Franz Mehring 19010103 Ein wild gewordener Junker

Franz Mehring: Ein wild gewordener Junker

3. Januar 1901

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 2, 3. Januar 1901.Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 152 f.]

Sehr beziehungsreich und sehr anmutsvoll heißt es in dem Wahlbrief der Durchlaucht Bülow an die Exzellenz Liebert:

Auf den wildgewordenen Spießbürger und phrasentrunkenen Gleichmacher Robespierre folgt der Degen Bonapartes. Er musste kommen, um das französische Volk von der Schreckensherrschaft der Jakobiner und Kommunisten zu befreien.

Bei einem biedern Dorfschulmeisterlein aus der Kassubei würde man sich über diese Geschichtsauffassung, die einen Wauwau durch einen anderen Wauwau verscheuchen lässt, nicht wundern. Dem Verantwortlichen der deutschen Reichspolitik aber hätte man trotz der falschen Brillanten, mit denen er aus Büchmann1 und aus dem Großen Meyer seine Reden schmückt, ein ganz klein wenig mehr Verständnis für historische Zusammenhänge zugetraut. Aber für das Amt eines Kanzlers genügt schließlich, kein Schwarzseher zu sein.

Das Wirken Robespierres und der Degen Bonapartes stehen unleugbar in einem inneren Zusammenhang, von dem der gute Bülow sich allerdings nichts träumen lässt. Robespierre entstammte der kleinbürgerlichen Klasse, die späterhin Musterexemplare von ausgewachsenen Spießbürgern geliefert hat, aber er war alles andere als ein wildgewordener Spießbürger. Denn als der Brand der bürgerlichen Revolution in dem morschen Gebälk des feudalen Frankreichs wütete, bildeten die Kleinbürger, die nichtzünftigen Handwerksmeister und Handwerksgesellen, den urrevolutionären Sauerteig in der buntgemischten Masse der Opposition. Und als die erschreckten Nachteulen des legitimistischen Europas mit gesträubten Federn gegen die Revolution anstoben, war es eine historische Notwendigkeit, dass Robespierre und seine Klassengenossen einige hundert Junkerköpfe über das große Schermesser springen ließen und dem von innen und außen drohenden weißen Schrecken mit dem roten Schrecken ein Paroli boten. So retteten sie die bürgerliche Revolution gegen die feudale Konterrevolution.

Nichts anderes tat der Degen Bonapartes. Die Robespierreschen Kleinbürger und Proletarier mussten schnell ihre Rolle ausspielen, weil der bürgerliche Charakter der großen Revolution ihren Zielen keine Entwicklungsmöglichkeiten bot. Da kam die Militärdiktatur Bonapartes, raffte die revolutionären Kräfte Frankreichs zusammen und parierte den Vorstoß der feudalen Konterrevolution mit so wirksamen Gegenstößen, dass sie ächzend in die Knie brach. Auf den Blachfeldern von Marengo2, Austerlitz und Jena floss das Blut für dieselbe Sache wie auf dem Place de la Concorde in Paris: für die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution und für die ungehemmte Entwicklung der neuen Produktionsweise.

Aber Herr Bülow, der die Grundlagen des bürgerlichen Staates nie zu erfassen vermochte, wollte mit dem Säbel gegen die Sozialdemokratie auftrumpfen. So verwandelte er, der Geschäftsführer eines bürgerlichen Staates, die jakobinischen Beflügler der bürgerlichen Revolution in Kommunisten und ruft Pech und Schwefel auf sie herab. Dass während der ganzen Französischen Revolution die Verschwörung der Gleichen unter Gracchus Babeuf als einzige kommunistische Note anklang, weiß jeder Primaner. Der Kanzler des Deutschen Reiches weiß es nicht.

Sache der bürgerlichen Klasse in Deutschland wäre es, den wildgewordenen Junker und phrasentrunkenen Knutenschwärmer zur Ordnung zu rufen. Sie wird es natürlich nicht tun, denn wie die französische Bourgeoisie sich 1852 unter den Degen des falschen Bonaparte duckte, kriecht die deutsche Bourgeoisie mit schlotterndem Gebein vor dem Phrasengebimmel des Herrn Bülow, der ihr unter verächtlichen Fußtritten Schutz vor dem verspricht, was beiden in bösen Nächten als drohende Schreckensherrschaft moderner Jakobiner und Kommunisten erscheint.

1 Georg Büchmann (1822-1884) gab die Zitatensammlung „Geflügelte Worte" heraus.

2 In der Schlacht von Marengo bei Alessandria (14. Juli 1800) siegte Napoleon Bonaparte über den österreichischen General Melas.

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