Franz Mehring 19120913 Stein und Schön

Franz Mehring: Stein und Schön

13. September 1912

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Zweiter Band, S. 890-897. Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 270-278]

Die preußischen Reformen nach der Schlacht bei Jena knüpfen in erster Reihe an den Namen des Freiherrn vom Stein an, und diese Tatsache allein zeigt, um wie verwickelte Zusammenhänge es sich dabei handelt.

Denn soweit von einer Weltanschauung dieses Mannes überhaupt gesprochen werden kann, wurzelte sie viel mehr im Mittelalter als in der Französischen Revolution, deren abgesagter Gegner Stein war. Er stammte aus dem reichsunmittelbaren Adel; seine Familie saß im Nassauischen und gehörte der rechtsrheinischen Ritterschaft an; ihr Besitz war gering und unter wirtschaftsgeschichtlichem Gesichtspunkt selbst rückständiger als das Latifundienwesen des ostelbischen Junkertums: Streubesitz auf beiden Seiten des Rheins, am rechten Ufer allein über 18 Geviertmeilen und mehr als 50 Ortschaften, mit vorwiegend feudalen Einnahmequellen, allerlei Renten und Zinsen, die übrigens an keinem Orte der Familie allein gehörten; überall musste sie sich mit einem Teile, in der Regel sogar mit wenigem begnügen.

Die Sympathie der Reichsritterschaft gehörte bekanntlich dem habsburgischen Kaisertum, und es ist nicht ganz aufgeklärt, weshalb der junge Stein, nachdem er die Universität Göttingen besucht hatte, preußische Dienste nahm. Er kam in ihnen schnell empor, zum Glück jedoch in den westlichen Landesteilen, die von der Berliner Vorsehung immer stiefmütterlich behandelt wurden, ebendeshalb aber weniger geknechtet waren. Die Stände hatten sich hier zum guten Teile ihre Selbständigkeit zu wahren gewusst, während sie selbst durch die industrielle Entwicklung dieser Landesteile einigermaßen modernen Geist zu atmen begannen. Stein hat hier erst als Direktor der westfälischen Bergwerke, dann als Kammerdirektor der märkischen und klevischen Kammer, endlich als Oberpräsident in Minden und Münster die bestimmenden Eindrücke seines Lebens empfangen, die man dahin zusammenfassen kann, dass ihm eine Erneuerung der mittelalterlichen Korporativbildungen auf moderner Grundlage als Ideal vorschwebte. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Utopie ganz unklar und verschwommen bleiben musste, so dass Stein nicht dem Schicksal entgangen ist, bald als Reaktionär und bald als Revolutionär verschrien zu werden. Aber wenn es schwer zu sagen ist, was er eigentlich wollte, so ist wenigstens leicht zu erkennen, was er nicht wollte.

Einmal war er weit hinaus über die verbohrte Wirtschaftspolitik des friderizianischen Staates. Gehörte es zu dessen ehrwürdigsten Überlieferungen, die Landstraßen verfallen zu lassen, um den Feinden den Einmarsch ins Land zu erschweren und fremde Reisende möglichst lange ausbeuten zu können, so setzte Stein den Bau von Chausseen durch. Er kämpfte energisch gegen die Erdrosselung der Städte durch die Akzise und bemühte sich in seinem Wirkungskreis, freiere Bahn für Gewerbe und Handel zu schaffen.

Aber noch feindseliger als gegen den friderizianischen Staat stellte sich Stein gegen die Französische Revolution. Ihr gegenüber bewies er eine kurzsichtige Verblendung, die kein ostelbischer Junker übertreffen konnte oder je übertroffen hat. Er beschützte die adligen Emigranten, die sich am Rhein gesammelt hatten, um im Bunde mit dem Landesfeind ihr Vaterland zu verraten; ja Stein ging so weit, diesem ruchlosen Gesindel die Einrichtung einer besonderen Post zwischen Flamm und Köln nachzusehen, was ihm sogar eine scharfe Rüge des Königs eintrug, der den Emigranten doch nichts weniger als abhold war. Für die ökonomischen Ursachen der Französischen Revolution hat Stein nie einen Blick gehabt; er schrieb ihren Ausbruch einem verderblichen „Zeitgeist" zu und hat noch im Jahre 1814 nicht unwesentlich zur Restauration der Bourbonen beigetragen, die, wie er meinte, ihren Thron noch immer rechtlich besäßen; durch die Hinrichtung Ludwigs XVI. hätte sich die französische Nation zur sündhaftesten von allen gemacht. Was Stein allein an der Französischen Revolution lobte und sogar bewunderte, war die unvergleichliche Energie, womit der Wohlfahrtsausschuss Heere aus dem Boden stampfte, um das Vaterland zu verteidigen.

Das kennzeichnet am treffendsten den Mann. So voller Widersprüche seine Ansichten waren, so setzte Stein doch an jede praktische Aufgabe, die er zu lösen hatte, eine mächtige Willenskraft. Ein junger Russe, Sergej Uwarow, in späteren Jahren Minister für Volksaufklärung in Petersburg, hat ein anziehendes Bild von Stein entworfen, mit dem er 1809 in Troppau verkehrt hatte, wo Stein als von Napoleon geächteter Flüchtling lebte. Sein viereckiges Antlitz mit der breiten Stirn und den durchdringenden, von starken Brauen beschatteten Augen, die ungleichen, etwas hohen, wie für den Kürass bestimmten Schultern: Uwarow fühlte sich an Götz v. Berlichingen und an Luther erinnert. Der Vergleich hinkt in der Wahl der Personen: Von dem Strauchritter Götz hatte Stein gar nichts und von Luther doch nur einiges; es mochte etwa in Luthers Sinne sein, dass Stein, der ein gläubiger Protestant war, im Notfall lieber in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehren, als sich mit der Aufklärung vertragen wollte. Aber mit anderen Gestalten aus dem sechzehnten Jahrhundert hat Stein größere Ähnlichkeit als mit Götz und Luther. Die nationale Gesinnung, die ihn sagen ließ: Ich kenne nur Deutschland als mein Vaterland, entsprang denselben Quellen, aus denen Hutten und Sickingen die gleiche Gesinnung schöpften. Bei Stein wie bei diesen findet sich der gleiche Hass der Fürsten und ihrer Schreiber, und auch dieser Hass stammt aus der gleichen ritterschaftlichen Gesinnung. Stein hatte auch mehr als nur eine Ader von Huttens gewaltsamer, heftiger und ungestümer Art, und mit seiner Reichsreform, die neben einer Vertretung des Großgrundbesitzes auch noch eine reine Adelskammer mit dem Rechte selbständiger Ergänzung vorsah, hätten sich Hutten und Sickingen wohl befreunden können. Und wie diese nichts von den Bauern wussten, so wusste Stein nichts von den Häuslern und Taglöhnern auf dem Lande, den Gesellen und Fabrikarbeitern in den Städten.

Wie sich diese Parallele aber sozusagen von selbst ergibt, wenn man das historische Wesen Steins zu würdigen sucht, so erschließt sie auch am ehesten dies Wesen. Von den Zeitgenossen Steins hat vielleicht der mit ihm nahe befreundete Alexander v. Humboldt das abgewogenste und feinste Urteil über ihn gefällt, indem er schrieb: „Stein war ein Mann der raschen Tat, mächtig an Willenskraft, voll Scharfblick im einzelnen, meist wie durch Inspiration; kein Staatsmann, aber viel Edles schaffend und veranlassend, sehr beschränkt im Freiheitssinn und wegen dieser Beschränkung oft im Widerspruch mit sich selbst; unerschütterlich warm der mittelalterlichen Mythe ergeben, die er sich von deutscher Freiheit, nicht im Volksleben, sondern in ständischen Abstufungen geschaffen, ungebildeter als das Zeitalter, in dem er lebte: rein und edel von Gemüt, bei vielen Ausbrüchen von Heftigkeit und Erbitterung; kein großer Mann, aber oft groß im Handeln, Großes und Freies hervorrufend, um einen Teil des Hervorgerufenen später zu bereuen." Jeder dieser Züge ist richtig, aber ein geschlossenes Bild gewinnt man doch erst, wenn man Stein neben Hutten und Sickingen stellt, die mit ihm das Schicksal teilten, gefeierte Männer des vormärzlichen Bürgertums zu sein.

Die Reichsritterschaft war schon in den Tagen Huttens und Sickingens eine unaufhaltsam niedergehende Klasse, und zu Steins Zeiten war sie eine vollkommene Ruine. Selbst das ostelbische Zaunjunkertum war ihr nicht nur an reeller Macht, sondern auch an historischer Einsicht überlegen; sogar Stein dachte noch nicht daran, seine Hörigen am Rhein und an der Lahn zu emanzipieren, als jenseits der Elbe schon einzelne Junkerfamilien, wie die Auerswald in Ostpreußen, im eigenen wohlverstandenen Interesse damit vorgingen. Allein wenn die Reichsritterschaft noch einmal eine kräftige Persönlichkeit aus sich gebar, die sich unter verhältnismäßig günstigen Bedingungen entwickeln konnte, wie Stein in seiner rheinisch-westfälischen Tätigkeit, so war ihre Klassenlage nicht ungünstig für die Lösung der Aufgabe, bürgerliche Reformen durchzuführen ohne eine bürgerliche Klasse als treibende Kraft. Ihre nationalen Tendenzen machten sie immun gegen die partikularistische Beschränktheit, die in der Entwicklung des deutschen Geisteslebens eine so große und verhängnisvolle Rolle gespielt hat, und den deutschen Despoten trat sie mit der Sicherheit des Gleichberechtigten und dem Hasse des Unterdrückten entgegen. Diese Möglichkeiten, die für die Klasse als solche längst verloren sein mochten, sind für Stein noch einmal Wirklichkeit gewesen.

Als preußischer Beamter hielt er sich doch von aller borussischen Borniertheit vollkommen frei. Von ihm rührt das gesegnete, aber leider nicht prophetische Wort her: „Preußen wird unbedauert und ohne Nachruhm untergehen, und man wird es für ein Glück halten, dass eine Macht, die durch ihren Ehrgeiz anfangs Europa erschüttert, nachher durch ihr Tripotieren beunruhigt, die keine Pflicht weder gegen sich noch gegen den europäischen Staatenbund erfüllt hat, zu sein aufhöre." Daneben war Stein ganz frei von Menschenfurcht, und man spürt heute noch den göttlichen Grobheiten, womit er Fürsten zu regalieren liebte, das innere Behagen an. Er ging da ohne Ansehen der Person vor; nicht nur die deutschen Klein-und Mittelfürsten, die er im Grund seiner Seele verachtete, und selbst nicht nur den preußischen König, dessen Minister er war, sondern auch den mächtigen Zaren, an dessen Hofe er als Flüchtling lebte, wusste er nach dem guten Worte zu traktieren, dass auf einen groben Klotz ein grober Keil gehört. Deutschland sei zu gut für eine russische Stuterei, erklärte er dem Zaren, als dieser die Erhaltung der deutschen Klein- und Mittelfürsten damit rechtfertigen wollte, dass seine Großfürsten ebenbürtige Ehen schließen könnten. Der preußische König hasste, aber weit mehr fürchtete er Stein. Boyen, der unter den preußischen Reformern noch am ehesten preußischer Patriot war und deshalb, wie er selbst sagte, keineswegs zu den „blinden Bewunderern" Steins gehörte, schreibt gleichwohl: „Ich für meine Person bin des Glaubens, dass ohne die eiserne Festigkeit Steins und ohne die Unabhängigkeit, welche er gegen jeden zu behaupten wusste, vielleicht keines der Reformgesetze von 1807 und 1808 die Zustimmung des Königs erhalten hätte."

Ins Ministerium oder, wie es damals hieß, ins Generaldirektorium gelangte Stein zuerst im Jahre 1802 auf dem Wege der Anciennität; die Funktionen, die ihm oblagen, lassen sich etwa dahin zusammenfassen, dass er Finanzminister für die indirekten Steuern und staatlichen Geldinstitute (Bank und Seehandlung) sowie Minister für Handel und Gewerbe war. Er hat hier in seiner ehrlichen und uneigennützigen Weise manches Nützliche geschaffen, für die Beseitigung der Binnen- und Provinzialzölle, die Verminderung des unnützen Schreibwerks gekämpft; auch die Errichtung der statistischen Büros gehört zu seinen Verdiensten schon in dieser Zeit. Aber durchgreifende Reformen hat er noch nicht geplant, und die Stellung eines damaligen Ministers war dazu auch nicht angetan. Denn der Schwerpunkt der Regierung lag noch immer im Kabinett des Königs, und die Kabinettsräte waren viel einflussreichere Leute als die Minister.

Gegen diese Kabinettsregierung hat Stein allerdings schon vor der Schlacht von Jena einen heftigen Vorstoß gemacht. Aber von den konstitutionell-liberalen Absichten, die er dabei verfolgt haben soll, war er weit entfernt. Er wollte die Wiederbelebung des Geheimen Staatsrats, wie er vordem im preußischen Staate bestanden hatte, in einer den Zeitverhältnissen angemessenen Form. Die Minister sollten nicht fürder von einer geheimen Instanz abhängen, die vor der Öffentlichkeit durch die Person des Königs gedeckt war. Sicherlich war auch das ein Fortschritt, zumal da es dem König gefiel, sich im Gefühl seiner Nichtigkeit mit ganz nichtigen Persönlichkeiten zu umgeben. Über sie schüttet Stein die Fülle der ausgesuchtesten Injurien aus, die reichlich genug verdient waren, aber ersetzen wollte er das Kabinett nur durch eine Ministerialkonferenz, die allein den König beraten sollte, mit freier Wahl der Minister durch den König. Auch Lehmann will mit der begreiflichen Vorliebe des Biographen für seinen Helden wenigstens konstitutionelle Anklänge in dieser Denkschrift Steins finden. Allein wenn Stein zwischen Staaten mit Staatsverfassung und Staaten mit Regierungsverfassung unterscheidet, die Staatsverfassung aber dahin erläutert, dass die oberste Gewalt zwischen dem Oberhaupt und den Stellvertretern der Nation geteilt sei, so spricht er es doch ganz klar und unzweideutig aus, dass er es für Preußen bei der Regierungsverfassung bewenden lassen wolle, nur dass sie nach richtigen Grundsätzen gebildet werden solle.

Der Schwerpunkt der Denkschrift liegt in den Sätzen: „Diese Abhängigkeit von Subalternen, die das Gefühl ihrer Selbständigkeit zu einem übermütigen Betragen reizt, kränkt das Ehrgefühl der obersten Staatsbeamten, und man schämt sich einer Stelle, deren Schatten man nur besitzt, da die Gewalt der Raub einer untergeordneten Instanz geworden ist. Wird der Unwille des beleidigten Ehrgefühls unterdrückt, so wird mit ihm das Pflichtgefühl abgestumpft, und diese beiden kräftigen Triebfedern der Tätigkeit der Staatsbeamten werden gelähmt." Der Hass des Reichsritters gegen das persönliche Regiment des Königs und seiner Schreiber sowie der Trotz auf eine selbständige Stellung hatten an dieser Denkschrift einen großen Anteil, einen größeren als Steins liberale Gesinnung, in der ihm Beyme, dasjenige Mitglied des Kabinetts, dem auch Stein „gerades offenes Betragen, gründliche und gesunde Beurteilung, Arbeitsamkeit und Rechtskenntnis" nicht absprechen wollte, zweifellos überlegen war.

Bezeichnend ist auch, dass Stein den General Rüchel, einen altfritzigen Bramarbas, den Clausewitz die konzentrierte Säure des Altpreußentums genannt hat, als Mitunterzeichner seiner Denkschrift gewinnen wollte und nach dessen Ablehnung sich an die Königin wandte. Auf deren Abraten ist die Denkschrift Steins dem König gar nicht vorgelegt worden. Erst kurz vor Jena machten einige Brüder und Vettern des Königs nebst einigen höheren Offizieren den Versuch, ihn zur Entlassung der Kabinettsräte Beyme und Lombard und des Ministers Haugwitz zu veranlassen, und an diesem Versuch hat sich auch Stein beteiligt. Aber die Petenten allesamt erhielten einen unwirschen Bescheid; erst nach der Katastrophe von Jena wurden Haugwitz und Lombard entlassen, aber an Beyme hielt der König fest, und über dem Bemühen, auch ihn zu stürzen, fiel Stein selbst.

Er hatte in der Katastrophe den Kopf oben behalten. Seiner Entschlossenheit und Umsicht war die Rettung der Staatskassen zu danken. So ließ ihm der König, als Haugwitz gefallen war, die Übernahme der Auswärtigen Angelegenheiten anbieten. Stein lehnte ab in der durchaus aufrichtigen und auch zutreffenden Überzeugung, dass er für diplomatische Geschäfte nicht geschaffen sei. Er schlug an seinem Teile Hardenberg als Ersatz für Haugwitz vor, benutzte den Anlass aber, um nunmehr mit den Argumenten seiner früheren Denkschrift einen selbständigen Ministerrat zu fordern. Der König schwankte, vornehmlich wohl, weil auch der Zar ihn vor der Fortsetzung der elenden Kabinettswirtschaft gewarnt hatte. In dem Hin und Her gab dann ein äußerlicher Umstand den Ausschlag. Der König hatte die Bank, ohne Stein als ihren Chef zu benachrichtigen, zur Auszahlung von 100.000 Talern an das französische Hofmarschallamt angewiesen, um die Kosten von Napoleons Hofhaltung in Berlin zu bestreiten. Als Stein davon erfuhr, meinte er zu dieser „Traktierung Napoleons" in seiner erfrischenden Weise: „Beispiellos ist es übrigens wohl, dass die Kosten des Hofstaates des Eroberers des größten Teiles der Monarchie von dem aus diesen Provinzen verdrängten Monarchen getragen werden sollen", worauf ihn der König in einer ebenso albernen wie unverschämten Kabinettsorder am 4. Juni 1807 als einen „widerspenstigen, trotzigen, hartnäckigen und ungehorsamen Staatsdiener" von dannen jagte.

Aber ein halbes Jahr später zwang ihn nach dem Tilsiter Frieden der Rat Napoleons, Stein wieder zu berufen, und zwar als leitenden Minister. So kehrte Stein in den preußischen Dienst zurück. „Sie bringen", rief ihm Niebuhr zu, „dem unglücklichen Lande, dem noch unglücklicheren Souverän ein Opfer, wie es die neuere Geschichte kaum kennt." Man darf diese Ansicht gelten lassen, ohne doch zu verhehlen, dass Stein, so wie er nun einmal war, das Opfer nicht ohne gewisse grimmige Genugtuung gebracht hat. „Ich kann nur zufrieden sein mit der Art, wie der König mich fürchtet", schrieb er schon am 6. Dezember 1807 an Hardenberg. Unumschränkter Diktator war Stein bei alledem aber doch nicht; schon die erdrückende Last von finanziellen Sorgen, die ihm die Zahlung der französischen Kriegskontribution und die Verhandlungen mit den französischen Gewalthabern auferlegte, hinderte ihn, seine ganze Kraft den inneren Reformen zuzuwenden. Er bedurfte für ihre Durchführung einer kräftigen Unterstützung, die er in den bürgerlichen Elementen des preußischen Beamtentums fand.

Es ist nun eine bemerkenswerte Tatsache, dass der fähigste dieser Mitarbeiter das Verdienst Steins um innere Reformen durchaus bestritten hat. In den Schriften, die aus dem Nachlass Schöns veröffentlicht worden sind, hat dieser mit ziemlich dürren Worten nicht mehr und nicht weniger behauptet, als dass Stein ohne jede tiefere Bildung und im Innersten von jeher ein Reaktionär gewesen sei. 1807 und 1808 habe er teils aus Ehrgeiz, teils unter dem Einfluss seiner aufgeklärten Umgebung sich zu den Reformen mehr hergegeben, als dass sie von ihm ausgegangen seien. Die wahren Reformatoren Preußens seien Steins Mitarbeiter gewesen, und in erster Reihe Schön selbst. Schön gestand wohl zu, dass Stein einzelne Gedankenblitze gehabt habe, aber eine klare und konsequente Weltanschauung sei nicht seine Sache gewesen, und am wenigsten im modernen Sinne; Vernunft und das Reich der Ideen hätten diesem „Erzultra" ganz fern gelegen.

Als diese Aufzeichnungen Schöns vor einigen Jahrzehnten aus seinem Nachlass bekannt wurden, veranlassten sie eine lebhafte Polemik, in der Schön scharf mitgenommen wurde. Und in der Tat lässt sich schwer bestreiten, dass Schön sich in ihnen als ein verdrießlicher alter Herr gibt, der durch die tatsächliche oder vermeintliche Verkennung seines Verdienstes das Gleichgewicht der Selbstschätzung und die Unbefangenheit im Urteil über seine Mitstrebenden verloren hat. Es kommt hinzu, dass Schön als echter Kantianer des historischen Sinnes entbehrte und niemals zu fassen vermochte, worin die historische Wirksamkeit Steins ihr Schwergewicht hatte. Indessen wenn man auch alles abzieht, was an menschlicher Schwäche und unzureichender Einsicht in dem wegwerfenden Urteil Schöns über Stein stecken mag, so bleibt immer noch die Tatsache übrig, dass Schön -und was von ihm gilt, gilt mehr oder minder auch von den anderen Mitarbeitern, die Stein bei seinen Reformen fand – von ganz anderen Gesichtspunkten ausging und auch auf ganz andere Zwecke lossteuerte als Stein. Da Steins Reformtätigkeit nur wenig über ein Jahr dauerte und nur das Allernotwendigste vorkehrte, so ist der Zwiespalt nicht sogleich hervorgetreten, aber er macht sich doch schon in den Reformen selbst geltend, die man nicht richtig beurteilen kann, ohne ihn zu beachten.

Die Mitarbeiter Steins entstammten fast durchweg der bürgerlichen Klasse, auch Schön, dessen Vater erst geadelt worden war. Sie standen unter geistigen Einflüssen, denen Stein mehr oder weniger unzugänglich war: unter dem Einfluss der Französischen Revolution, die Stein hasste, unter dem Einfluss Kants, der für Stein zu den „Metaphysikern" gehörte, von denen er ein für allemal nichts wissen wollte, und unter dem Einfluss Adam Smiths, mit dem Stein wohl in manchem übereinstimmte, so namentlich in Fragen der Handelsfreiheit, aber mit dem er in vielem, so namentlich in Fragen des Freihandels, sehr weit auseinanderging. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass Stein gegen die Aufhebung der Wuchergesetze, aber für die adligen Fideikommisse war, dass er die Zünfte zwar reformieren, aber nicht aufheben wollte, dass er Freizügigkeit und Heiratsfreiheit im Interesse der Gemeindeautonomie bekämpfte, dass er Gewerbefreiheit und Aufhebung der polizeilichen Taxen nur bei den Gewerben zulassen wollte, die sich mit der Beschaffung der notwendigsten Lebensmittel befassten usw.

Wie sich jene Einflüsse in den einzelnen Mitarbeitern Steins kreuzten und mischten, wird sich noch zeigen, wenn wir seine Hauptreformen, das Oktoberedikt und die Städteverwaltung, eingehender betrachten. Hier sei nur noch eine Schrift aus ihrem Kreise erwähnt, die drastisch zeigt, welche Klüfte dabei zu überbrücken waren. Sie ist im Jahre 1800 anonym in Königsberg erschienen; ihr Verfasser war Morgenbesser, ein namhafter Mitarbeiter Steins, der es noch bis zum Chefpräsidenten des Oberlandesgerichtes in Königsberg gebracht hat. Der Titel der Schrift lautet: „Beiträge zum republikanischen Gesetzbuch", und ihr Inhalt ist die begeisterte Verteidigung der Republik als der einzig menschenwürdigen Staatsform. Allerdings soll sie nicht durch eine Revolution, sondern durch einen erleuchteten Monarchen geschaffen werden. Der Schwerpunkt der Republik soll auf der gesetzgebenden Gewalt beruhen, die durch das allgemeine Stimmrecht gewählt wird, mit Ausschluss der Frauen, Minderjährigen, Wahnsinnigen, Verbrecher, Dienstboten, Gehilfen und Gesellen. Die Inhaber der vollziehenden Gewalt werden durch die gesetzgebende Gewalt auf höchstens ein Jahr gewählt. Die Staatsgewalt ist unbeschränkt, Religionsgesellschaften können keine Rechte erwerben, sie werden nur als zufällige Aggregate von Individuen geduldet. Die Ehen werden gerichtlich vollzogen. „Eheverbote wegen naher Verwandtschaft finden nicht statt; kein Gesetz kann dem Vater die Ehe mit seiner Tochter verbieten, weil das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern von der Stiftung des Staates unabhängig ist." Elterliche Pflichten gibt es nicht, da die Befriedigung eines Naturtriebs keine besonderen Pflichten begründen kann. Die Kinder werden vom Staate erzogen. Die Staatsausgaben werden durch die Hinterlassenschaften gedeckt, denn Steuern sind mit der republikanischen Staatsform unverträglich. Das Privateigentum bleibt zwar bestehen, aber es gibt kein Erbrecht, weil es das Grab der Republik sein würde usw. Hat Stein diese Schrift gelesen, so muss sie ihm als der hellste Wahnsinn erschienen sein.

Immerhin war sie mehr ein Kuriosum. Der klassische Vertreter dieser Richtung bleibt doch Schön. Er war nach einem Unterrichtsplan erzogen worden, den Kant, ein Freund seines Vaters, selbst entworfen hatte, und hatte sich auf weiten Reisen in der Welt umgesehen. Er besaß eine gründliche philosophische und das Maß der politisch-ökonomischen Bildung, das -zu seiner Zeit überhaupt erreichbar war. Schön war das Muster eines Verwaltungsbeamten. Hätte es eine bürgerliche Klasse von Selbstbewusstsein in Deutschland gegeben, so wäre Schön ihr geborener Führer gewesen. Aber auch als preußischer Beamter ist er seinen freisinnigen Anschauungen nicht untreu geworden. Er hat noch in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit Johann Jacoby für den preußischen Verfassungsstaat gekämpft und als Alterspräsident der Berliner Vereinbarerversammlung im Jahre 18481 vorgesessen, deren juristischen Doktrinarismus er merkwürdig früh und klar als verhängnisvollen Fehler erkannte.

Erwägt man demgegenüber, dass Stein sich mit der Reaktion nach 1815 ohne viel Herzbeklemmen abgefunden hat, so erklärt sich auch daraus, weshalb Schön in seinen alten Tagen so hart über Stein geurteilt hat.

1 Gemeint ist die preußische Nationalversammlung, die am 22. Mai 1848, nach dem Sieg der Revolution in Berlin am 18. März 1848, vom preußischen König einberufen wurde, um eine Verfassung auszuarbeiten. Nach dem Einmarsch der Truppen Wrangels in Berlin am 10. November wurden ihre Sitzungen geschlossen, und am 5. Dezember 1848 wurde sie schließlich vom König aufgelöst.

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