Franz Mehring 19091219 „Hamlet" ohne Helden

Franz Mehring: „Hamlet" ohne Helden

19. Dezember 1908

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 448-452. Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 253-256]

Den König strammen" war der technische Ausdruck für das Bemühen der höfisch-junkerlichen Kamarilla, den nach dem 18. März 1848 gänzlich niedergebrochenen König Wilhelm IV. wieder zu neuen Taten souveräner Selbstherrlichkeit anzuspornen. Nach den hier und da in der bürgerlichen und nicht zuletzt auch offiziösen Presse auftauchenden Nachrichten sollen ähnliche Bemühungen jetzt wieder am Werke sein, und wenn es auch nicht gemeldet würde, so müsste man es voraussetzen. Es kann gar nicht anders sein, als dass der Zusammenbruch der letzten Zeit die höfischen Cliquen durcheinandergewirbelt hat und dass der höfischen Intrigen Spiel wieder in seiner Sünden Blüte steht.

Ist die Tatsache selbstverständlich und unzweifelhaft, so ist freilich das Wie? und Wo? Umso dunkler, und es lohnt sich auch nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen und den Schachzügen nachzuspüren, die die feindlichen Cliquen in den bürgerlichen Blättern gegeneinander vollführen. Im ganzen und großen lässt sich nur erkennen, dass die ostelbischen Landjunker sich von neuem in der Tätigkeit üben, die sie schon 1848 mit einem für sie so erfreulichen Erfolg vollbracht haben, während die westelbischen Schlotjunker nach wie vor äußerst erbittert sind und von dem „Bankrott der Krone" in einem Tone sprechen, der an erfrischender Deutlichkeit kaum etwas zu wünschen übrig lässt. Diese Verteilung der Rollen lässt sich auch sehr gut verstehen; für die bankrotten Junker des Ostens ist der absolute König, „wenn er ihren Willen tut", die sicherste und unentbehrlichste Trumpfkarte in ihrem Spiele, während die potenten Kapitalisten des Westens von einer Ehrfucht vor dem Königtum oder sonst einer himmlischen oder irdischen Macht, die ihnen ihre profitablen Geschäfte stört, in keiner Weise gebändigt werden. Die „Rheinisch-Westfälische Zeitung" und selbst die „Kölnische Zeitung" gebärden sich, als ob sie mindestens schon mit einem Fuße auf der Barrikade ständen, und selbst die Absicht der Krone, einige Schlösser am Rhein zu verkaufen, wird als ein Attentat auf die heiligsten Gefühle der rheinischen Bevölkerung an die Wand gemalt, so gleichgültig dieser Bevölkerung vermutlich das Schicksal der mehr oder weniger verfallenen Baracken sein mag.

Über all dem lauten und leisen Rumoren wird aber ganz vergessen, die vaterländischen Feste zu feiern, wie sie fallen, was sonst ja gewiss nicht der Fehler des neudeutschen Regiments war. Allerdings ist noch vor einigen Wochen der hundertste Geburtstag der preußischen Städteordnung geehrt worden mit dem herkömmlichen Tamtam und dem herkömmlichen Aufwand an Schönfärberei; namentlich wurde dabei in aller patriotischer Sittsamkeit verschwiegen – auch von dem städtischen Redner im Berliner Rathaus –, dass die heutige Städteordnung in ihrem entscheidenden Gesichtspunkt nur eine Karikatur auf die Städteordnung Steins ist. Aber dann hat man aufgehört, der Zeit von vor hundert Jahren zu gedenken, obgleich sie gar sehr an die heutige Zeit erinnert und ein so klassisches Bild höfischen Intrigenspiels bietet, wie man sich nur wünschen mag.

König von Preußen war damals Friedrich Wilhelm III., der bei Jena so höchst verdiente Prügel erhielt, aber als unvergleichlicher „Heldenkönig" durch mindestens drei bronzene oder marmorne Bildsäulen in Berlin verewigt ist. Das grauenvolle Unglück, das er über den Staat gebracht hatte, rührte ihn nicht im mindesten; er schrieb nur Briefe voll hündischer Kriecherei an den Sieger Napoleon, den er außerdem auf Kosten der preußischen Staatskasse in Berlin bewirten ließ; es ist eine in der Geschichte wohl einzig dastehende Tatsache, dass ein besiegter, in den letzten Winkel seines Reiches gejagter Fürst den Eroberer in seiner Hauptstadt als willkommenen Gast freihalten lässt. Da Napoleon aber nicht gerade an Sentimentalität litt, so war mit alledem nichts ausgerichtet, und nun ließ Friedrich Wilhelm III. die Dinge gehen, wie sie wollten. Von Stadt zu Stadt gejagt, behielt er doch noch Zeit, höfische Jagden abzuhalten, und von den Prügeln, die noch auf seinem Rücken brannten, sprach er wie von Ereignissen, die ihn nicht im entferntesten angingen. Die englischen und russischen Diplomaten, die ihn auf seiner Flucht begleiteten, wissen nicht genug von seiner Apathie zu erzählen; einer von ihnen schrieb: „Er hat, scheint es, noch zehn Königreiche zu verlieren, er verdient kein besseres Los"; und selbst die Oberhofmeisterin seiner Gemahlin meinte: „Seine Laune und seine Verblendung sind unser Unglück."

Dennoch wusste Napoleon auch diese träge Masse von Fleisch und Knochen auf die Beine zu bringen, indem er dem König nach dem Frieden von Tilsit den Freiherrn vom Stein zum Vormund setzte. Der fremde Eroberer hatte größeres Mitleid mit dem verwüsteten und zerstörten Lande als sein Angestammter von Gottes Gnaden, der nun freilich, eben in seinem Gottesgnadendünkel gekitzelt, wie ein statisches Maultier gegen den ihm gesetzten Vormund auszuschlagen begann. Stein war aber nicht der Mann, sich von dergleichen Leuten schrecken zu lassen, und durfte sich zunächst mit einiger Genugtuung sagen: „Ich bin damit zufrieden, wie mich der König fürchtet." Das ging nun aber nur, solange es ging, denn die höfischen Cliquen waren alsbald bei der Hand, den unbequemen Minister wegzubeißen, natürlich mit Mitteln, die einer so erlauchten Gesellschaft würdig waren.

Zunächst verrieten sie einen Brief Steins, von dem sie wussten, dass er einen franzosenfeindlichen Inhalt habe, an die französische Polizei. Dann machten sie die Königin Luise und sämtliche Prinzessinnen des erlauchten Herrscherhauses mobil, weil Stein auf Einschränkungen der verschwenderischen Hofhaltung drängte. Die deutsche Literatur kennt nichts Rührenderes als die Schmerzensschreie dieser edlen Frauen über den drohenden Hungertod, weil sie mittags nur vier und abends nur drei Gerichte auf die Tafel bekamen, zur Zeit, wohlverstanden, wo der Hungertyphus in den Provinzen raste, die der preußischen Krone noch verblieben waren. Dann aber wurde dem Fasse der Boden ausgeschlagen, als die Königin auf den gloriosen Einfall geriet, eine Einladung des von ihr vergötterten Zaren nach Petersburg anzunehmen. Das war nicht nur politisch im höchsten Grade unschicklich, weil der Zar im Frieden von Tilsit seinen preußischen Bundesgenossen aufs schnödeste verraten hatte und ihn nun in Petersburg haben wollte, um ihn wieder zum willenlosen Russenknecht zu machen, sondern auch pekuniär unmöglich, da kein Geld da war, die Pracht- und Prunkreise zu bezahlen. Königliche Schlösser gab es damals nicht zu verkaufen, da sie sich meistens in Feindeshand befanden.

Indessen die Königin wusste Rat, indem sie für ihre Vergnügungstour eine Summe Geldes beanspruchte, die der verheerten Landschaft Masuren gehörte und für deren Wiederherstellung bestimmt war. Davon wollte Stein als ehrlicher Mann nichts wissen, zumal da er schon aus politischen Gründen die Reise nach Petersburg verwarf, die übrigens auch – um das gleich vorwegzunehmen – die von ihm befürchteten Folgen gehabt hat, indem die preußische Politik trotz der Tilsiter Erfahrungen wieder in die alte Russenknechtschaft verfiel. Die Königin ließ nun alle höfischen Minen springen, um Stein zu stürzen; ihre Gehilfen dabei waren ihre Oberhofmeisterin v. Voß und der Staatsrat Nagler, von denen Schön, die rechte Hand Steins, unterm 3. Dezember 1808 in sein Tagebuch schrieb: „Wie sollte die Frau (v. Voß) nicht unwahr sein können, da sie sechzig Jahre bei Hofe ist? Ihr Intimus Nagler wird schon das Seinige tun. Dieser Mann zeigt klar, was das Extrem der Pfiffigkeit ist. Keine Küchenmagd ist ihm zu schlecht, um sie nicht – wie er sich ausdrückt – zu bearbeiten. Er putzt Schuhe und trägt Tassen aus, um nur seine Pläne auszuführen. Er ist an

die Königin gekommen und ihr Ratgeber. Sie ist in guten Händen." Mit diesen Helfershelfern arbeitete die Königin an dem Sturze Steins. Stein machte noch am 22. November 1808 einen Vorstoß gegen die höfische Intrige: „Das Wohnzimmer der Frau v. Voß wird von Besuchern nicht leer; hier erscheinen Gesandte, Soldaten, Geschäftsleute, Menschen aller Art und Sinnes – wie ist bei einer solchen Einrichtung ein Geheimhalten möglich, und die wichtigsten Dinge werden zu Stadtgesprächen." Aber der ehrliche Stoß glitt an dem Lug- und Trugsystem der höfischen Mine ab; schon zwei Tage später, am 24. November 1808, war Stein entlassen.

Ein tragikomisches Nachspiel ergab sich dann noch dadurch, dass die Königin von Nagler die Briefe zurückverlangte, die sie ihm in dieser Haupt-und Staatsaffäre geschrieben hatte. Dessen weigerte sich der Pfiffikus, und die Königin klagte, dass sie eine Schlange an ihrem Busen genährt habe. Trotzdem oder vielleicht auch ebendeshalb machte Nagler eine glänzende Karriere im preußischen Staate; er wurde später preußischer Gesandter am Bundestag in Frankfurt a. M. und einer der ruchlosesten Demagogenverfolger, dazu aber preußischer Generalpostmeister, als welcher er den Massenbriefdiebstahl in so raffiniert-spitzbübischer Weise organisierte, wie das nirgend sonst je erhört worden war.

Sieht man von diesen Briefen der Königin ab, so liegt die damalige höfische Intrige in den Briefen und Denkwürdigkeiten Steins und Schöns, Boyens und Scharnhorsts klar vor, und man kann sich danach ein lebhaftes Bild davon machen, wie es bei solchen staatsretterischen Aktionen hergeht. Das ist immerhin ein gewisser Ersatz für die Unkenntnis der höfischen Intrige, die nach den Andeutungen der bürgerlichen und selbst der offiziösen Presse sich gegenwärtig am preußischen Hofe abspielen soll. Natürlich wiederholen sich die Dinge niemals genau so; wir haben keine „Nationalheilige" wie die Königin Luise, auch wäre in Petersburg gegenwärtig verzweifelt wenig Erquickung und Trost zu holen, und vor allem, wir haben keinen Stein, der gestürzt werden kann.

Indessen alles das ist nicht entscheidend, und am wenigsten der letzte Punkt. Bülow ist gewiss kein Stein, aber bei seinen bescheidenen Mitteln muss sich der Block daran genügen lassen, wie jene Dorfkomödianten den „Hamlet" ohne Helden zu spielen.

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