Franz Mehring: 1866 bis 1914. Ein geschichtlicher Vergleich

Franz Mehring: 1866 bis 1914. Ein geschichtlicher Vergleich

25. August 1916

[Die Neue Zeit, 34. Jg. 1915/16, Zweiter Band, S. 601-609. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 210-220]

Es war nicht lange nach Beginn des Weltkrieges, als ein Mitglied des Parteivorstandes in einer Hamburger Parteiversammlung eine Rede hielt, worin er sehr wohltätige Folgen des Krieges für die deutsche Arbeiterklasse voraussagte, „vorausgesetzt", wie er hinzufügte, „dass unsere Radikalen keine Dummheiten machen". Heute wird dieser Redner wohl der Ansicht sein, dass „unsere Radikalen" hinreichend „Dummheiten" gemacht haben, aber inzwischen hat er selbst am eigenen Leibe die Erfahrung gemacht, dass es Lagen gibt, worin keine „Dummheiten" zu machen einigermaßen schwierig ist.

In den Polemiken zwischen dem Parteivorstand und der Redaktion des Zentralorgans hat der Parteivorstand bestritten, sich irgendwelche Eingriffe in die unabhängige Redaktionsführung des „Vorwärts" erlaubt zu haben, mit Ausnahme eines Falles, der einen solchen Eingriff schlechterdings notwendig gemacht habe, als nämlich ein Redakteur des „Vorwärts" dem Generalkommando unerlaubte Bürgschaften für die „patriotische" Haltung des Blattes gegeben habe. Was es an und für sich mit diesem Fall auf sich hat, soll hier ganz dahingestellt bleiben; worauf es uns ankommt, ist nur, festzustellen, dass der Parteivorstand, auch wenn seine Haltung sonst noch so unanfechtbar gewesen wäre, im Sinne des Hamburger Redners eine rechte „Dummheit" gemacht hat.

Denn alsbald war die reaktionäre Presse bei der Hand, an der Spitze die „Deutsche Tageszeitung", und erklärte: „Aha, da sehen wir's, was es mit der gerühmten Bekehrung der Sozialdemokratie zu nationalen Gesinnungen auf sich hat. Kaum wird das Zentralorgan von einer wirklich patriotischen Anwandlung heimgesucht, so kommt ausgerechnet der Parteivorstand, der angeblich an der Spitze der Bekehrten stehen soll, und erteilt dem .Vorwärts' einen strengen Verweis. Das steckt also hinter der Versicherung, dass die Sozialdemokratie in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stiche lassen wolle. Selbst wenn sich diese Leute einen Augenblick gebessert zu haben scheinen, so kommt der alte Adam alsbald wieder zum Vorschein." Und daraus wurde dann die Schlussfolgerung gezogen, dass es mit der „Neuorientierung" der inneren Politik gegenüber der Sozialdemokratie ein für allemal nichts sein dürfe.

Der kleine Zwischenfall ist deshalb bemerkenswert, weil er ein besonders scharfes Licht auf die Politik des 4. August1 wirft. Ihre Befürworter haben allerdings von vornherein erklärt: Was wir tun, das tun wir um des Vaterlandes willen, und wir beanspruchen deshalb keinen Lohn für unsere Partei. Das war gewiss sehr edelmütig, viel edelmütiger sogar, als jemals eine Klasse in ähnlicher Lage gehandelt hat; selbst die Landwehren von 1813, so bescheiden sie immer waren, beanspruchten ihren Lohn in Fortschritten der inneren Politik, als sie gegen die napoleonische Fremdherrschaft ins Feld stürmten. Darauf haben die bürgerlichen Klassen dann noch jahrzehntelang gepocht, bis Bismarck sie auf dem Vereinigten Landtag von 1847 belehrte, es heiße der Nationalehre einen schlechten Dienst erweisen, wenn man annehme, dass die Gefahren, die dem Volke vom Ausland drohten, nicht hinreichend gewesen seien, sein Blut in Wallung zu bringen und durch den Hass gegen die Fremdlinge alle anderen Gefühle übertäubt werden zu lassen. Der stenographische Bericht über diese Sitzung des Vereinigten Landtags, der bekanntlich eine ständische, nichts weniger als liberale Körperschaft war, verzeichnet zu der eben angeführten Rede Bismarcks: „Großer Lärm. Mehrere Abgeordnete bitten ums Wort." Es erfolgten darauf heftige Proteste gegen die Auffassung Bismarcks, und außerhalb des Vereinigten Landtags trug ihm diese seine erste öffentliche Rede den Ruf eines reaktionären Stockjunkers ein, den er fast zwanzig Jahre lang, bis zum Jahre 1866, nicht wieder losgeworden ist.

Indessen die Zeiten ändern sich, und die Menschen ändern sich mit ihnen. Der Standpunkt, den Bismarck 1847 im Vereinigten Landtag vertrat, war derselbe, den die sozialdemokratische Politik des 4. August vertritt: durch die vom Ausland her drohende Gefahr alle Forderungen der Partei übertäuben zu lassen. Diese Opferfähigkeit hatte zur Folge, dass die Regierung nun doch den gar nicht begehrten Dank und Lohn verhieß, indem sie, wenn auch erst nach geschlossenem Frieden, eine „Neuorientierung" der inneren Politik versprach. Nach der Auffassung Bismarcks, die wir nicht zu vertreten haben, erwies sie damit der „Nationalehre einen schlechten Dienst", aber sie wird sich damit rechtfertigen, dass ihr Versprechen unter einer zwar stillschweigenden, aber doch ganz selbstverständlichen Voraussetzung gegeben worden sei, unter der Voraussetzung nämlich, dass auch nach dem Frieden „der Hass der Fremdlinge alle anderen Gefühle übertäuben" werde oder, wie es der Hamburger Redner ausdrückte, dass „unsere Radikalen keine Dummheiten machen" würden.

Wir haben aber eben an einem schlagenden Beispiel gesehen, dass solcherlei „Dummheiten zu machen" keineswegs ein Privilegium odiosum2 der „Radikalen", sondern ein gemeinsames Pech aller derer ist, die noch nicht die letzten sozialdemokratischen Grundsätze in den Schornstein geschrieben haben. Es gibt freilich einige wohlwollende Gemüter unter den Gegnern der Sozialdemokratie, die ihr nicht gerade einen feierlichen Widerruf ihrer bisherigen Grundsätze auferlegen wollen, ehe sie in den Genuss der „Neuorientierung" gelangt; sie sagen etwa: Lasse man sie doch noch ein wenig bellen, wenn sie nur über den Stock springen. Aber dieser nachsichtigen Männer sind nur recht wenige; die ernsteren und strengeren Denker vertreten den Standpunkt der „Deutschen Tageszeitung": Entweder ganz oder gar nicht. Entweder kapituliert die Sozialdemokratie mit allen Fahnen und Waffen, oder sie muss sich von wegen der „Neuorientierung" den Mund wischen.

Auf der anderen Seite gibt es einzelne kühne Denker, die sich in diese Lage der Dinge zu schicken wissen und in der Tat verlangen, dass die Sozialdemokratie mit allen Fahnen und Waffen kapitulieren und sich in Reih' und Glied der „neuen Revolution" stellen solle, der Bethmann Hollweg voranmarschiert. Obgleich dieser „blühendste Blödsinn", wie ein Parteiblatt den geistreichen Vorschlag unhöflich genug nennt, in seiner Art Methode hat, so ist er doch im allgemeinen von den Politikern des 4. August zurückgewiesen worden, und niemand wird ihnen verargen können, wenn sie den Selbstmord auf dem Schindanger verschmähen.

Dann bliebe ihnen noch die Möglichkeit, nach dem Ausbleiben der „Neuorientierung", die heute schon zum Kinderspott geworden ist, in die alte Trauerharfe zu greifen, die nach den Befreiungskriegen bis zum Überdruss abgespielt wurde: dass nämlich den Volksmassen für die unendlichen Opfer an Gut und Blut, die sie bei der Rettung des Vaterlandes dargebracht hätten, mit Undank gelohnt worden sei. Mit solchen weinerlichen Sentimentalitäten kommt man aber, wie ja auch die deutsche Geschichte in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gezeigt hat, nicht um die Breite eines Strohhalms vorwärts, und zudem ist den Politikern des 4. August auch dieser melancholische Trost in Tränen versagt, da sie ja feierlich erklärt haben, dass sie nichts für die Partei begehrten, indem sie alles für das Vaterland opferten. Man würde zum Schaden noch den Spott haben, wenn man jetzt sagen wollte: Ja, so war's ja gar nicht gemeint!

Endlich haftet die Möglichkeit, die Politik des 4. August fortzuführen, noch an einem geschichtlichen Vergleich. Man sagt wohl: auch die deutsche Bourgeoisie hat ihren Tag von Damaskus3 gehabt; auch sie hat im Jahre 1866 ihren großen Umfall erlebt, und wenn dabei auch manche ihrer „Illusionen" zertrümmert worden sind, so ist sie durch ihn doch dick und fett geworden. Sie erkannte rechtzeitig, dass die Macht Bismarcks auf viel festerem Grunde stand, als sie sich in der Konfliktszeit eingebildet hatte, und war besonnen genug, sich in die Dinge zu schicken, wie sie einmal lagen, wobei sie denn recht gut gefahren ist.

In der Tat liegt der Vergleich zwischen den Jahren 1866 und 1914 recht nahe. Und es wäre ohne Zweifel oberflächlich, ihn dadurch zu erledigen, dass man darauf hinweisen wollte, wie oft die „Nationalmiserablen" wegen ihrer Feigheit, ihrer Kurzsichtigkeit, ihres Wankelmuts gerade auch vom sozialdemokratischen Standpunkt aus verspottet worden sind. Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob die Bourgeoisie mit ihrer Rechtsschwenkung im Jahre 1866 ihrem historischen Wesen treu geblieben ist oder nicht. Und diese Frage wird ebenso zu ihren Gunsten beantwortet werden müssen, wie sie, im Jahre 1914 für das Proletariat gestellt, zugunsten der Politik vom 4. August beantwortet werden muss.

I

Es gehört zum innersten Wesen der Bourgeoisie, dass sie ihre Kämpfe, sobald es hart auf hart geht, nicht selbst ausficht, sondern durch andere Leute ausfechten lässt. Lange Zeit hat ihr das Proletariat diesen Gefallen erwiesen, um am Morgen des Sieges mit dem mageren Tröste verabschiedet zu werden, es sei genügend belohnt durch die Ehre, für die Bourgeoisie geblutet zu haben, und nun könne es sich trollen. So ging es 1789 in Paris nach dem Sturm auf die Bastille; so ging es 1848 in Berlin nach dem Barrikadenkampf des 18. März; bei allem Wechsel von Ort und Zeit stimmten in fast lächerlich getreuem Wortlaut die Abdankungsbefehle überein, die die Arbeiter erhielten, sobald sie den Sieg der Bourgeoisie erkämpft hatten.

Das ging nun aber nur so lange, wie es ging. Die Pariser Junischlacht des Jahres 1848 war das historische Ereignis, das der Bourgeoisie die Hilfe des Proletariats bei ihren Entscheidungskämpfen verleidete. Vor allem in Deutschland, wo die Bourgeoisie sich verhältnismäßig langsam und spät und namentlich unter Umständen entwickelt hatte, die ihr von vornherein einen anderen Helfer in der Not willkommener machten. In Deutschland war es aus den bekannten und oft dargelegten Gründen zu keinem nationalen Staat gekommen, und sobald eine deutsche Bourgeoisie entstand, die mit wachen Augen um sich zu schauen begann, sah sie sich dem österreichisch-preußischen Dualismus gegenüber. Die Wahl konnte ihr insofern nicht schwerfallen, als die industrielle Entwicklung ihre Hauptschauplätze auf preußischem Boden hatte – mit der Ausnahme des Königreichs Sachsen –, aber auch die Mittel- und Kleinstaaten durch den Zollverein, den ihnen ihre finanziellen Nöte aufzwangen, in die ökonomische Interessensphäre des preußischen Staates gezogen wurden.

So verwob sich die preußische Hegemonie sehr früh mit den Zukunftsträumen der deutschen Bourgeoisie. Man kann freilich nicht sagen, dass sie sich aus jungfräulich-naiver Neigung in den preußischen Staat verliebt hätte, denn sie wusste wohl, aus wie hartem Holze er geschnitzt war, und sie verlangte auch, dass dieser Kanadier sich ein wenig mit Europens übertünchter Höflichkeit befreunden müsse, ehe sie ihm Herz und Hand schenke. Mitreden wollte sie in der Presse und ein wenig mit handeln auch im Parlament; wurden diese bescheidenen Ansprüche befriedigt, dann war ihre Wahl getroffen, und sie entschied sich für die preußische Hegemonie als das kleinere von zwei Übeln.

Aus diesem Zusammenhang erklärt sich die ungewöhnliche Aufregung, die im Jahre 1840 der preußische Thronwechsel in ganz Deutschland hervorrief. Auf den alten König hatte man längst aufgegeben, irgendeine Hoffnung zu setzen, aber von seinem Nachfolger versprach man sich um so mehr, als man seinen Widerwillen gegen die eingerostete Bürokratenwirtschaft seines Vaters kannte. Dabei lief nur das kleine Missverständnis mit unter, dass Friedrich Wilhelm IV. nicht über diese Bürokratenwirtschaft hinaus, sondern weit über sie zurück wollte, mitten in die feudale Herrlichkeit des Mittelalters.

Immerhin dauerten die Flitterwochen einige Zeit, wenigstens bis die letzte Hoffnung geschwunden war. Das Auf und Ab kann man am besten in der „Rheinischen Zeitung" studieren, der ersten wirklichen Zeitung, die sich die deutsche Bourgeoisie schuf. Für die verhältnismäßig noch große Schwäche dieser Klasse ist bezeichnend, dass die Zahl der Abonnenten binnen der ersten drei Quartale ihres Erscheinens nicht über 885 hinauskam; im vierten Quartal, wo Marx die leitende Redaktion übernommen hatte, stieg sie auf 1820, und erst im fünften und letzten Quartal, bereits unter dem Damoklesschwert des endgültigen Verbots, auf 3400.

Die „subversiven Tendenzen", wegen deren die Zeitung abgewürgt wurde, bestanden in der Tat in dem Bekenntnis zur preußischen Hegemonie. Die Meldung des preußischen Gesandten in Paris, dass die Zeitung durch französisches Geld unterhalten werde, war so unsinnig, dass sie auch bei den Berliner Ministern keinen Glauben fand. Aber die preußenfreundliche Tendenz der Zeitung, an der sich nun einmal nichts deuteln ließ, wurde dennoch vom König, der aus seinen mittelalterlichen Anschauungen heraus die modernen Tendenzen des Blattes witterte, peinlich empfunden.

Im Kölner Stadtarchiv hat sich noch in Marxens Handschrift ein Protest der Zeitung gegen die Verfolgungen der Regierung erhalten, worin durch alle Ironie hindurch doch ernsthaft genug auf Preußens führende Stellung in Deutschland hingewiesen wird. Es heißt in diesem Schriftstück: Die Tendenz eines Blattes dürfe nicht bloß ein gesinnungsloses Amalgam von trockenen Referaten und niedrigen Lobhudeleien sein; es müsse mit einer eines edlen Zweckes bewussten Kritik die staatlichen Einrichtungen und Verhältnisse beleuchten, wie es die jüngst erlassene mildere Zensurinstruktion und auch die anderwärts oft geäußerten Ansichten des Königs forderten. Auch in Zukunft wolle die Zeitung, soviel an ihr läge, den Weg des Fortschritts bahnen helfen, auf dem Preußen gegenwärtig dem übrigen Deutschland vorausgehe. Wie könnte ein Blatt mit solcher Tendenz im Rheinland französische Sympathien und Ideen verbreiten wollen? Gerade das Gegenteil sei der Fall: Die Zeitung betrachte es als ihre Aufgabe, in der Provinz, wo sie erscheine, die Blicke auf Deutschland zu lenken und hier statt eines französischen einen deutschen Liberalismus hervorzurufen, was der Regierung Friedrich Wilhelms IV. gewiss nicht unangenehm sein werde. Auch sei in ihren Spalten stets darauf verwiesen worden, dass von der Entwicklung Preußens die Entwicklung des übrigen Deutschlands abhänge. Neben ihren polemischen Artikeln gegen die antipreußischen Bestrebungen der „Augsburger Allgemeinen Zeitung" und neben ihrer Agitation für die Ausdehnung des Zollvereins auf das nordwestliche Deutschland zeigten sich ihre preußischen Sympathien vor allem in steten Hinweisen auf norddeutsche Wissenschaft im Gegensatz zu der Oberflächlichkeit der französischen und auch der süddeutschen Theorien. Die Zeitung sei das erste „rheinische und überhaupt süddeutsche Blatt", das hier den norddeutschen Geist einführe und damit zu der geistigen Einigung der getrennten Stämme beitrage.4

Diese Eingabe hatte sowenig eine Wirkung wie alle anderen Bemühungen, die Zeitung am Leben zu erhalten. Marx machte natürlich nur soweit mit, als möglich war, ohne der Tendenz der Zeitung etwas zu vergeben; als ihre Aktionäre sich entschlossen, durch eine Abschwächung der Tendenz die Gnade der Regierung zu erlangen, schied Marx aus der Redaktion aus, worauf selbst der Zensor für die Zeitung um Gnade bat, da sie ihre fähigste und gefährlichste Kraft verloren habe. Aber es war alles vergebens; die preußische Regierung stieß brüsk die Hand zurück, die ihr die Bourgeoisie bot; am 31. März 1843 musste die „Rheinische Zeitung" ihr Erscheinen einstellen.

So wurde die deutsche Bourgeoisie gezwungen, die Hoffnungen einstweilen zu verabschieden, die sie auf die preußische Regierung gesetzt hatte. Ihre praktischen Köpfe konnten sich der Einsicht nicht entziehen, die ihnen gewaltsam aufgedrängt wurde, dass es mit dem „deutschen Berufe" des preußischen Staates einstweilen nichts sei. Dieser „Beruf" blieb höchstens noch eine professorale Spielerei, die nicht viel hinter sich hatte, selbst nicht bei einem Manne wie Gervinus, der die preußische Hegemonie in den vierziger Jahren vertrat, um sie bis aufs Messer zu bekämpfen, als sie zwanzig Jahre später eine geschichtliche Tatsache wurde. Was die Geschäftsmänner der Bourgeoisie noch besonders erbitterte, war die Tatsache, dass die preußische Regierung obendrein mit dem Proletariat kokettierte, um der Bourgeoisie den Daumen aufs Auge zu drücken. Es war zwar nicht viel los mit dieser Koketterie, wie sie namentlich der junge Hermann Wagener in dem „Rheinischen Beobachter" betrieb, aber der böse Wille war doch nicht zu verkennen, und er fiel der Bourgeoisie immerhin auf die Nerven.

Sie fasste sich jedoch und beschloss, die Regierung kirre zu machen mit der ihr eigentümlichen Waffe, indem sie ihr die Geldquellen abschnitt. Die Regierung hatte sich schon im Jahre 1820 den Staatsgläubigern verpflichtet, keine neuen Anleihen ohne die Bürgschaft von Reichsständen aufzunehmen; gezwungen durch die drängende Finanznot, hatte sie im Jahre 1847 als solche „Reichsstände" den Vereinigten Landtag einberufen, der aus den Landtagen der acht preußischen Provinzen zusammengesetzt und, wie schon gesagt wurde, eine feudal-ständische Körperschaft war. Aber die Vertreter der Städte, das heißt die Bourgeoisie, hatten auf ihm das Übergewicht, da sie die Bauern hinter sich hatten und auf einen Teil des Adels rechnen konnten, der durch seine agrarisch-industrielle Warenproduktion in die bürgerliche Interessensphäre gedrängt wurde. Die damalige Bourgeoisie hatte es damit in der Hand, das Vaterland vor dem Bankrott zu erretten, aber sie ließ durch ihren Vorkämpfer Hansemann erklären, dass „in Geldsachen die Gemütlichkeit aufhöre", und verweigerte jeden Pfennig, bis dem Vereinigten Landtag, diesem bloßen Scheinding von „Reichsständen", die Rechte einer wirklichen Volksvertretung gesichert sein würden.

Hansemanns geflügeltes Wort ist im Volksmund immer noch lebendig, aber in den Kreisen höherer staatsmännischer Einsicht scheint es nicht mehr recht verstanden zu werden. Es verlohnt sich deshalb wohl, einen Augenblick bei den Umständen zu verweilen, unter denen es gesprochen wurde. Es handelte sich um die Bewilligung von einigen zwanzig Millionen Talern für den Bau der Ostbahn, der schon begonnen hatte und gleichermaßen aus militärischen wie volkswirtschaftlichen Gründen eine Lebensfrage für den preußischen Staat im Allgemeinen wie für die Provinz Preußen im Besonderen war. Gleichwohl stimmten von den Vertretern dieser Provinz nur 18 für die Bewilligung der Anleihe, 65 aber dagegen, eben um die Regierung zur Bewilligung konstitutioneller Rechte zu zwingen oder, wie es der ostpreußische Edelmann v. Auerswald etwas pathetisch ausdrückte: „Wenn ich auch alle Hütten meines Landes durch die Bewilligung des Anlehens zu Schlössern verwandeln könnte, so würde ich in dem Glauben, dass mit leichtem und ruhigem Gewissen es sich glücklicher und behaglicher in einer Hütte als mit einem beschwerten im Palast selbst wohnen lässt, dagegen stimmen." Gegen Auerswald und Hansemann machte dann freilich schon Bismarck den Standpunkt geltend, der heute in den Kreisen der höheren staatsmännischen Einsicht vorherrscht, indem er „mit dem Namen der Erpressung brandmarkte", Klasseninteressen zu vertreten, wo es das Wohl des Vaterlandes gelte, aber in jener zurückgebliebenen Zeit erregte er damit nur das „laute Murren" der Versammlung und drückte nur ein Siegel mehr auf seinen Ruf, ein unverbesserlicher Reaktionär zu sein.

Kurzum, der Vereinigte Landtag verweigerte die geforderte Anleihe, und der Bau der Ostbahn blieb drei Jahre lang liegen. Aber die Kur der Bourgeoisie schlug ganz gut an; es war noch lange kein Jahr seit dem Schluss des Vereinigten Landtags verflossen, als der König sich entschloss, ihm zunächst die dringendste und oberste seiner Forderungen zu gewähren, nämlich die periodische Einberufung. Dieser erste Erfolg ihrer Methode, die Regierung bei langsamem Feuer zu braten, hätte der Bourgeoisie einstweilen vermutlich genügt, jedoch ehe sie sich darüber äußern konnte, warf sie der Aufstand des 18. März, wider ihr Erwarten und weit über ihr Hoffen und Wünschen hinaus, unmittelbar an das Ruder des Staates.

II

Nach dem 18. März hatte sich die Bourgeoisie zu entscheiden, ob sie, gestützt auf das Proletariat, die historischen Mächte des alten Preußens, Königtum und Adel, niederhalten, oder ob sie unter Opferung der Arbeiter, die ihren Sieg erkämpft hatten, sich vom Königtum und Adel einen bescheidenen Anteil am Regiment erbetteln und erschmeicheln wollte.

Es ist bekannt, wie sie sich entschieden hat. Ihre Entscheidung ist oft genug sehr bitter und hart beurteilt worden, und vom Standpunkt des historischen Fortschritts auch mit vollem Recht. Allein so verdammenswert immer ihr Verrat am Proletariat sein mochte, so darf man nicht verkennen, dass sie an ihrem ursprünglichen historischen Programm festhielt, an der Hegemonie des preußischen Staates, und dass ihr dies Programm nach den Pariser Junikämpfen von 1848 doppelt ans Herz gewachsen sein musste.

Es war ein Bruch mit allen preußischen Überlieferungen, als Camphausen und Hansemann, ein paar rheinische Kaufleute, die nie im Staatsdienste gestanden hatten, die führenden Ministerstellen erhielten. Weder am Adel noch am Königtum, weder an der Bürokratie noch am Heere hatten sie den geringsten Halt, vielmehr von all diesen durch den 18. März zwar schwer gedemütigten, aber noch keineswegs gebrochenen Mächten des alten Preußens auf Schritt und Tritt den hartnäckigsten Widerstand zu erwarten. Was sie selbst zwar noch nicht hinter sich hatten, aber doch haben konnten, waren die Volksmassen, deren Erregung immer noch in hohen Wellen ging. Jedoch das Heilmittel erschien ihnen schrecklicher als das Übel. „Die hohe Bourgeoisie, von jeher antirevolutionär, schloss aus Furcht vor dem Volke, d. h. vor den Arbeitern und der demokratischen Bürgerschaft, ein Schutz- und Trutzbündnis mit der Reaktion."5 Das geschah schon vor den Pariser Junitagen und nun vollends nach ihnen!

Bei dem Schutz- und Trutzbündnis mit der Reaktion machte die Bourgeoisie die üblen Erfahrungen, die sie nach Lage der gegenseitigen Machtverhältnisse machen musste; je kärglicher sie ihre Ansprüche bemaß, um so rücksichtsloser wurde sie damit abgewiesen. Schließlich erwies sie sich nicht einmal fähig, den sich von Tag zu Tag steigernden Herausforderungen des Offizierkorps an die neue Ordnung der Dinge mit einer platonischen Ermahnung zur Ruhe entgegenzutreten, und stolperte darüber zum Ministerium hinaus.

Es würde zu weit führen, an dieser Stelle zu untersuchen, ob fähigere Vertreter der Bourgeoisie, als Camphausen und Hansemann waren, die Sache besser gemacht hätten. Ein Genie war weder der eine noch der andere, und es macht mitunter einen erbarmungswürdigen Eindruck zu sehen, wie sie sich über den Löffel haben barbieren lassen. Aber schließlich kommt es darauf gar nicht an; im Wesen der Sache hätte an ihrer Stelle ein Mirabeau – den übrigens auch nur ein rechtzeitiger Tod vor einer gänzlichen Abwirtschaftung gerettet hat – es auch nicht besser gemacht oder vielmehr nicht besser machen können.

Man erkennt es deutlich genug, wenn man einen Blick auf die Frankfurter Nationalversammlung wirft. In ihr herrschte das mittel- und süddeutsche Element vor; von der Befangenheit der Camphausen und Hansemann, die einmal preußische Staatsangehörige waren und dann vom Rhein her schon das Proletariat genau kannten, waren die Gagern und Konsorten im allgemeinen frei. In der Tat, als bald nach Eröffnung des Frankfurter Parlaments ein preußischer Abgeordneter beantragte, die provisorische Zentralgewalt auf den König von Preußen zu übertragen, antwortete ihm ein allgemeines Hohngelächter, und ein österreichischer Abgeordneter forderte, es solle ausdrücklich im Protokoll vermerkt werden, dass dieser kuriose Antrag nicht einmal die geschäftsordnungsmäßig erforderliche Unterstützung von zwanzig Stimmen gefunden habe. Aber die innere Logik der Dinge ließ ihrer nicht spotten, und es war noch kein Jahr vergangen, als die Frankfurter Nationalversammlung sich aus der Sackgasse, in die sie sich verlaufen hatte, nicht anders zu retten wusste, als dadurch, dass sie dem König von Preußen die deutsche Kaiserkrone anbot.

Sie erntete von ihm dasselbe Hohngelächter, womit sie vor Jahr und Tag den Vorschlag begrüßt hatte, ihm die provisorische Zentralgewalt anzuvertrauen; mit verächtlicher Gebärde wies der romantische König den „imaginären Reif" zurück, der aus „Dreck und Letten" gebacken sei. Aber nun machte sich auch auf dieser Seite die innere Logik der Dinge geltend. Nachgerade dämmerte die Erkenntnis auf, dass die Hegemonie über Deutschland – und auf sie drängten den preußischen Staat seine Lebensinteressen – nicht anders mehr zu haben sei, als durch die Bourgeoisie, die sich zudem in den Stürmen der Revolution als recht zahmes Haustier bewährt hatte. Der General v. Radowitz, ein gescheiter Junker, von dem selbst die „Neue Rheinische Zeitung" mit einem gewissen Respekt sprach, kapierte den Zusammenhang zuerst, vorläufig unter wütendem Widerspruch der ostelbischen Junker, unter denen Bismarck „den großen Magier" am bittersten bekämpfte und hasste; Radowitz war ohnehin kein eigentlicher Ostelbier, erst sein Großvater war als ungarischer Kriegsgefangener im Siebenjährigen Kriege nach Deutschland verschlagen worden.

Es gelang ihm, einen Versuch mit der „Lösung der deutschen Frage" in proletarischem Sinne zu machen. Für diesen Zweck spannte er drei Stränge auf einen Bogen: einmal den sehr starken Einfluss, den er als alter Jugendfreund und geistreich spielender Kopf auf den König hatte, dann die Angst der deutschen Mittel- und Kleinstaaten vor der immer noch revolutionären Bewegung der Massen, die er durch preußische Bajonette niederzuwerfen verhieß, endlich auf die Genügsamkeit der deutschen Bourgeoisie, die sich zufrieden geben würde, wenn ihr einige elende Brocken aus der von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossenen Reichsverfassung hingeworfen würden, etwa eine Volksvertretung, aber nicht gewählt, wie in Frankfurt beschlossen worden war, auf Grund des allgemeinen Wahlrechts, sondern des Dreiklassensystems, das für diesen erhabenen Zweck erfunden und erst später im preußischen Staat oktroyiert wurde.

In den beiden ersten Punkten hatte Radowitz die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Unter dem Druck der altpreußisch-konservativen Partei ließ der König ihn fallen, und die Mittel- und Kleinstaaten nahmen die Niederwerfung der Aufstände in Dresden, in der Pfalz, in Baden usw. durch preußische Truppen zwar gerne an, aber sobald sie sich in Sicherheit fühlten, setzten sie der preußischen Hegemonie den Stuhl vor die Tür. Um so überschwänglicher erfüllten sich die Erwartungen, die Radowitz auf die Bourgeoisie gesetzt hatte. Bereits Ende Juni 1849 – ein Vierteljahr, nachdem sie sich in Frankfurt durch einen feierlichen Rütlischwur verpflichtet hatten, von der dort beschlossenen Verfassung sich kein Tüttelchen abdingen zu lassen – versammelten sich in Gotha 142 Mitglieder der Frankfurter Kaiserpartei, darunter ihre namhaftesten Mitglieder, und erklärten sich bereit, sich mit dem zu bescheiden, was ihnen Radowitz bot, einschließlich der Dreiklassenwahl.

Es war ein Ab- und Umfall, der eine Fülle von Hohn und Spott über die „Gothaer" herabzog. Man warf ihnen vor, sich nicht mit dem Wortbruch begnügt, sondern einen prinzipiellen Verrat unter Spekulation auf Halbheit, Schwäche und Feigheit organisiert zu haben. Selbst die „National-Zeitung", das angesehenste Blatt der preußischen Bourgeoisie, schrieb im August 1849, die Gothaer hätten sich von der Reaktion betäuben, verblenden und ins Schlepptau nehmen lassen, unselbständig, schwach, in diplomatisch sein sollenden Wendungen ewig sich drehend und beugend, ihre Grundsätze verleugnend, heute preisgebend, was sie gestern hochgepriesen, ohne den Mut freier Männer, die einen Willen haben und ihn aussprechen und ausführen, wenn auch die Welt voll Teufel war.

Mit dieser Schutztruppe konnte Radowitz sein Programm nicht durchführen gegenüber der Absage des Königs, dem Widerstand der Mittelstaaten und Österreichs und endlich dem drohenden Einspruch Russlands. Als er entlassen worden war, schrieb Bismarck jubelnd an seinen Freund Wagener: „Ich bin vor Freuden auf meinem Stuhl rund um den Tisch geritten, und manche Flasche Sekt ist auf die Gesundheit des Herrn v. Radowitz getrunken; zum ersten Male fühlt man Dank gegen ihn und wünscht ihm ohne Groll glückliche Reise."

Ein halbes Menschenalter später – und Bismarck führte das Programm der Gothaer aus, während die „National-Zeitung" sie als die „Edelsten und Besten" des Volkes verherrlichte.

1 Gemeint ist die Politik des Burgfriedens, des sozialchauvinistischen Verrats der rechten Führer der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften am Sozialismus und an den elementaren Interessen der Arbeiterklasse, die mit der Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Fraktion im Deutschen Reichstag am 4. August 1914 offen proklamiert worden war.

2 Privilegium odiosum (lat.) – das verhasste, das lästige Vorrecht.

3 Gemeint ist die Bekehrung des Christenverfolgers Saulius zum Apostel Paulus, die nach der Apostelgeschichte in Damaskus stattfand.

4 Marx an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz von Schaper, 17. November 1842. In: MEGA, Erste Abteilung, Bd. 1, 1. Halbbd., S. 281-285.

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