Franz Mehring 19100813 Bismarck und Cavour

Franz Mehring: Bismarck und Cavour

13. August 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 729-732. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 226-229]

Vor einigen Tagen, am 10. dieses Monats, kehrte der hundertste Geburtstag Camillo Cavours wieder. Er ist in Italien festlich begangen worden, und auch einzelne Blätter in Deutschland haben des Tages gedacht, wobei es nahe lag, einen Vergleich zwischen Bismarck und Cavour zu ziehen. Es war gar nicht so übel, wenn eine freisinnige Zeitung meinte, Cavour habe noch auf seinem Sterbebett jeden für einen Esel erklärt, der nur mit dem Belagerungszustand regieren könne, während Bismarck eigentlich nie ohne Belagerungszustand ausgekommen sei.

In der Tat war von den beiden Ministern, deren einer nach der landläufigen Vorstellung die deutsche, der andere die italienische Einheit geschaffen haben soll, Cavour der ungleich feinere, freiere, vornehmere und namentlich modernere Geist. Geboren in dem Königreich Piemont, das aus dem italienischen Leben halb herausgewachsen war, wie das Königreich Preußen halb aus dem deutschen Leben, war Cavour der Spross eines bigotten und reaktionären Junkergeschlechtes, das seinen reichlichen Anteil hatte an dem Fluche, den der deutsche Dichter auf Piemont schleuderte:

Unglückseliges Land, wo stets militär-jesuitisch Söldner und Pfaffen zumal saugen am Marke des Volks.

Die Ähnlichkeit mit dem edlen Preußentum springt auch hier in die Augen. Der junge Cavour hat sich aber früh von den Überlieferungen seiner Familie und seiner Klasse zu emanzipieren gewusst, viel früher und namentlich viel gründlicher als Bismarck. In dem Lebensalter, wo dieser noch auf den väterlichen Sandbüchsen in Hinterpommern, verkommen wie sie waren, ein müßig-wildes Leben führte, trieb Cavour, obschon er als jüngerer Sohn nur mäßig bemittelt war, auf seinem Landgut Leri bereits Landwirtschaft in großem Stile, versuchte neue Untergrundpflüge, pflanzte Riesenspargel, errichtete Düngerfabriken und Zuckersiedereien, half die Paketbootfahrt auf dem Lago Maggiore gründen. So wurde er ein reicher Mann, ohne je auf Dotationen aus dem Säckel der Steuerzahler oder auf patriotische Sammlungen angewiesen zu sein.

Cavour kannte die klassischen Ökonomen Englands, die Adam Smith und Ricardo, aus dem Grunde und wusste sehr genau, von woher die Quellen des bürgerlichen Reichtums fließen. Das waren böhmische Dörfer für Bismarck, dem volkswirtschaftliche Bildung immer fremd geblieben ist. Sicherlich war auch Cavour ein Gegner des Sozialismus, von dem er nichts verstand; „der kommunistische Grundbesitz eurer Bauern ist uns gefährlicher als alle eure Heere", sagte er noch in seinen reiferen Tagen einmal zum russischen Gesandten. Ein freundliches Geschick hat ihm erspart, die Tage zu erleben, wo seine liberale Gesinnung auf eine härtere Probe gestellt worden wäre, als durch die Sorge um den russischen Bauernkommunismus1. Möglich, dass er dann auch gestrauchelt wäre; sicher, dass er auf einem anderen Gebiet, auf dem Bismarck auch nur mit Ausnahmegesetzen wirtschaften konnte, sich davon vollkommen frei gehalten hat.

Er hat nie der unvergleichlichen Torheit gehuldigt, die katholische Kirche mit Gendarmen bekämpfen oder gar unterwerfen zu können. „Wo ist die Freiheit", meinte er, „die keine bitteren Früchte bringt? Ist es den Klerikalen einst, da sie über die weltliche Gewalt geboten, nicht gelungen, den Triumph der liberalen Ideen zu verhindern, um wie viel minder heut, da wir sie mit der Schule, der Presse und dem freien Worte bekämpfen können?" Wobei man dann auch nicht vergessen darf, dass die kirchlichen Fragen mit ganz anderer, mit viel unheimlicherer Glut auf dem Haupte Cavours brannten als auf dem Haupte Bismarcks.

Die italienische Einheit soll Cavour aber nur durch die Hilfe des Auslandes, durch schwere Opfer an auswärtige Despoten, auf rohen und tumultuarischen Wegen herzustellen gewusst haben. Als ob Bismarck in diesen Dingen eine weiße Weste gehabt hätte! Er war doch auch mit dem Ausland verbündet, als er im Jahre 1866 den deutschen Bruderkrieg entzündete; er hat bei Bonaparte ebenso antichambriert wie Cavour, nur dass er den Dezembermann, wenn auch nicht geschickter, so doch glücklicher zu prellen gewusst hat. Er hat sich die Bissen, die er dem gierigen Wolfe hinhielt, nicht aus der Hand schnappen lassen, wie es das Los Cavours war. Cavour hat schließlich Savoyen und Nizza herausrücken müssen, während Bismarck Mainz und die Rheinpfalz vor dem bonapartistischen Appetit schließlich zu sichern verstand. Aber Bismarck hatte alle Machtmittel eines großen und siegreichen Staates hinter sich, während Cavour an der Spitze eines Mittelstaates stand, der die Aristokratie Italiens eben erst zu verspeisen begonnen hatte. Solche Gaunereien mit dem Ausland sind sicherlich alles andere eher als schön, aber wenn man sie einmal nach den heiligen Überlieferungen der Diplomatie als gottgegebene Notwendigkeiten ansieht, so ist es schließlich Hose wie Jacke, ob der eine dabei mehr Verstand als Glück, oder der andere mehr Glück als Verstand gehabt hat.

Mit den „rohen und tumultuarischen Wegen", auf denen Cavour zur italienischen Einheit gelangt sein soll, im Gegensatz zu der, wie Treitschke und Genossen sich auszudrücken belieben, „geordneten politischen Aktion" Bismarcks, hat es nun vollends seine guten Wege. Cavour hat mit der revolutionären Partei seiner eigenen Nation sich einzurichten verstanden, während Bismarck durch revolutionär klingende Redensarten die Böhmen und Ungarn zum Hochverrat an den gottgegebenen Rechten ihres Souveräns von Gottes Gnaden aufzustacheln versuchte; man stelle sich nur das Gebrüll unserer abgestempelten Patrioten vor, wenn einmal ein russisches Heer in die Provinz Posen mit wörtlich demselben Manifest an die polnische Bevölkerung einrücken wollte, womit Bismarck 1866 beim Einmarsch der deutschen Truppen in Böhmen die tschechische Bevölkerung harangierte. Am letzten Ende hat Cavour ein einiges Italien geschaffen, als Monarchie zwar nur, aber doch ohne alle Untersatrapen und nur mit dem Verlust von ein paar hunderttausend meist französischer „Untertanen" seines angestammten Königshauses an Frankreich, während Bismarck einen großen Teil Deutschlands in die preußische Kaserne gesperrt hat, mit Beibehaltung von zwei oder drei Dutzend Mittel- und Kleinstaaten und mit Opferung von acht oder zehn Millionen Deutscher an die slawischen Mehrheitsvölker in Österreich. Man bilanziere die Rechnung, wie man will, es bleibt immer ein erhebliches Plus auf der Seite Cavours.

Nur freilich – in einem gewichtigen Punkte schwankt die Waage wieder. Es ist eine schiefe Voraussetzung, dass der eine die deutsche und der andere die italienische Einheit gemacht; wie alle Menschen hingen auch sie mehr von den Umständen als von ihrem Willen ab, und es ist nicht ausschließlich Cavours Verdienst, dass er vernünftiger, und nicht ausschließlich Bismarcks Schuld, dass er unvernünftiger vor dem Urteil der Geschichte erscheint. Wenn heute dies und jenes angeärgerte Freisinnsblatt seine ganz witzigen Bemerkungen über die verschiedene Stellung der beiden Minister zum Belagerungszustand und sonstigen Staatsstreicheleien macht, so muss man ihm ehrlicher- und gerechterweise antworten: Vous l'avez voulu, George Dandin! Hätte Cavour mit einer so feigen und kurzsichtigen Bourgeoisie zu schaffen gehabt wie Bismarck, so hätte er sich vielleicht auch zu einem „Säkularmenschen" ähnlichen Kalibers ausgewachsen; hätte Bismarck sich mit einer Bourgeoisie abzufinden gehabt, wie sie sich in den italienischen Einheitskämpfen bewährt hat, so wäre ihm nimmermehr die Verpreußung der deutschen Nation gelungen.

Dies ist schließlich der entscheidende Gesichtspunkt, sintemalen nicht die Könige ihre Völker, sondern die Völker ihre Könige machen. Wenn Bismarck niemals aus seiner Junkerhaut heraus konnte, so war das sein persönliches Pech, aber dass sich dies persönliche Pech zu einem nationalen Unglück auswuchs, das hat in erster Reihe die liberale Bourgeoisie verschuldet. Was für ein elender Abklatsch des italienischen Nationalvereins war jenes deutsche Gewächs gleichen Namens, das einige Jahre hindurch halb allgemeine Heiterkeit und halb allgemeine Verachtung hervorrief. Als das Volk von Florenz im Jahre 1859 den Großherzog von Toskana, der persönlich ein ganz achtbarer Mann und jedenfalls nicht, wie etwa der König von Hannover und andere deutsche Potentaten, mit Eid- und Verfassungsbrüchen besudelt war, zum Teufel jagte, stellte sich der Führer der Liberalen, Baron Ricasoli, an seine Spitze, indem er die provisorische Regierung übernahm, und diese entschlossene Haltung schaffte ihm solch Ansehen, dass er nach dem Tode Cavours zum leitenden Minister des Königreichs Italien ernannt wurde. Als Bismarck aber im Jahre 1866, von der Not gedrängt, dem Führer der hannoverschen Liberalen, der zugleich erster Vorsitzender des Nationalvereins war, Herrn v. Bennigsen, die provisorische Regierung des Königreichs Hannover antrug, lehnte dieser heroische Politiker fürsichtiglich ab, was ihm den tragikomischen Lohn bescherte, dass er trotz jahrzehntelanger heißer Bemühungen nie zum preußischen Minister avancieren konnte, da der alte Wilhelm meinte, dass ein Mann, dem einmal angeboten werden konnte, an die Stelle seiner Obrigkeit von Gottes Gnaden zu treten, dadurch schon verdächtig genug geworden sei.

Es ließe sich noch eine ganze Reihe solcher Gegensätze anführen, die in ein blendend klares Licht stellen, dass die deutsche Bourgeoisie ein gerüttelt und geschüttelt Teil der Schuld, ja die Hauptschuld daran trägt, dass Bismarck historisch in ungleich ungünstigerem Lichte steht als Cavour. Nach solchen Proben, wie ich deren eine oben angeführt habe, war es psychologisch nur zu erklärlich, dass Bismarck die Bourgeoisie verachten konnte als eine Rotte von Feiglingen, die schon beim Runzeln seiner Augenbrauen das Hasenpanier ergriffen. Und so wuchsen sich seine ostelbischen Junkerinstinkte immer maßloser aus.

Auch er ist nur ein Opfer der Verhältnisse gewesen, die er mit unumschränkter Machtvollkommenheit zu beherrschen wähnte; an den Lasten der Sklaven ist der Sklavenvogt dahingesiecht. Wie es auf der anderen Seite das Verdienst der italienischen Bourgeoisie ist, wenn sie das Andenken ihres Helden ohne Reue und Scham feiern darf.

1 Gemeint ist die bäuerliche Dorfgemeinschaft (община), die mit dem Zerfall der Gentilordnung analog der germanischen Markgenossenschaft entstanden war und sich örtlich in Resten und Teilen in Russland bis ins 19. Jahrhundert gehalten hat.

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