Franz Mehring 19030224 Vor hundert Jahren

Franz Mehring: Vor hundert Jahren

24. Februar 1903

[Leipziger Volkszeitung Nr. 45, 24. Februar 1903. Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 154-156]

Morgen werden es hundert Jahre, dass die Französische Revolution dem alten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation den Todesstoß versetzt hat und Napoleon im Frieden von Luneville die heutige Landkarte von Deutschland in ihren Umrissen skizziert hat. Was heute Bayern, Württemberg, Baden, Rheinpreußen ist, das wurde damals aus Hunderten von Grafschaften, Ritterschaften, Abteien, Probsteien, österreichischen Vorlanden, Reichsstädten und – reichsunmittelbaren Leuten zu neuen staatlichen Gebilden zusammengeschweißt, und wenn auch erst in den folgenden Jahren 1806 und 1809 einigermaßen mit dem alten feudalen Schutt noch weiter aufgeräumt wurde, so war dieser Reichsdeputationshauptschluss doch der erste, entscheidende revolutionäre Schlag gegen das deutsche Mittelalter. Der 25. Februar war ein 4. August für Deutschland, allerdings in sehr abgeschwächter Gestalt und Wirkung.

Die bürgerliche Revolution des 18. Jahrhunderts war eine gesellschaftliche, eine europäische Erscheinung. Sie hatte sich in Frankreich einen einheitlichen Nationalstaat geschaffen und drang von hier aus nach dem übrigen Europa vor. Deutschland erlebte die erste bürgerliche Revolution in einer Invasion feindlicher Armeen; die Revolution war für die deutsche bürgerliche Klasse ein Importartikel. Ein fremder Eroberer hat in Deutschland die alten Zwingburgen der Feudalherren und die Klöster der Ordensherren in Trümmer geschlagen und die gesellschaftlichen Grundlagen des nationalen Staats geschaffen. Ein ganzes Jahrhundert lang herrschte im linksrheinischen Deutschland das Strafgesetz und das Zivilrecht der Französischen Revolution; was von modern bürgerlicher Kultur im deutschen Süden und Westen zu finden war, führte sich historisch auf die Franzosenzeit zurück. Selbst die süddeutschen Gottesgnadentümer, die sich jetzt mit dem Anspruch der Legitimität spreizen, sind geschichtlich nichts andres als die Ausgeburten einer Sultanslaune des korsischen Eroberers, und Napoleon sagte einmal mit brutaler Offenheit zu dem Geschäftsträger des von ihm aus dem Nichts geschaffenen Großherzogtums Baden, dieses Land habe jetzt genau die Gestalt und Ausdehnung, die es im Interesse des französischen Kaiserreichs haben müsse. Nach wenigen Jahren hatte sich die neue Ordnung der Dinge so tief befestigt, dass die neuen süddeutschen Raubstaaten nach Napoleons Sturz auf eigenen Füßen stehen konnten und selbst die Legitimitätsschwärmer im Wiener Frieden nicht wagten, die alte feudale Ordnung in Deutschland wieder heraufzuführen.

Aber auch Preußen und das ostelbische Deutschland erlebten die gesellschaftliche Umwälzung dieser europäischen Revolution nur in einer militärischen Invasion. Die Neuorganisation Preußens nach Jena, wie sie am gründlichsten in der Stein-Hardenbergischen Gesetzgebung ihren Ausdruck fand, was war sie anders als die Aufpfropfung bürgerlicher Kulturreiser auf den alten preußischen Feudalbau? Und selbst die militärische Wiedergeburt Preußens, seine neue Heer- und Wehrordnung mit der allgemeinen Wehrpflicht, war nur ein Abklatsch der französischen Massenaushebung. Als die Sintflut der napoleonischen Kriege in Europa sich verlaufen hatte, ließ sie fast überall in Deutschland die rechtlichen Einrichtungen als Vorbedingungen einer neuen bürgerlichen Gesellschaft zurück.

Für die Entwicklung der bürgerlichen Klasse in Deutschland ist dies verhängnisvoll geworden. Sie hat im 19. Jahrhundert stets ihre Siege und Niederlagen auf auswärtigen Schlachtfeldern erlebt. Es war ihr Unglück, dass der erste historische Vertreter ihrer Klasseninteressen der Nationalfeind war. Marengo und Höhenlinden1, Jena und Austerlitz waren ebenso viele Niederlagen des europäischen Feudalismus als Siege der neuen bürgerlichen Gesellschaft – auch in Deutschland. Als das deutsche Bürgertum ein halbes Jahrhundert später seine nationale Einheit vollends abschloss, hatte es bereits seinen eigenen Napoleon gefunden: Königgrätz und Sedan2 bezeichnen die Schlusssteine einer Entwicklung, die mit Marengo und Hohenlinden eingesetzt hat. Die deutsche Reichsgründung von 1871 war der Schlussgesang des geschichtlichen Epos, das mit dem Reichsdeputationshauptschluss angehoben hatte.

Die bürgerliche Kultur in Deutschland ist nie zu naturwüchsiger Kraft und politischem Eigenleben gediehen. Das deutsche Bürgertum hat den Kampf gegen seine Feudalklasse nicht aus eigenem Schoße geboren, sondern ein fremder Eroberer hat mit dem Schwert aus dem feudalen Chaos des deutschen Mittelalters neue politische Gebilde geschaffen. Aber er hat mit dem Feudalismus nicht aufgeräumt. Er hat die Misere der kleinstaatlichen Ohnmacht verewigt, er hat die dynastische Zerrissenheit konserviert, und als das Bürgertum im Jahre 1848 die erste und letzte selbständige Erhebung versuchte, fand es sich in soundso viele Heerhaufen zersplittert, die von den alten Gewalten einzeln geschlagen und zur Kapitulation gezwungen wurden. Eine einheitliche, nationale Klassenerhebung ist dem deutschen Bürgertum nie gelungen, und das ist auch der tiefste Grund der deutschen Misere von heute. Die deutsche Revolution, die vor hundert Jahren mit dem Reichsdeputationshauptschluss begonnen hat, hat zu einer politischen Schöpfung geführt, in der das Bürgertum seinen angestammten Dynastien ebenso tributär ist wie einst dem korsischen Imperator. Es ist heute noch wahr, was Karl Marx vor sechzig Jahren geschrieben hat: „Wir … befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung."3

1 Hohenlinden – Dorf östlich von München. Am 3. Dezember 1800 siegten dort die Franzosen unter Moreau über die Österreicher; dadurch wurde Franz II. zum Frieden von Luneville (9. Februar 1801) gezwungen.

2 Bei Königgrätz – in der Nähe des Dorfes Sadowa – wurde am 3. Juli 1866 die entscheidende Schlacht des Preußisch-Österreichischen Krieges geschlagen. Sie endete mit einer vollständigen Niederlage der österreichischen Armee.

Der Sieg des deutschen Heeres bei Sedan am 1. September 1870 führte am 2. September zur Gefangennahme der eingeschlossenen französischen Armee und Napoleons III. und war entscheidend für den Ausgang des Deutsch-Französischen Krieges 1870/1871.

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