Franz Mehring 19021231 Der erste Fall derart

Franz Mehring: Der erste Fall derart

31. Dezember 1902

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 417-420. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 372-375]

Die zarten Gefühle heben jeden Unterschied des Ranges auf", sagte der sächsische König August, als die französische Tänzerin Duparc im geziemenden Bewusstsein ihrer „niedrigen" Geburt ehrfurchtsvolle Vorstellungen gegen die überschwängliche Gnade machte, zur königlichen Mätresse erhoben zu werden.

Es war zur Zeit, wo eine sächsische Adelsfamilie ihrer Tochter ein prunkendes Hochzeitsfest ausrüstete, weil sie zur selben Würde wie Mademoiselle Duparc avancierte und wo, wie ein zeitgenössischer Schriftsteller, Herr v. Wolframsdorf, also selbst ein Adliger, in seinen „Denkwürdigkeiten" schreibt, eine eigene Klasse Adliger an dem Dresdener Hofe lebte, „die, da sie aus eigenen Mitteln nicht leben konnten, ihre Frauen dem Vergnügen des Königs aufopferten, um sich in seiner Gunst zu erhalten". In unserer patriotischen Geschichtsschreibung lebt diese Zeit noch in der Weise fort, dass die adligen Dirnen der Fürsten im Brillantfeuer heroisch sentimentaler Liebesleidenschaft strahlen, während ihre bürgerlichen Dirnen, wie die französische Pompadour und die preußische Lichtenau, unter der ganzen Wucht der sittlichen Entrüstung ersticken, über die deutsche Professoren nur immer gebieten, unbeschadet der Tatsache, dass die bürgerlichen Dirnen historisch meistens eine immer noch anständigere Rolle gespielt haben als ihre adligen Konkurrentinnen. Vielleicht war es eine unheimliche Ahnung deutschen Professorenzornes, die der französischen Tänzerin Duparc gerechte Scheu einflößte, mit ihrer „niedrigen" Person ein königliches Gelüste zu befriedigen.

Aber der hochherzige Geist, womit König August ihre Bedenken niederschlug, hat sich am Dresdener Hofe erhalten oder, wenn er je eingeschlummert war, so ist er in diesen Tagen wieder erwacht. „Zarte Gefühle heben jeden Unterschied des Ranges auf", sagte die sächsische Kronprinzessin, als sie sich in den bürgerlichen Sprachlehrer Giron verliebte. Dennoch verleugnete sie den berühmtesten Ahnherrn der sächsischen Königsfamilie, indem sie sich nicht genügen ließ, an verbotener Lust zu naschen, sondern mit keckem Fuße alles Gerümpel irdischer Hoheit von sich stieß, um irgendwo im Ausland als Frau Sprachlehrerin Giron ein bescheidenes und einsames Dasein zu fristen. Als der preußische Wilhelm I. im Herbst 1870 seinem Sohne und seinem Neffen die Feldmarschallswürde verliehen hatte, telegraphierte er voll frohen Staunens über die historische Überraschung, die er sich selbst gespielt hatte, an seine Gemahlin: „Der erste Fall derart in Unserem Hause!" Das Wort hat einen heiter geflügelten Klang bekommen, allein seit der Flucht der sächsischen Kronprinzessin stöhnt die dynastische Welt Europas und der angrenzenden Weltteile in tiefstem Kummer: Der erste Fall derart in Unserem Hause!

Nicht als ob sich der Geschmack verehelichter oder unverehelichter Fürstinnen nicht schon zu bürgerlichen Wichten aller Art herabgelassen hätte, selbst noch tief unter die bescheidene Sphäre eines Sprachlehrers herab. Es gibt sogar boshafte Spötter, die von mehr als einer europäischen Dynastie behaupten, dass sie längst geistig und körperlich verfault wäre, wenn nicht ein strammer Kammerdiener oder Reitknecht frisches Blut in die verwelkenden Adern des erlauchten Geschlechtes gegossen hätte. Solch Ehebruch ist oft genug straflos betrieben worden, aber wenn er einmal bestraft werden sollte oder musste, sei es, weil der gehörnte Ehemann seiner besseren Hälfte nicht nachsehen wollte, was er der eigenen Schwachheit nachsah, sei es, weil die beleidigte Heuchelei der bürgerlichen Moral ein Opfer verlangte, so fanden sich die Sünderinnen in die standesgemäße Strafe: Sie ließen sich in ein Kloster oder ein Irrenhaus oder sonst ein, mit einem beschönigenden Namen verkleidetes Gefängnis sperren, um der Mitwelt aus den Augen zu verschwinden. Gerade hiergegen rebelliert zu haben, gerade in ihrem Entschluss, sich nicht dem Moloch ihrer Klasse zu opfern, sondern, was sie zu sühnen haben mag, als freier Mensch zu sühnen, in der Weise freier Menschen, gerade hierdurch hat die sächsische Kronprinzessin in den Augen ihrer Klassengenossen ein unverzeihlichstes Verbrechen begangen. Aber ebendies gibt ihrer Sache auch ein Interesse, das sie über die niedere Sumpfregion der monarchischen Eheskandale erhebt.

Das erste Entsetzen der höfischen Kreise entlud sich in dem blöden Schrei, dass die flüchtige Kronprinzessin geisteskrank sei. An dieses Märchen glaubte erstens niemand, und zweitens wurde es sofort zerstört durch die offenkundige Tatsache, dass die angeblich irrsinnige Frau in vollkommener Geistesklarheit mit allen möglichen Leuten im sicheren Auslande verkehrt hat. Dann wurde der zweite Giftpfeil abgeschossen mit der Behauptung, die Kronprinzessin habe am Dresdener Hofe in allem irdischen Glücke gelebt, als geliebte Gattin, als Mutter von fünf blühenden Kindern, und alles habe sie einer ruchlosen Leidenschaft geopfert. Obgleich alles das in schreiendem Widerspruch mit dem steht, was die bürgerlichen und speziell die Dresdener Philister gleich nach der Flucht der Kronprinzessin von ihrem gedrückten und gequälten Leben an dem bigotten Hofe in Dresden zu erzählen wussten, so wirkt dieser zweite Giftpfeil der höfischen Verleumdung schon mehr als der erste. Eine wesentliche Schuld daran trägt der Geliebte der Kronprinzessin. Dieser Herr Giron scheint in der Tat zu jenen nichtigen Fanten zu gehören, in die sich gerade charaktervolle und gescheite Frauen allzu oft zu verlieben pflegen. Er besitzt nicht den einfachen Takt zu begreifen, dass die Umstände, die ihn zu einer europäischen Berühmtheit gemacht haben, seinem öffentlichen Hervortreten die äußerste Reserve auferlegen, vielmehr lässt er sich von allen möglichen Reportern aus aller Herren Länder ausfragen und schwatzt dabei ein Zeug zusammen, das allerdings auf mehr als halbem Wege der Verdächtigung entgegenkommt, als habe die Kronprinzessin um eine „Operettenfigur", um eines beliebigen Laffen willen ihr eigenes Dasein und das Glück ihrer Kinder aufs Spiel gesetzt. Geht es so weiter, so werden die bürgerlichen Sympathien, die sich mannigfach und namentlich in Dresden selbst für die flüchtige Kronprinzessin aussprachen, bald erloschen sein; allen biederen Patrioten wird sie als die Verlorene erscheinen, als die sie nach der rachsüchtigen Schilderung der höfischen Soldschreiber erscheinen soll.

Daran ist nun auch wenig gelegen, und über kurz oder lang würde es doch dazu gekommen sein. Hätte der zweite Giftpfeil diese Wirkung noch nicht, der dritte oder vierte würde sie sicherlich haben. In jeder Klassengesellschaft siegt die Klasse immer über den Klassengenossen, der sich eigenmächtig, aus dem Rechte seiner freien Persönlichkeit heraus, gegen sie auflehnt. Aber wenn sich in der erstarrtesten und verhärtetsten aller Klassen, wenn sich in der monarchischen Klasse dies Recht der freien Persönlichkeit so mächtig regt, dass eine Frau den Mut hat, allen Vorurteilen ihrer Klasse ins Gesicht zu schlagen und ein Märtyrertum auf sich zu nehmen, vor dem oft genug die stärksten Männer zurückgeschreckt sind, so erscheint darin immerhin ein Zeichen der Zeit, von dem es sich lohnt, einige Notiz zu nehmen.

Die Liebediener der Monarchie pflegen sie als der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht zu preisen, als das sichere Ruder, das die Staatsschiffe allein über das wogende Meer der Geschichte in den Hafen führen könne. Wer aber Augen hat zu sehen, der sieht in diesem angeblich ruhenden Pol selbst nur der Erscheinungen Flucht. Das historische Gleichgewicht, das die Monarchie einmal gehabt haben mag, tritt heutzutage in eine entgegengesetzte Tendenz auseinander. Auf der einen Seite entwickelt sich ein monarchisches Größenbewusstsein, wie es in dieser ausschweifenden Form selbst ein Ludwig XIV. oder [ein] Friedrich II. nicht besessen haben, auf der anderen Seite sind die Fälle nicht mehr ganz selten, in denen Angehörige alter Dynastien es vorziehen, der Monarchie gelassen den Rücken zu kehren. Insoweit ist der Fall der sächsischen Kronprinzessin allerdings nicht der erste seiner Art; zugleich mit ihr hat einer ihrer Brüder auf alle Ehren, Rechte, Titel und Würden als österreichischer Erzherzog verzichtet, und vor ihnen hat bekanntlich auch schon ein anderer österreichischer Erzherzog denselben Schritt getan.

Was sich in diesem Spiele der entgegengesetzten Tendenzen innerhalb der Monarchie vollzieht, das ist nichts anderes als ihre historische Auflösung. In ihrer alten historischen Form ist sie längst tot und begraben; heute existiert sie nur von dem Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der ihr, solange er noch unentschieden tobt, einen Einfluss und eine Macht gewährt, die in umgekehrtem Verhältnis zu dem stehen, was sie historisch hinter sich hat. So ruht sie nicht mehr auf dem zuversichtlichen Felsen der Gnade Gottes, sondern ihr Wesen ist eine innere Unsicherheit, die sich hier durch ein ungemessenes Selbstbewusstsein zu betäuben sucht, dort aber zu der Erkenntnis führt: Le jeu ne vaut pas la chandelle, die Geschichte kostet mehr als sie wert ist, lassen wir sie also fahren, wohin sie will.

Bei diesen monarchischen Elementen ist die Einsicht größer, womit jedoch nicht gesagt sein soll, dass bei jenen die Kraft größer sei. Im Gegenteil! Der mutige Trotz, den die sächsische Kronprinzessin im Kampfe gegen ihre Klasse gezeigt hat, mag sie sonst „Fehltritte" begangen haben, soviel sie will, wiegt an wirklicher Kraft unzählige Reden von den vernichtenden Wirkungen der monarchischen Gewalt auf. Wir wünschen wirklich, die Rache, die ihre Klasse an der flüchtigen Kronprinzessin von Sachsen nehmen kann und wird, wäre so unschädlich, wie alles monarchische Wetterleuchten am Horizont des klassenbewussten Proletariats ist.

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