Franz Mehring 19061003 Jena

Franz Mehring: Jena

3. Oktober 1906

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Erster Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 160-163]

Am 14. dieses Monats kehrt zum hundertsten Male der Tag wieder, an dem die feudale Gesellschaftsorganisation des nördlichen Deutschlands den ersten erschütternden, wenn auch noch nicht vernichtenden Stoß empfing. Es ist ein historischer Gedenktag, der mehr zum Nachdenken anregt als ein Bäckerdutzend solcher Tage, wie sie heute mit größerem oder geringerem Tamtam gefeiert zu werden pflegen, aber um so geringeres Geräusch wird von ihm gemacht, aus Gründen, die sich hören lassen könnten, wenn es anders nur die wirklichen Gründe wären.

Sicherlich ist es keine erhebende Erinnerung für ein großes Volk, wenn es sich von einem verrotteten Gesellschaftszustand nicht aus eigener Kraft emanzipieren konnte, sondern durch das Schwert eines fremden Eroberers dazu gepeitscht werden musste. Auf derselben Stätte, wo die Herder, die Goethe, die Schiller Jahrzehnte köstlichster Arbeit darangesetzt hatten, die deutsche Nation auf die Höhe humaner Aufklärung zu erheben, ohne sie doch aus den dichten Nebeln des feudalen Kampfes befreien zu können, erschien ein fremder Soldat, und in einigen Morgenstunden schlug er die vermorschte Welt zusammen, die auch nur zu erschüttern der edelsten Kraft unserer großen Denker und Dichter nicht gelungen war. Kein Wunder, dass der größte von ihnen und der einzige, der den Tag von Jena noch erlebte, dass Goethe in Napoleon immer eine Art Übermenschen sah, wie denn auch der Welteroberer inmitten des knechtischen Gewinsels der Fürsten und Junker, die ihrem Überwinder nicht eifrig genug die Stiefel küssen konnten, den Dichter ehrte: Siehe da, ein Mann!

Auch trägt die Nation heute noch an dem Fluche, dass fremde Hilfe sie von dem feudalen Joche befreien musste. Hätte sie es aus eigener Kraft vermocht, sie hätte sicher so gründliche Arbeit gemacht wie die französische Nation. So aber blieb es ein halbes Werk. Elender und schimpflicher ist nie eine herrschende Klasse zusammengebrochen als das preußische Junkertum bei Jena, aber auch nie ist eine herrschende Klasse durch die eindringlichen Schläge einer unermesslichen Schmach so wenig bekehrt und gebessert worden. Am Tage nach der Niederlage vertrat das preußische Junkertum seine eigensüchtigen Interessen mit derselben schamlosen Hartnäckigkeit wie am Tage vor der Niederlage; nur unter dem Drucke einer Fremdherrschaft, die ihm den letzten Atem raubte, wich es Zoll um Zoll von dem Boden zurück, den es bis dahin behauptet hatte. Auch die Junker der französischen Nationalversammlung, die in der berühmten Augustnacht ihre feudalen Vorrechte haufenweise zum Fenster hinauswarfen, gehorchten nur der Not und nicht dem eigenen Triebe, aber wie großartig stehen sie noch da neben diesen preußischen Junkern, die nach Jena auch das geringste ihrer Vorrechte mit Klauen und Zähnen verteidigten, die mit jedem noch so nichtswürdigen Mittel die bürgerlichen Reformen zu hintertreiben suchten und größtenteils auch hintertrieben, denen die französische Nation ihre weltbeherrschende Stellung verdankte.

Es war eine Wechselwirkung der unheilvollsten Art. Erst durch den unerträglichen Druck der Fremdherrschaft waren die Junker zu bürgerlichen Reformen zu zwingen, aber ebendieser Druck gab ihnen wieder das Heft in die Hand, indem er ihnen möglich machte, den Groll und Zorn der Bevölkerungsmassen gegen die fremden Eroberer zu kehren. Weißgeblutet, wie die städtische und namentlich die bäuerliche Bevölkerung seit Jahrhunderten durch ihre einheimischen Bedränger war, hatte ihr Elend einen so hohen Grad erreicht und sie geistig so abgestumpft, dass sie den historischen Zusammenhang der Dinge nicht begriff und auch unmöglich begreifen konnte. Kaum waren durch die Aufhebung der Erbuntertänigkeit und die Einführung einer Städteordnung ihre Ketten erleichtert und die Anfänge eines nationalen Bewusstseins erweckt worden, als sie sich durch trügerische Versprechungen der Junker in den Kampf gegen den auswärtigen Feind treiben ließ, nach dessen Überwindung ihr dann mit Lug und Trug gedankt wurde, mit einer Erneuerung der Junkerherrschaft, die von allen Reformen nur so viel schonte, als notwendig war, um sich selbst wieder auf feste Grundlagen zu stellen.

Unter diesem Gesichtspunkt ist die Erinnerung an Jena trübe genug, und gedächte die bürgerliche Klasse deshalb nicht gerne dieses Tages, so wäre es verständlich. Er kann nichts von dem freudigen Stolze einflößen, womit die französische Nation des Sturmes auf die Bastille gedenkt. Aber es ist ein anderer Grund, der die geschwätzigen Zungen lähmt, die bei jedem Säkulartage von weihevollen Gedanken überfließen und sonst nicht genug an den sogenannten Stein-Hardenbergischen Reformen nach Jena zu rühmen wissen. Die Nachfahren der Besiegten von Jena sind heute die hochmögenden Herren in Deutschland, und wie könnte ein bürgerliches Zeitungsschreiberlein auf den verwegenen Gedanken kommen, sie zu reizen, da wo sie am kitzligsten sind! Sie selbst sind um so dreister am Werk, alle Schmach aus der Welt zu schwindeln, die sie vor hundert Jahren auf sich geladen haben; eine Probe dieser Literatur, der sich bereitwillig alle Archive des Staates zu unkontrollierbarem Missbrauch öffnen, ist vor einiger Zeit an dieser Stelle gekennzeichnet worden.

Um so mehr mag es die Pflicht der Arbeiterpresse sein, dem Tage von Jena zu spenden, was ihm gebührt. Er hat die letzte und stärkste Burg der feudalen Anarchie gebrochen, in der Deutschland sonst verkommen wäre wie Polen, eine willkommene Beute für jeden Räuber, der des Weges kam; er züchtigte die Schaber und Schinder der Volksmassen, wie sie sonst nie gezüchtigt worden sind; wenn Leipzig und Sedan die Junkerherrlichkeit neu befestigten, so gab ihr Jena einen Stoß, den sie im letzten Grunde doch nie verwunden hat und auch nie verwinden wird. Ohne Jena kein 18. März, ohne den 18. März keine revolutionäre Arbeiterbewegung der Gegenwart; in diesem historischen Zusammenhang kann es uns ganz recht sein, dass die heutigen Junker sich rühmen, sie seien die rechten Nachkommen der Junker von Jena. Sie sind da Richter und Propheten zugleich; sie sprechen das historische Verdikt aus, das sie verdienen, und sagen die Zukunft voraus, die ihrer harrt.

Freilich – der Sturm auf die Bastille und die Schlacht bei Jena: Das ist ein Vergleich, der einem Deutschen auf die Nerven fallen kann, auch wenn er kein abgestempelter Patriot ist. Engels schrieb darüber einmal an den Verfasser dieser Zeilen: „Beim Studium der deutschen Geschichte – die ja eine einzige fortlaufende Misere darstellt – habe ich immer gefunden, dass das Vergleichen der entsprechenden französischen Epochen erst den rechten Maßstab gibt, weil dort das grade Gegenteil von dem geschieht, was bei uns. Dort die Herstellung des Nationalstaats aus den disjectis membris [zersplitterten Gliedern] des Feudalstaats, grade als bei uns der Hauptverfall. Dort eine seltne objektive Logik in dem ganzen Verlauf des Prozesses, bei uns öde und stets ödere Zerfahrenheit. Dort repräsentiert der englische Eroberer im Mittelalter in seiner Einmischung zugunsten der provenzalischen Nationalität gegen die nordfranzösische die fremde Einmischung; die Engländerkriege stellen sozusagen den Dreißigjährigen Krieg vor, der aber mit der Vertreibung der ausländischen Einmischung und der Unterwerfung des Südens unter den Norden endigt. Dann kommt der Kampf der Zentralmacht mit dem sich auf ausländische Besitzungen stützenden burgundischen Vasallen, der die Rolle von Brandenburg-Preußen spielt, der aber mit dem Sieg der Zentralmacht endigt und die Herstellung des Nationalstaats endgültig macht. Und grade in dem Moment bricht bei uns der Nationalstaat vollständig zusammen (soweit man das .deutsche Königtum' innerhalb des Heiligen Römischen Reichs einen Nationalstaat nennen kann), und die Plünderung deutschen Gebiets auf großem Maßstab fängt an. Es ist ein im höchsten Grad für den Deutschen beschämender Vergleich, aber eben darum um so lehrreicher, und seitdem unsre Arbeiter Deutschland wieder in die erste Reihe der geschichtlichen Bewegung gestellt haben, können wir die Schmach der Vergangenheit etwas leichter schlucken."1 In der Tat – beschämend, aber ebendarum lehrreich, und das gilt auch von dem Vergleich zwischen der bürgerlichen Emanzipation in Frankreich und in Deutschland.

Politisch hat es die deutsche Bourgeoisie nie verwunden, dass sie sich nicht selbst emanzipiert hat, sondern durch ausländische Hilfe emanzipiert worden ist. Deshalb ist der deutsche Bürgersmann auch nie ein Freier geworden, sondern immer nur ein Freigelassener, dem die zerbrochene Kette bei jedem Schritte mit verräterischem Klirren nachschleicht. Anders die französische Bourgeoisie, die sich zwar auch – wie das im Wesen aller Bourgeoisie liegt – die Kastanien von anderen Leuten aus dem Feuer holen ließ, aber sie wenigstens selbst verzehrte, mit gesegnetem Appetit das feudale Eigentum vertilgte und damit die Wurzeln der feudalen Gesellschaft ausrottete.

Je mehr sich eine unterdrückte Klasse nur auf die eigene Kraft verlässt, um sich zu emanzipieren, desto gründlicher emanzipiert sie sich, desto schneller verläuft der Kampf, desto entschiedener wird der Sieg. Der Bastillesturm brauchte nicht halb so viele Wochen, um allen feudalen Unrat aus Frankreich zu fegen, wie die Schlacht bei Jena Jahrzehnte brauchte, um für Deutschland wenigstens annähernd ein gleiches Teil zu erreichen. Es ist eitel Lug und Trug, wie schon dies eine Beispiel zeigt und tausend andere Beispiele zeigen könnten, wenn die bürgerlichen Historiker in der ihnen eigenen Sprache den Segen der reformatorischen Arbeit vor dem Unsegen des revolutionären Umsturzes preisen.

Was die Arbeiterklasse daraus lernen kann, bedarf keiner weitläufiger Ausführung. Sie schöpft ihre Kraft zwar nicht zuletzt aus der internationalen Verbrüderung aller klassenbewussten Arbeiter, aber jede Hilfe, die sie von einer anderen Klasse beanspruchte oder auch nur benutzte, würde die siegessichere Kraft ihres Emanzipationskampfes lähmen und schwächen.2 Sie muss es mit dem Sturme auf die Bastille halten, nicht mit der Schlacht bei Jena; dann kann sie die Schmach der deutschen Vergangenheit nicht nur leichter schlucken, dann sühnt sie diese Schmach von Grund aus.

1 Engels an F. Mehring, 14. Juli 1893. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Briefe, Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 551 f.

2 Diese Formulierung Mehrings richtet sich, wie sich aus dem Zusammenhang des Aufsatzes ergibt, gegen die revisionistischen Bestrebungen einer Unterordnung der Arbeiterklasse unter die Politik der Bourgeoisie, nicht aber gegen eine proletarische Bündnispolitik.

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