleser kannte ihn als den Henker der Minister, als den Würgengel, der den hohen Würdenträgern des Staates die Krankheit ins Haus trug, an der sie sterben sollten; pochte sein Finger ans Tor, dann musste selbst Miquel mit tränenden Augen, musste selbst Bismarck in bebendem Zorne scheiden.

Beneidet mögen dem Manne wohl wenige sein Nachrichterhandwerk haben, und die kümmerlichen Nachrufe, die ihm die wohlgesinnte Presse spendet, verraten zur Genüge, dass nicht viel Tränen an seiner Gruft geflossen sind. Aber ein Nachfolger ist ihm auf dem Fuße gefolgt; es heißt auch hier: Le roi est mort, vive le roi.1 Aus dem Hasse, den Lucanus mit vollen Händen gesät hat, springt auch nicht der leiseste Widerstand hervor; nicht der leiseste Widerspruch erhebt sich dagegen, dass er einen Nachfolger gefunden hat, und am behutsamsten schweigt der Mann, der am ehesten sprechen müsste, wenn er das wirklich sein wollte, was er zu sein beansprucht, nämlich ein leitender Minister von selbständiger Verantwortlichkeit.

Es ist jetzt gerade ein Jahrhundert her, dass ein preußischer Minister, der etwas auf sich hielt, der seine Ehre darin sah, dem Lande zu dienen und nicht „seinem" König, von dem er so trefflich wie trocken sagte: Ich bin zufrieden mit der Art, wie der König mich fürchtet – dass der preußische Minister Stein die heftigsten Kämpfe führte, um den Posten zu beseitigen, den Herr v. Lucanus eben verlassen und Herr v. Valentini von neuem besetzt hat. Stein sah in dem Geheimen Zivilkabinett einen fressenden Krebsschaden des Landes, eine Kulisse, hinter der die wichtigsten Interessen der Nation zum Spielball fürstlicher Launen wurden, eine Drahtzieherbude, die die Minister zu bloßen Hampelmännern machte. Stein sagte: „Unsere Minister sind beschränkt auf die Rolle erster Kommis eines Büros, das die laufenden Geschäfte expediert. Ihre Stellung hat keine Achtung mehr, und es gibt keinen Zusammenhang in den Geschäften; diese stellen nur noch eine zusammenhangslose Anhäufung von großenteils kindischen Einzelheiten dar." Worte, denen man nicht anmerkt, dass sie schon ein Jahrhundert alt sind; man möchte darauf schwören, dass sie ungleich jüngeren Ursprungs seien.

Stein war kein demokratischer, er war nicht einmal ein liberaler Mann, aber er war ein Mann. Er mochte sich nicht zu der verächtlichen Rolle hergeben, hinterher zu beschönigen, was ohne sein Wissen oder gar wider seinen Willen beschlossen oder getan worden war. Er kannte den borussischen Absolutismus aus den Tagen des alten Fritz, der mit einigen subalternen Schreibern alle Geschäfte des Landes erledigte und seinen besonderen köstlichen Spaß daran hatte, den Ministern ein Schnippchen zu schlagen; man muss den Briefwechsel des Grafen Podewils, des auswärtigen Ministers zur Zeit des Siebenjährigen Krieges, mit dem Kabinettschreiber des Königs, einem gewissen Eichel, gelesen haben, um zu begreifen, wie tief sich die ersten Beamten des Reiches erniedrigen mussten, um die aufgeblasene Schreiberseele bei guter Laune zu erhalten und vielleicht hintenherum etwas von dem zu erfahren, was in der Welt passierte. Bis zum Tode des alten Fritz war es unverbrüchlichste Staatsüberlieferung, dass die Kabinettschreiber keine gebildeten Beamten sein durften; die einzige Ausnahme in den letzten Jahren des Königs bildete der Kabinettsrat Mencken, der Großvater Bismarcks von mütterlicher Seite. Während der König die Minister höchstens einmal im Jahre sah, hatten diese ununterrichteten Schreiber täglich sein Ohr, und da sie natürlich die Gelegenheit benutzten, ihre, wie einer von ihnen sagte, „bescheidene Insinuationes" anzubringen, so füllten sie sein Ohr mit dem ärgsten Klatsch und verursachten jenes launenhafte Regiment des sogenannten großen Königs, das aller Welt unerträglich wurde und bei seinem Tode die preußische Bevölkerung aufatmen ließ, als wäre sie von dem Bösen befreit.

Unter seinen Nachfolgern wurde es freilich nicht besser, denn die Kabinettsregierung zeitigt immer dieselben faulen Früchte, bis dann durch die Schlacht bei Jena die schillernde Oberfläche weggeweht wurde, unter der sich der faulende Sumpf verbarg. Am Vorabend der Schlacht unternahm der eben zum Minister ernannte Freiherr v. Stein den ersten Vorstoß gegen das Geheime Kabinett. Er schilderte es als eine höchst verderbliche Einrichtung. Es habe zwar alle Gewalt, aber keine Verantwortlichkeit, denn die Person des Königs sanktioniere seine Handlungen. Die Verantwortlichkeit bleibe den Ministern. Sie seien auch der öffentlichen Meinung unterworfen, während die Mitglieder des Kabinetts aller Gefahr entrückt seien.

Mit beredten Worten schildert Stein, wie durch das Geheime Kabinett sowohl die Minister demoralisiert würden als auch der König. Unter den Ministern besteht keine Einheit mehr, die für sie ganz unnütz geworden ist. Denn die Unsitten aller ihrer gemeinschaftlichen Überlegungen, die Gültigkeit ihrer gemeinschaftlichen Beschlüsse, sie hängen von der Zustimmung des Kabinetts ab; diese zu erlangen, darauf allein kommt alles an. „Diese Abhängigkeit von Subalternen, die das Gefühl ihrer Selbständigkeit zu einem übermütigen Betragen reizt, kränkt das Ehrgefühl der obersten Staatsbeamten, und man schämt sich einer Stelle, deren Schatten man nur besitzt, da die Gewalt der Raub einer untergeordneten Instanz geworden ist. Wird der Unwille des beleidigten Ehrgefühls unterdrückt, so wird mit ihm das Pflichtgefühl abgestumpft, und diese beiden kräftigen Triebfedern der Tätigkeit des Staatsbeamten werden gelähmt."

Und nun der König! Er lebt in einer gänzlichen Abgeschiedenheit von seinen Ministern; er geht nicht mit ihnen um, er korrespondiert nicht mit ihnen. Die Folge ist Einseitigkeit seiner Eindrücke, Einseitigkeit seiner Beschlüsse, gänzliche Abhängigkeit von seiner Umgebung. Alle Geschäfte der inneren Verwaltung werden ihm durch einen und denselben Kabinettsrat vorgetragen, der mit den verwaltenden Behörden in keiner fortdauernden Verbindung steht, dem die Geschäfte nur bei einzelnen Veranlassungen, sehr oft nur durch einzelne Berichte eines einzigen Ministers zukommen. Stein empfahl als einziges Heilmittel den Ministerstreik; die Minister sollten vom König die Beseitigung des Geheimen Kabinetts verlangen und, falls er nicht darauf einginge, ihre Stellen niederlegen.

Für solche heilsame Kuren ist natürlich der gewöhnliche preußische Ministerschlag nicht zu haben. Aber Stein war schließlich auch Manns genug, die von ihm geplante Obstruktion auf eigene Faust auszuführen. Als die Niederlage von Jena das ganze Unheil und Unwesen der Kabinettsregierung auch für das blödeste Auge sichtbar gemacht hatte, drängte er auf die Beseitigung des damaligen Lucanus, eines ehemaligen Kammergerichtsrats Beyme, der unter seinesgleichen lange nicht der Schlechteste war und auch hoch über dem heutigen Lucanus und Valentini stand; er ist später Minister geworden und zur Zeit der Karlsbader Beschlüsse über seine halbwegs liberalen Tendenzen gestürzt. Zunächst endete Steins Obstruktion damit, dass ihn der König durch eine sehr „ungnädige", in der Tat in wahrem „Sauherdenton" abgefasste Kabinettsorder entließ, aber ein halbes Jahr später musste der König ihn wieder holen, und nun bestand Stein erst recht auf seinem Schein; ehe Beyme nicht entlassen sei, erklärte er einfach, nicht mitzumachen trotz aller Not des Vaterlandes, und so setzte er seinen höchst berechtigten Willen durch; Beyme musste zurücktreten.

Bekanntlich wurde Stein nach wenig über Jahresfrist durch junkerliche Intrigen wieder gestürzt, so bescheiden seine Reformen waren. Aber der Kabinettsregierung hatte er doch einen Schlag versetzt, von dem sie sich nicht wieder völlig erholte bis auf die Tage des Herrn v. Lucanus. Das wurde in den Nekrologen auf diesen Herrn auch von gutgesinnten Blättern zwar in möglichst zurückhaltender Form, aber trotzdem recht deutlich ausgesprochen; auch dass die Mamelukenmehrheit des preußischen Abgeordnetenhauses sich vor einigen Jahren weigerte, eine an die Regierung für den Chef des Geheimen Zivilkabinetts beantragte Gehaltserhöhung zu genehmigen, spricht deutlich dafür, dass selbst den herrschenden Klassen keineswegs wohl ist bei dem gegenwärtigen Zustand.

Aber natürlich langt's bei ihnen nicht so weit, in der Art Steins vorzugehen; sie sind eben seit hundert Jahren heruntergekommen, und man darf nicht einmal sagen, sie wüssten nicht wie. Sie wissen es recht gut, aber der Mut, der Mut!

Am schärfsten trifft die Verantwortung für diese Zustände natürlich den Fürsten Bülow. Als deutscher Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident wäre es in erster Reihe seine Pflicht wie sein Recht, die Beseitigung der Kabinettsregierung zu verlangen, die seine eigene politische oder gar „staatsmännische Wirksamkeit" zum Schatten an der Wand macht. Ein ordentlicher Kerl von Minister lässt sich so was eben nicht bieten, wie Steins Vorbild gezeigt hat, in dessen Denkschrift über die Kabinettsregierung Fürst Bülow recht schöne Zitate finden könnte, viel schönere noch als in seinem geliebten Büchmann. Aber er wird diese Zitate nicht finden und mag sich denn auch nicht wundern, dass er nicht höher eingeschätzt wird, als er sich selbst einschätzt.

Was für den sogenannten „leitenden Staatsmann" eine Frage der politischen Selbstachtung ist, das ist für den deutschen Liberalismus eine Frage des politischen Prinzips. Für ihn ist die Kabinettsregierung immer der Gräuel aller Gräuel gewesen, von seinem Standpunkt aus auch mit vollem Rechte; vor einigen vierzig Jahren nannte Karl Twesten, sicherlich ein Liberaler, wie er im Buche stand, den Chef des Militärkabinetts, den späteren Generalfeldmarschall von Manteuffel, einen „unheilvollen Mann in einer unheilvollen Stellung" und ließ sich lieber von Manteuffel den Arm zerschießen, ehe er vor der Kabinettsregierung seinen Kotau machte. Und nun gar in den liberalen Geschichtswerken die endlosen Litaneien über die Kabinettsregierung, die den preußischen Staat nach Jena geführt habe.

Das sind heute alles vergessene Geschichten! Und wenn der alte Stein auferstände, er würde von denen, die seinen Namen am häufigsten auf den Lippen tragen, als ein höchst kompromittierliches Gespenst in die Gruft seiner Väter zurückkomplimentiert werden. Wie konnte der Mann auch so grob gegen eine leibhaftige Majestät werden; wie konnte er zur Vorbedingung seiner zwar bescheidenen, aber doch ernsthaften Reform machen, dass der König ihn fürchte. Selbst als er vom König den Roten Adler erhielt, der damals immerhin noch nicht solch zerpluderter Vogel war wie heute, kam er sich nur wie ein „bebändeter" Pfingstochse vor, was die Müller-Sagan, Mugdan, Wiemer und Konsorten als tödliche Beleidigung empfinden müssen.

Übrigens wenn heute Stein den Block mustern könnte, von seinem obersten Häuptling bis zu seinem letzten Trossknecht, so würde er sich vermutlich schon von selbst in die Gruft seiner Väter zurückziehen. Denn er war kein Demokrat, nicht einmal ein Liberaler, aber er war ein Mann, und „lucanisieren" ließ er sich niemals, weder so noch so.

1 Le roi est mort, vive le roi! (franz.) – Der König ist tot, es lebe der König!

Kommentare