Franz Mehring 19090220 Ein Rückschritt und ein Fortschritt

Franz Mehring: Ein Rückschritt und ein Fortschritt

20. Februar 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 793-796. Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 296-300]

Der Reichstag beendete gestern die Beratung des sozialdemokratischen Initiativantrags auf reichsgesetzliche Regelung der in Land- und Forstwirtschaft geltenden Arbeitsverhältnisse. Dazu schreibt ein freisinniges Blatt: „Die Debatte bereitete durch viele freiwillig und unfreiwillig komische Beiträge dem Hause recht viel Vergnügen, so dass eine Heiterkeitssalve die andere ablöste." Das klingt recht wenig schmeichelhaft für das hohe Haus, denn die Lage der ländlichen Arbeiter ist am wenigsten geeignet dazu, die Heiterkeit einer gesetzgebenden Versammlung zu erregen; ein Parlament, das sich seiner Pflichten bewusst ist, sollte dafür nur zornigen Unmut und tatkräftige Hilfe bereit haben.

Immerhin darf der Reichstag für seine Heiterkeitsausbrüche mildernde Umstände beanspruchen. Denn das ostelbische Junkerregiment stellte gestern in dem bürgerlichen Domänenpächter Arendt-Lablau einen Preisfechter, der einem grotesken Clown zum Verwechseln ähnlich sah. Deshalb spendete die Rechte bei ihrer geistigen Anspruchslosigkeit ihm doch stürmischen Beifall, aber umso weniger mag man es der Linken verargen, wenn sie den Hanswurst zunächst als das nahm, als was er sich vorstellte. Jedoch ist er damit nicht abgetan, sondern gerade als komische Person sehr ernst zu nehmen; eine Sache, die an solchen Narreteien nicht untergeht, muss gewiss eine sehr schlechte Sache sein, aber doch auch eine Sache, die noch allzu festen Boden unter den Füßen hat.

Die ostelbischen Junker haben nie den Fluch der Lächerlichkeit gescheut, wenn es ihre gräuliche Ausbeutung und Unterdrückung der ländlichen Arbeiter zu verteidigen galt. Schon vor hundert Jahren prostituierten sie sich genau so, wie sie gestern durch ihren bürgerlichen Helfershelfer prostituiert wurden, aber dennoch blieben sie als Sieger auf dem Kampfplatz. Sie bekämpften heftig das Oktoberedikt von 1807, das die Erbuntertänigkeit der Bauern aufhob, und ein wackerer Junker erklärte: lieber drei Schlachten von Jena und Auerstedt als ein solches Edikt; immerhin hatten sie noch den Trost, dass ihnen die persönliche Freiheit der Bauern erleichterte, diese von ihren Höfen zu treiben, dagegen gerieten sie in um so größere Wut, als der Freiherr vom Stein sich nun auch daran machte, die gutsherrliche Polizei und die patrimoniale Gerichtsbarkeit zu beseitigen, also diejenigen Vorrechte der Junker, die ihnen in erster Reihe ermöglichten, die ländliche Bevölkerung an Händen und Füßen zu knebeln.

Stein kannte die Rasse, mit der er es zu tun hatte, und suchte die öffentliche Meinung, soweit es damals eine gab, gegen die Junker mobil zu machen. Er ließ ein Flugblatt unentgeltlich verbreiten, worin die patrimoniale Gerichtsbarkeit gebrandmarkt und die Junker als Gerichtsherren angesprochen wurden: „Ihr könnt nicht die ganze gebildete Welt zu dem Verdacht reizen wollen, dass die Gerichtsbarkeit in euren Händen nur ein Mittel gewesen sei, unter dem Anschein des Rechtes, unterstützt von fahrlässigen, feigen oder eigennützigen Gerichtshaltern, eure Gutseingesessenen alle Gräuel der Willkür und Selbstsucht ungeahndet empfinden zu lassen." Natürlich aber pfiffen die Junker auf die „ganze gebildete Welt", und sowenig wie Steins sittliches Pathos rührte sie der beißende Witz, womit er in der „Königsberger Zeitung" die patrimoniale Gerichtsbarkeit als eine Winkeljustiz zum Nachteil des natürlichen Rechtes und den Esstisch, zu dem der Gerichtsherr den Gerichtsverwalter einlade, als ein Korruptionsmittel verspottete, das zwar unverdächtig aussehe, aber wie feines Gift wirke, womit der Rittergutsbesitzer als ein Mann dargestellt wurde, der Kläger, Richter und Henker in einer Person sein wolle, und der Aktenwagen des Patrimonialrichters, der auf den Hof gefahren komme, als ein Thespiskarren, womit wandernde Komödianten umherzögen.

Alles das prallte an dem dicken Fell der Junker ab, ganz wie heute, und ganz wie heute setzten sie sich auf das hohe Pferd der Uneigennützigkeit. In einer Eingabe an Stein erklärten sie am 25. Oktober 1808, die Patrimonialgerichtsbarkeit sei ihnen lästig und kostspielig, denn meistens erließen sie die Sporteln. Nicht Herrschsucht, nicht Gewinnsucht leite sie, sondern Fürsorge für das Wohl ihrer Einsassen. In den meisten Fällen schlichte der Gutsherr selbst die entstehenden kleinen Händel zur Zufriedenheit beider Teile, so dass viele, sehr viele Güter im Lande seien, wo Jahre hingingen, ehe ein Gerichtstag gehalten werde. Werde jetzt den Gütern die Gerichtsbarkeit genommen, so müsse der Landmann in die Stadt, verliere dort Geld und Zeit, besuche das Wirtshaus, trinke und spiele oder zanke, werde für den Ackerbau verdorben, vernachlässige die eigene und die gutsherrliche Wirtschaft, und schließlich kämen sie alle an den Bettelstab. Es ist wörtlich dieselbe Litanei, wie sie gestern der junkerliche Helfershelfer Arendt im Reichstag vorbrachte, nur dass er mit der persönlichen Übertreibung des Epigonen aus dem „Bettelstab" lieber gleich das „Zuchthaus" machte.

Stein war nun freilich nicht der Mann, die junkerliche Unverschämtheit bloß von der heiteren Seite zu nehmen. Gemeinsam mit Schön antwortete er den Biedermännern: „Ihre bestimmte Erklärung, dass die Patrimonialgerichtsbarkeit den Gutseigentümern bei weitem mehr nachteilig als nützlich gewesen ist, spricht dafür, dass Sie, meine Herren, Ihre Pflichten als Gerichtsherren wahrgenommen und nicht Kosten gescheut haben, um Ihren Obliegenheiten nachzukommen." Zwar könne es bei einer so über alles wichtigen Sache, wie es die Verwaltung von Recht und Gerechtigkeit sei, nicht auf untergeordnete finanzielle Rücksichten ankommen. „Aber Ihre offene Erklärung, die Ihrer Würde als Repräsentanten des wichtigsten Standes im Staate angemessen ist und die das Vertrauen, das das Volk in Sie setzt, begründet, ist mir deshalb wichtig, weil dadurch einige Hauptschwierigkeiten entfernt werden." Das geltend gemachte Bedenken beruhe auf einem Missverständnis: „Denn auch nach Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit wird es jedem Gutsbesitzer, wie jedem Manne, gegen den das Volk Achtung und zu dem es Vertrauen hat, überlassen bleiben, Streitigkeiten zur Zufriedenheit beider Teile zu schlichten, und auch fernerhin wird es jedem Gutsbesitzer erlaubt sein, die notwendig zu zahlenden Gerichtskosten für die Personen zu entrichten, die auf seinem Gute wohnen. Überhaupt soll und wird dadurch niemand beschränkt werden, denen, die ihm zunächst leben, und überhaupt Gutes zu tun." Und zum Schlüsse taten Stein und Schön das naive Zugeständnis der Junker, dass von ihnen oft in Jahren kein Gerichtstag gehalten werde, mit den Worten ab: „Die Rechtspflege kann in einem wohlgeordneten Staate niemals ruhen."

Diesem vernichtenden Hohne waren die Junker nun nicht gewachsen. Man hätte also erwarten können, dass sie sich wenigstens in schamhaftes Schweigen hüllen würden. Aber wer diese Erwartung gehegt hätte, würde dadurch nur bekundet haben, dass er die Rasse nicht kennt. Jene Verecundia, die nach Treitschkes Behauptung germanischen Menschen niemals fehlen soll, fehlt den ostelbischen Junkern ganz und gar. Kaum hatten sie die Abfertigung in der Tasche, in der Stein und Schön ihnen die hundertfach verdiente Verachtung bezeugt hatten, als sie Gefahr im Verzug witterten und den eigenen Kot verschlangen, um nur ja ihren schmutzigen Appetit zu befriedigen. Hatten sie am 25. Oktober erklärt, dass an „vielen, sehr vielen Orten" überhaupt kein Gerichtstag abgehalten werde, so sagten sie am 2. November, das sei nur an „einigen Orten" nicht der Fall, und hatten sie am 25. Oktober erklärt, die Patrimonialgerichtsbarkeit verursache ihnen nur Kosten, so erklärten sie am 2. November, sie sei so einträglich für sie, dass sie für den Fall ihrer Aufhebung eine Entschädigung erhalten müssten, sintemalen ein fester Staat jeden bei dem Seinigen erhalte. Mit Recht bemerkt dazu Max Lehmann, der bürgerliche Biograph Steins: „Man bedauert den großen Reformator und seine wackeren Mitarbeiter, dass sie sich mit solchen Widersachern herumschlagen mussten." Stein verschmähte diesem Gesindel gegenüber nun selbst den Hohn und erklärte am 10. November einfach, die Patrimonialgerichtsbarkeit werde aufgehoben werden, worauf er vierzehn Tage später, am 24. November, seine Entlassung in der Tasche hatte.

Die Patrimonialgerichtsbarkeit aber blieb und wurde erst 1848 durch die aufständischen Bauern so gründlich aus der Welt gefegt, dass selbst die Junker nach dem Siege der Gegenrevolution sie nicht wiederherzustellen wagten. Diese revolutionäre Methode hatte ihre entschiedenen Vorzüge, wie man auch daran sehen kann, dass die gutsherrliche Polizei, die durch die famose Kreisordnung von 1872 beseitigt wurde, noch munter fortlebt, mit dem einzigen für die von ihr Geplagten ganz unwesentlichen Unterschiede, dass sie den Junkern nicht mehr angeboren, sondern von Staats wegen übertragen wird. In ihrem Wesen wird sie noch unerträglicher, weil sie in ihrer Form milder erscheint.

Wenn nun die gegenwärtigen Junker durch ihr geistiges Auftreten im Reichstag sich ihrer Ahnen, die mit dem Freiherrn vom Stein so kurzen Prozess machten, durchaus würdig erwiesen, so wiederholen sich bekanntlich historische Situationen niemals völlig, und ein doppelter Unterschied ist wohl bemerkbar, ein Schritt nach rückwärts, aber auch ein Schritt nach vorwärts. Ein Schritt nach rückwärts, denn heute haben die Junker nicht einmal einen Freiherrn vom Stein sich gegenüber, sondern nur einen Fürsten Bülow, den gehorsamsten aller Junkerknechte, die seit hundert Jahren einen preußischen Ministersessel geziert haben. Ein Schritt nach vorwärts, da selbst in der Kapuzinade des Herrn Arendt ein Klang des Schmerzes darüber erzitterte, dass die ländlichen Arbeiter sich wieder zu entsinnen anfangen, auf welche Weise sie allein sich alle junkerlichen Plackereien vom Halse schaffen können.

Wer hätte nicht die tragische Wucht empfunden, womit Herr Arendt erklärte, die Junker müssten auf ihren Gütern fünf gerade sein lassen. Das heißt aus dem Junkerlichen ins Deutsche übersetzt: Sie dürfen nicht mehr wagen, die lederne Peitsche über ihre Knechte und Taglöhner zu schwingen, wie es ehedem ihre liebe Gewohnheit war, und sie müssen sich auch sonst im Schikanieren ihrer „Leute" gewisse Schranken auferlegen, denn die „Leutenot" zwackt und zwickt den Geldbeutel der Junker, den einzigen Punkt, wo sie empfindlich sind. Diese Schmerzenstöne des Herrn Arendt waren echt, nur um ihretwillen kann ihm sein sonstiges Geschwafel verziehen werden.

Wir wissen wohl, dass es nur erst ein Anfang ist, aber doch ein Anfang, der das Ding am richtigen Ende packt, ein anerkennenswerter Unterschied von den hoffnungslosen Appellen an die Ehre und die Vernunft der Junker, womit die Schön und Stein vor hundert Jahren so gänzlich gescheitert sind.

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