Franz Mehring 19101105 Eine feudale Ruine

Franz Mehring: Eine feudale Ruine

5. November 1910

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Erster Band, S. 177-180. Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 292-295]

Eben ist mit rauschendem Tamtam der hundertste Geburtstag der Berliner Universität gefeiert worden, und umso mehr überrascht es, dass die wohlgesinnten Patrioten mit schamhaftem Schweigen an einem anderen hundertsten Geburtstag vorüberschleichen, der doch ein echt preußischer Geburtstag ist: Wir meinen den hundertsten Geburtstag der preußischen Gesindeordnung am 8. November 1810.

Aber vielleicht haben sie ihre guten Gründe dazu, denn der Glanz der Stein-Hardenbergischen Gesetzgebung, worin sie sich so manches Jahrzehnt gesonnt haben, ist mehr und mehr verblichen. Dank dem Fleiße deutscher und französischer Forscher wissen wir heute, dass der „ruchlose Korse" in viel höherem Grade noch der Wohltäter namentlich des ostelbischen Deutschlands gewesen ist als durch die allgemeine Tatsache, dass er das vermoderte Reich und den nicht minder vermoderten Staat des alten Fritz zertrümmert hat. Indem Napoleon aus den Ländern, die er im Tilsiter Frieden dem preußischen König entriss, im Osten das Herzogtum Warschau und im Westen das Königreich Westfalen schuf, in beiden Ländern aber durch seine Vasallen moderne Einrichtungen schaffen ließ, setzte er dem preußischen König und dem preußischen Junkertum zwei Sporen in die Flanken, die diese edle Rasse, wenn auch unter heftigem Widerstreben und unter wütendem Geheul, auf die Bahn der Reformen trieben.

Die erste Reform war das vielberühmte Oktoberedikt von 1807, das die bäuerliche Erbuntertänigkeit aufhob. Es verdankte sein Dasein der Angst vor den bäuerlichen Reformen des Herzogtums Warschau; der Kanzler Schrötter betrieb es, noch ehe der von Napoleon empfohlene Reformminister Freiherr vom Stein die Zügel ergriffen hatte, unter dem einleuchtenden Gesichtspunkt, dass die ost- und westpreußischen Bauern – und aus Ost- und Westpreußen bestand damals im wesentlichen der preußische Staat – in Massen über die Grenze gehen würden, wenn sie im Herzogtum Warschau bessere Existenzbedingungen finden würden als unter der hohenzollernschen Herrschaft. Bekanntlich war das Edikt nichts weniger als eine epochemachende Neuerung; es hinkte vielmehr mühsam der englischen, französischen, italienischen, holländischen, schweizerischen, dänischen, ja selbst der österreichischen, badischen und schleswig-holsteinischen Gesetzgebung nach, und neuerdings haben sogar junkerliche Schriftsteller, die es immer noch nicht verdauen können, mit nicht ganz unebenem Hohne gesagt, indem das Edikt den Bauern zwar die Freiheit der Person, aber nicht auch die Freiheit des Eigentums gewährte, habe es die bäuerliche Klasse in eine viel üblere Lage gebracht, als in der sie sich vorher befunden hätte.

Immerhin hatte das Edikt aber, wenn es den Bauern auch nur erst die Freiheit der Person gab, doch einen reellen Vorteil für sie. Es beseitigte mit dem Zwangsgesindedienst eine ihrer größten Plagen. Und es ist nun höchst charakteristisch, dass derselbe Kanzler Schrötter, der zuerst das Edikt aus Angst vor dem Auswandern der Bauern angeregt hatte, auch der erste war, der trotz des Edikts die Aufrechterhaltung des Zwangsgesindedienstes durch eine Gesindeordnung befürwortete. Ganz im Stil der Junkerklasse, die ihre unsaubersten Interessen durch salbungsvolle Redensarten zu verkleiden sucht, wurde der edle Junker zu seinem edlen Vorschlag nur durch die Sorge um das geistige und leibliche Heil der Bauernkinder veranlasst. Er stellte den Gesindezwang auf dieselbe Stufe mit dem Schulzwang; wie die Eltern gezwungen würden, ihre Kinder in die Schule zu schicken, damit sie nicht ohne die allernotwendigste Bildung aufwüchsen, so müssten sie auch gezwungen werden, ihre Kinder in den Junkerdienst zu geben, damit nicht die borussische Herrlichkeit in einem allgemeinen Müßiggang versumpfe.

Stein jedoch, der nun im Sattel saß, hatte kein Ohr für diese Forderungen, in denen sich Albernheit und Frechheit so glücklich das Gleichgewicht hielten. Er fertigte sie kurzweg mit der Bemerkung ab: „Die bisherige Neigung zum Müßiggang kann nur als eine Folge des Zwanges betrachtet werden und wird sich eben dann verlieren, wenn dieser Zwang und die davon unzertrennliche schlechte Bezahlung aufhört." Natürlich hörten deshalb aber die Junker nicht auf zu wühlen; sie verlangten mindestens einen fünfjährigen Dienstzwang für den gesamten männlichen und weiblichen Nachwuchs der ehedem erbuntertänigen Bevölkerung, Maximal-, aber keineswegs Minimallöhne nicht nur für die Knechte und Mägde, sondern auch für die Taglöhner und ähnliche schöne Dinge mehr. Jedoch auch Stein und sein Mitarbeiter Schön blieben fest; sie verwarfen jede Art von Gesindeordnung, die immer, sei es in dieser, sei es in jener Form, auf die Wiederherstellung der Erbuntertänigkeit hinauslaufe.

Es ist bekannt, durch welches infame Mittel dann die Junker mit diesem hartnäckigen Menschen aufräumten; sie denunzierten Stein wegen seiner franzosenfeindlichen Tendenzen in Paris. Aber mit Stein wurden sie die Sporen nicht los, die Napoleon in ihre Flanken gesetzt hatte. Hatten die Reformen im Herzogtum Warschau den Anstoß zu dem Oktoberedikt von 1807 gegeben, so gaben nach der Räumung der Mark Brandenburg durch die französischen Truppen und der Rückkehr des Königs von Königsberg die Reformen des Königreichs Westfalen, die sich vor den Toren Berlins vollzogen, den Anstoß zu der Gesetzgebung Hardenbergs. Ihre Urheber selbst sagten ganz ehrlich, man müsse dem „gefährlichen westfälischen Nachbarn in der Gunst der Opinion (der öffentlichen Meinung) den Rang ablaufen", und selbst wenn er es nicht gesagt hätte, so offenbarte sich seine ganze Gesetzgebung, als sie sich gerade vor hundert Jahren in einer ersten großen Welle zu ergießen begann, als ein keineswegs verbesserter Abklatsch der Gesetze, mit denen der König Morgen-Wieder-Lustig diejenigen Deutschen beglückte, die seinem Zepter Untertan waren. Freilich mit der einen Ausnahme, die jede Regel bestätigen muss: Die Gesindeordnung Hardenbergs war echt preußisches Gewächs.

Es ist richtig, dass in ihr nicht alle Blütenträume der Schrötter und Genossen reiften. Das verbot die „gefährliche" westfälische Nachbarschaft. Den Zwangsgesindedienst konnte die Gesindeordnung nicht wieder einführen, auch nicht die Maximallöhne, die zu überfordern nach der biederen kurmärkischen Gesindeordnung vom 11. Februar 1769 dem Gesinde bei Zuchthausstrafe verboten war. Auf diese Proben christlich-germanischer Gesinnung mussten die Junker tränenden Auges verzichten. Auf der anderen Seite ist es jedoch blühender Unsinn, wenn Treitschke sagt, die Gesindeordnung Hardenbergs sei, nachdem der harte Gesindezwang kaum erst aufgehört habe, den Zeitgenossen als eine radikale Neuerung von unerhörter Kühnheit erschienen. Stein und Schön hatten jede Gesindeordnung als ein Attentat auf das Oktoberedikt verworfen und dieser Überzeugung noch in dem – von Schön verfassten – politischen Testament, das Stein bei seinem endgültigen Austritt aus dem preußischen Staatsdienst unterschrieb, unumwunden Ausdruck gegeben.

In der Tat war die neue Gesindeordnung auch unter den damaligen Verhältnissen nichts anderes als ein Ausnahmegesetz gegen die wehrlosesten Schichten der Arbeiterbevölkerung, und die Junker brauchten sie nicht bloß mit einem weinenden, sondern konnten sie auch mit einem lachenden Auge betrachten. Mit dem minderen Rechte des Gesindes gegenüber der Herrschaft, mit der häuslichen Versklavung des Gesindes, mit dem lieblichen Prügelparagraphen usw. hatten sie doch alles Wesentliche erreicht, was sie wollten, zumal da es bei der gutsherrlichen Polizei und der Patrimonialgerichtsbarkeit blieb.

Mit der preußischen Verfassung von 1850, die alle Preußen als gleich vor dem Gesetz erklärte, hörte die Gesindeordnung von Rechts wegen auf zu existieren, aber keineswegs von Gewalt wegen. Da es die heiligste Überlieferung des preußischen „Rechtsstaats" ist, dass in ihm allemal Gewalt vor Recht geht, so blieb es bei der Gesindeordnung, und es war eigentlich überflüssige Mühe, dass sich das feile Obertribunal noch im Schweiße seines Angesichtes abquäke, zu beweisen: Die Verfassung sage zwar ausdrücklich, dass alle Preußen vor dem Gesetz gleich sein sollten, aber sie meine das Gegenteil. Die Gesindeordnung blieb nicht nur bestehen, sondern wurde noch verschönert durch das Gesetz vom 24. April 1854, betreffend die Verletzung der Dienstpflichten des Gesindes und der ländlichen Arbeiter, das unter anderem jeden Versuch des ländlichen Proletariats, seine Lebenshaltung durch Arbeitseinstellungen zu verbessern, mit Gefängnisstrafe nicht unter einem Jahre bedroht.

So ragt diese feudale Ruine noch in die moderne Welt hinein, und es mag auch von ihr gelten, was Genosse Bebel jüngst von der Theaterzensur sagte: Schwerlich wird sie eher verschwinden, ehe dem junkerlichen Unwesen im Deutschen Reiche der große Kehraus getanzt worden ist. Gleichwohl dürfen wir heute schon mit einiger Genugtuung sagen, dass die preußische Gesindeordnung an ihrem hundertsten Geburtstag als recht zerpluderte Mummelgreisin erscheint. Das „Gesinde" ist sich längst seiner Menschenwürde bewusst geworden; es pfeift auf die „Bescheidenheit" und „Ehrerbietung", womit es die „Befehle und Verweise der Herrschaft" annehmen soll; trotz Knigge hat es sich um den guten Ton große Verdienste erworben, indem es den „Sauherdenton", den die Gesindeordnung zum Vorrecht der Herrschaft macht, in ganz nette Manieren abzudämpfen verstanden hat, und vor dem Prügelparagraphen haben selbst Herrschaften vom Temperament des Knuten-Örtel eine ganz „ehrerbietige" Scheu. Wenn die häusliche Versklavung das Gesinde schlechter stellt als andere Schichten der arbeitenden Klassen, so bietet sie ihm dafür desto reichlichere Gelegenheit, die „Herrschaft" zu erziehen, und es soll am hundertsten Geburtstag der Gesindeordnung nicht verkannt werden, dass sie in dieser Beziehung eine recht wohltätige Wirkung gehabt hat.

Bei alledem aber bleibt auf diesem Gebiet noch viel zu tun übrig, und der Kampf gegen die Gesindeordnung als Produkt echt preußischer Gesetzgebung darf noch lange nicht aus der ersten Reihe des proletarischen Emanzipationskampfes verschwinden.

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