Franz Mehring 19100820 Das gleiche Urteil

Franz Mehring: Das gleiche Urteil

20. August 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 769-772. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 239-242]

Mit der vierzigsten Wiederkehr der Tage, in denen der Deutsch-Französische Krieg entbrannte, tauchen mannigfache Erinnerungen an die schicksalsreiche Zeit auf, und der alte Streit erhebt sich von neuem, wer die Schuld an dem Kriege getragen habe. Eifriger noch jenseits als diesseits der Vogesen, und mit gutem Fug, denn die Franzosen sind auf diesem Gebiet in siegreichem Vorschreiten; an die holde Mär von dem unschuldigen Lamm Bismarck, das unvermutet von dem gierigen Wolfe Bonaparte überfallen worden sei, glaubt selbst der deutsche Philister nicht mehr.

Die Franzosen sind auch insofern in günstigerer Lage, als sie beim Enthüllen der historischen Wahrheit keine zerbrechlichen Prestigen zu schonen brauchen. Es kann ihnen ganz gleich sein, ob Bonaparte etwas besser oder etwas schlechter abschneidet als Bismarck; sie sind weder mit dem Erbe des einen noch des anderen belastet. Deshalb ist es gerade kein hochherziger, aber doch ein sehr vernünftiger Entschluss der französischen Regierung, rückhaltlos ihre Archive über den Deutsch-Französischen Krieg und seine diplomatischen Vorspiele zu eröffnen. Der erste Band dieser umfangreichen Publikation, der sich erst auf mehrere Monate um die Jahreswende von 1863 auf 1864 erstreckt, ist bereits erschienen. Bis der letzte Band das Licht der Öffentlichkeit erblickt, mag wohl noch manches Jahr ins Land gehen, aber ein dankenswerter Anfang ist gemacht, und das ist mehr, als die preußische Regierung von sich rühmen kann. Sie wagt ja noch nicht einmal, die Archive über den Ursprung des Siebenjährigen Krieges zu öffnen, selbst nicht einmal den loyalsten Forschern.

Weshalb die Franzosen den sommerlichen Katastrophen des Jahres 1870 unbefangen gegenüberstehen, haben wir schon angedeutet; will man den Grund in möglichst kurzen Worten zusammenfassen, so muss man sagen: weil sie ihre Dezemberbande los sind, während die Deutschen noch immer unter dem Alp des ostelbischen Junkertums ächzen. Denn dies waren hüben und drüben die eigentlichen Kriegsinteressenten und deshalb auch die eigentlichen Kriegsschürer. Die Dezemberbande sah ihren Untergang vor Augen und riss aus diesem Grunde den Dezembermann, der sich immerhin wie das Kalb vor der Schlachtbank sträubte, in den Krieg, der ihr vielleicht noch eine Galgenfrist verschaffen konnte; das ostelbische Junkertum aber betrieb durch seinen Mandatar Bismarck den Krieg, weil es keine andere Möglichkeit hatte, das südliche Deutschland zu verspeisen und dennoch all seine Schönheit unversehrt zu erhalten. Wenn Bismarck später einmal gesagt hat, nur durch das Schwert seien die süddeutschen Staaten zu gewinnen gewesen, so hatte er ganz recht: vom junkerlichen Standpunkt aus, wenn auch nicht vom nationalen.

Es war für jedermann klar, dass der Genuss, europäische Mächte zu spielen, den der Prager Frieden1 den süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden sowie dem halben Hessen-Darmstadt gewährt hatte, nicht von ewiger Dauer sein werde; über kurz oder lang, und vermutlich über kurz, mussten sie sich mit dem Norddeutschen Bunde2 wieder zusammenschließen; dafür sorgte schon der Zollverein. Auf der anderen Seite war nicht minder klar, dass Bonaparte diesen Zusammenschluss nicht dulden konnte, ohne um den letzten Rest seines europäischen Prestiges zu kommen. Allein mit seiner Herrlichkeit ging es ohnehin unaufhaltsam zu Ende; es war kaum noch eine Frage von Jahren, sondern nur noch von Monaten, dass er unter inneren Schwierigkeiten zusammenbrach. Dann aber hätte sich die deutsche Einheit, soweit sie nach dem Ausschluss des deutschen Österreichs überhaupt noch zu erreichen war, ebenfalls unaufhaltsam vollzogen, ohne dass ein Tropfen Blutes zu fließen brauchte, aber freilich auch unter Bedingungen, die der ostelbischen Junkerherrlichkeit weit schwerere Opfer auferlegt hätten, als sie ohnehin schon mit innerem Brummen und Knurren der Verspeisung des norddeutschen Staatengewimmels gebracht hatte.

Die Dezemberbande drüben und das ostelbische Junkertum hüben wollten den Krieg, den weder die Interessen der deutschen noch die Interessen der französischen Nation geboten. Sie haben ihn denn auch mit Mitteln herbeigeführt, die ihrer durchaus würdig waren; auf ein Haar wäre Bismarck selbst in der plumpen Falle der spanischen Thronkandidatur hängengeblieben; er entging diesem beschämenden Schicksal nur durch die Umredigierung der Emser Depesche, die auch ein ungleich größeres Maß von Fingerfertigkeit als von Genie erheischte. Jedoch es ist ihm gelungen, die Junkerherrschaft so fest zu begründen, dass sie noch nach vierzig Jahren nicht gebrochen worden ist, und das ist freilich in ihrer Art eine historische Leistung.

Gleichwohl wäre Bismarck nicht an sein Ziel gelangt, wenn er nicht Mitschuldige gehabt hätte, deren man in diesen Erinnerungstagen auch gedenken sollte. Der eine dieser Mitschuldigen war die deutsche Bourgeoisie, die, selbst wenn man von ihren früheren Sünden ganz absehen will, mindestens nach den Tagen von Sedan den Triumph des Junkertums noch hätte hindern können, falls sie halbwegs ihrer nationalen Pflichten eingedenk gewesen wäre. Statt dessen ließ sie sich zum Hetzhunde für die junkerlichen Interessen missbrauchen; es war eine Schar bürgerlicher „Notabilitäten", die zuerst – natürlich im angeblichen Namen des deutschen Volkes – die Annexion Elsass-Lothringens forderten und damit den nackten Eroberungskrieg einweihten, der allem junkerlichen Begehren freie Bahn schuf.

Ein anderer Mitschuldiger Bismarcks war der süddeutsche Partikularismus. Nur einmal ist diesem seltsamen Plelden vergönnt gewesen, in den großen Welthändeln mitzutun, aber diese eine Gelegenheit hat er schmählich vertan. Was die süddeutschen Staaten zu tun hatten, wenn sie sich der Umklammerung des preußischen Junkertums entziehen wollten, lag nach dem Jahre 1866 auf der Hand; sie mussten im eigenen Hause moderne Zustände herstellen. Wenn ihre Regierungen sich dazu nicht aufraffen konnten oder mochten, so hätten sie unter dem Schutze der Eifersucht von ganz Europa sie zwingen können, die inneren Bedingungen einer dem Norddeutschen Bunde durch geistige Kraft überlegenen politischen Existenz zu schaffen. Aber davon war nach ihrer Niederlage im Jahre 1866 nicht einmal soviel zu spüren, wie selbst im preußischen Staate nach seiner Niederlage im Jahre 1806. Die moralischen Kräfte fehlten, und an ihre Stelle traten verletzte Eitelkeit und ohnmächtige Rachsucht; ein abgeschmackter Preußenhass blieb die einzige Triebfeder der süddeutschen Politik.

Mit Recht warnte damals ein deutscher Demokrat, der diesen Namen wirklich verdiente, im Gegensatz zu den süddeutschen Partikularisten, die nur mit demokratischen Redensarten um sich warfen, man solle doch nicht darauf rechnen, sich mit äußeren Mitteln an einem Gegner zu rächen, der gerade in solchen Mitteln überlegener sei als jemals früher; man solle doch nicht immer nach Österreich schielen, wo nach 1866 eine kümmerliche Bourgeoispolitik eingesetzt hatte. In dieser Beziehung war die Verblendung des süddeutschen Partikularismus so groß, dass er noch immer für die freiheitliche Regeneration Österreichs schwärmte – unter Beust, dem Totengräber von Waldheim –, als man in Österreich schon ein Vereinsgesetz gemacht hatte, das ein im Sinne polizeilicher Willkür dreifach verschlimmerter Abklatsch des Manteuffelschen Machwerks war, ein Wehrgesetz, das die unantastbare Kontingentierung auf eine längere Reihe von Jahren noch weiter trieb als das Wehrgesetz des Norddeutschen Bundes, ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz, das jeden Gedanken an eine ernsthafte Anwendung verspottete, und ein Gesetz über den Ausnahmezustand, das die wichtigsten Bürgschaften der bürgerlichen Freiheit durch Ministerialbeschluss aufzuheben gestattete. In den Jahren von 1866 bis 1870 hatte Bismarck allen Anlass zu seinem Hohnwort: wir Preußen seien für die Süddeutschen noch viel zu liberal.

Dadurch wurde ihm außerordentlich erleichtert, die süddeutschen Artischocken auf einmal zu verspeisen. Er hatte gar nichts dagegen, dass die süddeutschen Regierungen sich in den Verträgen von Versailles eine Reihe von partikularistisch-reaktionären Reservatrechten sicherten; denn der preußische und der süddeutsche Partikularismus stützen sich gegenseitig. Allein darin waren beide einig, dass auch nicht ein Titelchen eines Rechts für die Nation abfiel, die ihr Blut in Strömen auf den französischen Schlachtfeldern vergossen hatte. Möglich wurde dieser schnöde Undank nur durch die Sünden sowohl der norddeutschen Bourgeoisie als auch des süddeutschen Partikularismus.

Sich diese historischen Zusammenhänge zu vergegenwärtigen ist auch heute noch ratsam, ja ratsamer vielleicht als zu mancher anderen Zeit. Die satten Prozentpatrioten speisen die Invaliden des großen Krieges mit dem Rate ab, sich zur Feier ihrer Siege den Hungerriemen etwas enger zu schnallen und dafür den glitzernden Tand ihrer Orden auf die Brust zu hängen. Dieser blutige Hohn entfließt demselben Geiste, von dem Bismarck und seine Mitschuldigen vor vierzig Jahren beseelt waren, und ihnen allen gebührt das gleiche Urteil.

1 Der Abschluss des Prager Friedens vom 23. August 1866 zwischen Preußen und Österreich war Teil der Friedens- und Bündnisverträge, die den deutschen Bürgerkrieg von 1866 beendeten.

Am Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 nahmen auf Österreichs Seite Sachsen, Hannover, Bayern, Baden, Württemberg, Kur-Hessen, Hessen-Darmstadt und andere Mitglieder des Deutschen Bundes teil. Auf Preußens Seite standen Mecklenburg, Oldenburg und einige andere norddeutsche Staaten sowie drei Freie Städte.

2 Der Norddeutsche Bund wurde 1867 unter Führung Preußens nach seinem Sieg im Preußisch-Österreichischen Krieg an Stelle des auseinandergefallenen Deutschen Bundes gebildet. Im Norddeutschen Bund waren 19 deutsche Staaten und 3 Freie Städte vereinigt, die formal als selbständig anerkannt waren. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes sicherte Preußen die Vormachtstellung; das Präsidium des Bundes stand der Krone Preußens zu, es hatte über die Außenpolitik zu entscheiden; der König von Preußen wurde zum Bundesfeldherrn erklärt. Die Bildung des Norddeutschen Bundes war ein Schritt vorwärts auf dem Weg zur nationalen Einheit Deutschlands. Der Bund bestand bis zur Gründung des Deutschen Reiches 1871.

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