Franz Mehring 19140724 Die Entstehung des neudeutschen Reichs

Franz Mehring: Die Entstehung des neudeutschen Reichs

24. Juli 1914

[Die Neue Zeit, 32. Jg. 1913/14, Zweiter Band, S.764-772, 808-817. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 185-205]

Als im Jahre 1863 die Halbjahrhundertfeier des Jahres 1813 stattfand, wurde mit ihr die Jahrhundertfeier des Hubertusburger Friedens von 1763 verbunden. So hätte man erwarten können, dass mit der Jahrhundertfeier von 1813, die eben mit so großem Tamtam begangen worden ist, auch die Halbjahrhundertfeier von 1863 und der folgenden Jahre verbunden worden wäre. Denn die Zeiten, in denen das neudeutsche Reich entstand, sind am Ende doch auch des Gedenkens wert, zumal da dieses Reich nach der Vorstellung der herrschenden Klassen die herrliche Erfüllung alles patriotischen Sehnens gebracht haben soll.

Davon ist aber ganz und gar keine Rede gewesen, und auch in diesem Jahre sind in Molochs Lieblingslande nicht einmal die Schlachttage von Düppel und Alsen bei ihrer fünfzigsten Wiederkehr gefeiert worden, es sei denn mit einigen flüchtigen Zeitungsnotizen. Das erscheint etwas wunderbar in Tagen, die sich im Feiern offizieller Feste sonst nicht genug tun können, doch ist die ungewohnte Schweigsamkeit leicht genug zu erklären. Von den Ereignissen, die das neudeutsche Reich geschaffen haben, gilt für die patriotischen Festharfner, was in Goethes „Faust" von den „Müttern" gesagt wird: Von ihnen sprechen ist Verlegenheit. Der monarchische Spektakel verstummt, wenn es gilt, daran zu erinnern, dass der Vater der deutschen Kaiserin um sein legitimes Erbrecht auf Schleswig-Holstein von Preußen geprellt und der Thron von Gottes Gnaden, den nach allem göttlichen und menschlichen Rechte der Schwiegervater des deutschen Kaisers einnehmen sollte, von demselben Preußen zertrümmert worden ist. Dafür wird sich das alldeutsche Bardengebrüll um so heftiger austoben, wenn im Jahre 1920 der fünfzigste Jahrestag der Schlacht von Sedan1 wiederkehrt. Das patriotische Lärmen gegen ein großes Kulturvolk verletzt im „Reiche der Gottesfurcht und frommen Sitte" keine allerhöchsten Hühneraugen, darf vielmehr damit rechnen, einen Regen von Orden und Titeln zu entfesseln.

Die Arbeiterklasse ist glücklicherweise nicht an die Gebote der zarten Rücksicht gebunden, die die patriotischen Federn und Zungen bei der Erinnerung an die Tage vor fünfzig Jahren fesselt. Sie hat vielmehr allen Anlass, der Jahre zu gedenken, in denen das neudeutsche Reich entstanden ist, und keineswegs nur zu dem – höchstens nebensächlichen – Zwecke, das schamhafte Schweigen der patriotischen Welt zu beschämen. In erster Reihe handelt es sich für sie um viel ernstere Zwecke, um die Erkenntnis der Frage, wieso es kommt, dass sie heute noch, in einem klassischen Lande der modernen Großindustrie, mit einer historisch so rückständigen Klasse wie dem ostelbischen Junkertum als mit ihrem stärksten und zähesten Gegner kämpfen muss, ohne bisher dabei die Erfolge erzielt zu haben, die ihren gewaltigen Anstrengungen einigermaßen entsprochen hätten. Die Frage, wie die scheinbar unerschütterliche Machtposition des Junkertums erschüttert werden kann, hängt aufs engste zusammen mit der Frage, wie das Junkertum diese Machtposition hat erhalten können, und man kann dieser Frage nicht auf den Grund gehen, ohne dass lehrreiche Streiflichter auf die Gegenwart fallen.

Hierauf zielen die nachfolgenden Ausführungen ab, und nicht etwa auf eine einseitige Kritik, sei es des Junkertums, sei es der Bourgeoisie. Diese Kritik liefern die Ereignisse selbst schon; was sich aber nicht ohne weiteres aus ihnen ablesen lässt – trotz der schier unabsehbaren Literatur, in der sie geschildert werden –, ist ihr innerer Zusammenhang. Ihn zu erkennen ist ungleich wichtiger, als die herrschenden Klassen mit Vorwürfen zu überschütten, die bei aller sachlichen Berechtigung so hart gesottenen Geschäftsleuten schließlich kein Haar krümmen.

I

In einer Kritik Stirners, die Bernstein vor etwa zehn Jahren in den „Dokumenten des Sozialismus" veröffentlicht hat, führen Marx und Engels aus, dass sich der Zustand Deutschlands am Ende des achtzehnten Jahrhunderts vollständig in Kants „Kritik der praktischen Vernunft" abgespiegelt habe. Kant und die deutschen Bürger, deren beschönigender Wortführer er gewesen sei, hätten nicht gemerkt, dass den theoretischen Gedanken der Französischen Revolution materielle Interessen und ein durch die materiellen Produktionsverhältnisse bedingter und bestimmter Wille zugrunde gelegen habe; Kant habe daher diesen theoretischen Ausdruck von den Interessen getrennt, die er ausdrückte; er habe die materiell begründeten Bestimmungen des Willens der französischen Bourgeoisie zu reinen Selbstbestimmungen des „freien Willens", des Willens an und für sich, des menschlichen Willens gemacht, ihn so in rein ideologische2 Begriffsbestimmungen und moralische Postulate verwandelt.

Erst durch die Julirevolution von 1830 seien die der ausgebildeten Bourgeoisie entsprechenden politischen Formen den Deutschen von außen zugeschoben worden. Da die deutschen ökonomischen Verhältnisse noch bei weitem nicht die entsprechenden Entwicklungsstufen erreicht gehabt hätten, so hätten die Bürger diese Formen wiederum nur als abstrakte Ideen angenommen, als an und für sich gleichgültige Prinzipien, als fromme Wünsche und Phrasen, als Kantsche Selbstbestimmungen des Willens und der Menschen, wie sie sein sollten. Endlich hätte die immer heftiger werdende Konkurrenz des Auslandes und der Weltverkehr, in den Deutschland getreten sei, die deutschen zersplitterten Lokalinteressen zu einer gewissen Gemeinsamkeit zusammengefasst; namentlich seit 1840 hätten die deutschen Bürger begonnen, auf die Sicherstellung dieser gemeinsamen Interessen zu denken; sie seien national und liberal geworden und zur Zeit – im Jahre 1845 oder 1846 – beinahe so weit wie die französischen Bourgeois im Jahre 1789.3

In dieser treffenden Schilderung fehlt jedoch ein historischer Gesichtspunkt, der von Anbeginn in die nationalen und liberalen Bestrebungen der deutschen Bourgeoisie hineinspielte und sie je nachdem schwächer oder stärker beeinflusste. Es ist die Gründung des preußisch-deutschen Zollvereins, der zwar nicht den Zweck hatte, ein Geburtshelfer der deutschen Bourgeoisie zu sein, aber doch die Wirkung. Er wurde von der preußischen Regierung betrieben, um drängender Finanznot zu steuern, aber er begann ein gemeinsames Wirtschaftsgebiet und damit die Grundlage eines nationalen Staates zu schaffen. So hat denn schon das erste namhafte Pressorgan, das sich die deutsche Bourgeoisie zur Vertretung ihrer nationalen und liberalen Tendenzen schuf, für die preußische Vorherrschaft über Deutschland gekämpft.

Es war die „Rheinische Zeitung" von 1842, an der sich, wie bekannt, Karl Marx seine literarischen und politischen Sporen verdient hat. Geborener Rheinländer, hat Marx altpreußisches Wesen nie geliebt, und Berlin, wo er nahezu fünf Jahre studiert hatte, war ihm im Grunde der Seele zuwider. Aber der preußenfreundlichen Politik der „Rheinischen Zeitung" hat er sich zunächst nicht entzogen, selbst dann noch nicht, als er nicht mehr nur ständiger Mitarbeiter, sondern leitender Redakteur des Blattes war. Im Kölner Stadtarchiv befindet sich noch eine von ihm eigenhändig geschriebene Eingabe an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, worin er die ersten Angriffe der Regierung gegen das Blatt abwehrte, indem er dessen Ab- und Ansichten darlegte. Eine Skizze seines Gedankenganges hat G. Mayer kürzlich in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht, und aus ihr mögen hier einige Sätze mitgeteilt werden.

Marx führte darin aus, die „Rheinische Zeitung" wolle, soviel an ihr liege, den Weg des Fortschritts bahnen helfen, auf dem Preußen gegenwärtig dem übrigen Deutschland vorangehe. Sie betrachte es als ihre Aufgabe, in der Provinz, wo sie erscheine, die Blicke auf Deutschland zu lenken und hier statt eines französischen einen deutschen Liberalismus hervorzurufen, was der Regierung Friedrich Wilhelms IV. gewiss nicht unangenehm sein werde. Auch sei in ihren Spalten stets darauf hingewiesen worden, dass von der Entwicklung Preußens die Entwicklung des übrigen Deutschlands abhänge. Neben ihren polemischen Artikeln gegen die antipreußischen Bestrebungen der „Augsburger Allgemeinen Zeitung" und neben ihrer Agitation für die Ausdehnung des Zollvereins auf das nordwestliche Deutschland zeigten sich ihre preußischen Sympathien vor allem in ihren steten Hinweisen auf norddeutsche Wissenschaft im Gegensatz zu der Oberflächlichkeit der französischen und auch der süddeutschen Theorien. Die „Rheinische Zeitung" sei das erste „rheinische und überhaupt süddeutsche Blatt", das hier den norddeutschen Geist einführe und damit zu der geistigen Einigung der getrennten Stämme beitrage.4

Man wird nicht jedes Wort dieser Urkunde auf die Goldwaage legen dürfen; sie war kein freiwilliges Bekenntnis, sondern eine notgedrungene Abwehr. Aber im Wesen der Sache hat auch der junge Marx noch an eine nationale Mission des preußischen Staates geglaubt, wenn auch nicht für lange; wenige Monate später schrieb er an Ruge: Der Prunkmantel des Liberalismus ist gefallen; der widerwärtigste Despotismus steht in seiner ganzen Nacktheit vor aller Welt Augen.5

So schnell bekehrt war die deutsche Bourgeoisie nun freilich nicht und konnte es ihrem Wesen nach auch nicht sein. Aber wenn sie durch den Zollverein an den preußischen Staat gekettet blieb, so bemühte sie sich in vormärzlicher Zeit wenigstens, ihn ihren Zwecken dienstbar zu machen und nicht umgekehrt sich seinen Zwecken zu unterwerfen. Sie lehnte damals noch mit höflicher Entschiedenheit ab, das zu werden, was sie heute geworden ist: nämlich eine „Pumpanstalt" für den ostelbischen Absolutismus und Feudalismus; auf dem Vereinigten Landtag von 1847, dessen Einberufung der preußischen Krone durch die wachsende Finanznot abgezwungen worden war, trieb sie die „Erpresserpolitik", die die Worthelden des heutigen Freisinns mit so schönem sittlichem Pathos verfluchen; sie weigerte sich, eine Anleihe von einigen zwanzig Millionen Talern für den Bau der aus militärischen und volkswirtschaftlichen Gründen gleich notwendigen Ostbahn zu bewilligen, ehe nicht die regelmäßige Einberufung des Vereinigten Landtags gesichert und seine parlamentarischen Rechte erweitert seien. Ein ostpreußischer Liberaler erklärte: „Wenn ich auch alle Hütten meines Landes durch die Bewilligung des Anlehens zu Schlössern verwandeln könnte, so würde ich in dem Glauben, dass mit leichtem und ruhigem Gewissen es sich glücklicher und behaglicher in einer Hütte als mit einem beschwerten im Palast selbst wohnen lässt, dagegen stimmen", ein Ausdruck edelsten Gemüts, den ein rheinischer Liberaler dann in die richtige Sprache der Bourgeoisie mit dem geflügelten Worte übersetzte, dass in Geldsachen die Gemütlichkeit aufhöre.

Die preußische Krone hatte aber kein Verständnis, weder für den einen noch für den anderen Stil der Bourgeoisie. Emporgekommen durch beständigen Verrat von Kaiser und Reich an das Ausland, besaß sie für nationale Interessen selbst nur im bürgerlichen Sinn überhaupt keinen Sinn, und auch ihr immer reger Appetit nach des Nächsten Hab und Gut war in ihrem damaligen Träger weniger stark entwickelt als in seinen Vorgängern oder seinem Nachfolger. Friedrich Wilhelm IV. war sogar ein Mann von „teutscher" Gesinnung, wenn auch nur in der pathologischen Form, dass er die Wiederherstellung eines mittelalterlichen Reiches erstrebte, wie es etwa zur Zeit der Hohenstaufen bestanden haben mochte. Über diese persönlichen Schrullen siegte dann freilich sofort die preußische Staatsräson, als der 18. März die romantischen Träume des Königs bis auf die letzte Spur verweht hatte. Noch brummte der königliche Schädel von den Schlägen der Barrikadenkämpfer, als sein erlauchter Träger bereits – am 21. März – wie ein Jahrmarktsreiter, aufgeputzt mit schwarzrotgoldenen Farben, durch die Straßen Berlins ritt und feierlich erklärte, für die Tage der Gefahr übernehme er die Leitung der deutschen Dinge; er nehme die deutschen Farben an und stelle sein Volk unter das ehrwürdige Banner des Deutschen Reiches; Preußen gehe fortan in Deutschland auf.

Die geschmacklose Komödie erweckte das Hohngelächter ganz Europas, nur leider nicht den Abscheu der deutschen Bourgeoisie, den sie am ehesten hätte erwecken sollen. Auch die Bourgeoisie hatte aus den Barrikadenkämpfen des 18. März gelernt; diese entschlossene Manier, schwebende Fragen zu lösen, unterschied sich gar zu sehr von der langsamen Methode, die Krone kleinzukriegen, womit sie auf dem Vereinigten Landtag begonnen hatte. So verfiel sie auf den verwünscht gescheiten Gedanken, das, was sie verlangte, dadurch zu erkaufen, dass sie die Interessen der Volksmassen der Krone opferte. Dieser schnöde Verrat zieht sich wie ein roter Faden durch die Politik, die die deutsche Bourgeoisie vom Frühjahr 1848 bis 1849 trieb. Aber als die Frankfurter Nationalversammlung eine Reichsverfassung nach bürgerlichem Geschmack zurechtgemacht und den preußischen König zum deutschen Kaiser erwählt hatte, lehnte dieser treffliche Monarch die papierene Krone ab, weil sie, wie er in seinem „Sauherdenton" sagte, mit dem „Ludergeruch" der Revolution behaftet sei.

Was er an seinem Teil plante, war ein Leichenraub an dieser Revolution. Er versprach den deutschen Mittel- und Kleinfürsten den Schutz der preußischen Waffen gegen ihre rebellischen „Untertanen", wofür sie die preußische Oberherrschaft anerkennen sollten. Sie gingen darauf ein, solange die Gefahr drohte; in Dresden, in Baden, in der Pfalz sind damals preußische Truppen missbraucht worden, um die Aufstände für die Reichsverfassung niederzuwerfen. Und zu diesem schmählichen Handel sagte ein großer Teil der Bourgeoisie, die die Reichsverfassung gemacht hatte, ja und amen auf einer Versammlung, die diese Biedermänner in Gotha abhielten. Sie opferten ihr eigenes, vom bürgerlichen Standpunkt halbwegs leidliches Machwerk einem Wechselbalg von sogenannter Unionsverfassung, dessen Hauptzierde das Dreiklassenwahlrecht war, das im preußischen Staate sofort widerrechtlich an die Stelle des allgemeinen Wahlrechts gesetzt wurde.

So hatten sich der preußische Staat und die deutsche Bourgeoisie, die sich solange nicht verstanden hatten, doch endlich im Kot gefunden. Jedoch das Ausland gestattete seinem preußischen Liebling keine rollenwidrigen Seitensprünge. Am wenigsten Väterchen, der den preußischen Ministerpräsidenten nach Warschau beschied, um die Knute drohend über ihn zu schwingen. Aber selbst mit Österreich, das trotz seiner inneren Zerrüttung sich keineswegs gutwillig aus Deutschland hinauskomplimentieren zu lassen gedachte, konnte der preußische Staat es auf keinen Waffengang ankommen lassen. Der Versuch einer Mobilmachung erwies das Heer als innerlich gänzlich zerfallen, trotz der wohlfeilen Triumphe, die es im Kampfe gegen einige Freischaren davongetragen hatte. In der Schande von Olmütz6 endeten vorläufig die Versuche, ein Deutsches Reich herzustellen, einer Schande, an der die schwachköpfigen Liberalen, die laut darüber jammerten, keinen geringeren Anteil hatten als die Junker, die laut darüber jubelten, wie der Junker Otto v. Bismarck.

Diese Junker wollten überhaupt nichts von einem „deutschen" Beruf Preußens wissen, sondern sich in ihrem ostelbischen Winkel gegen alles verschanzen, was ein historischer Fortschritt war oder auch nur danach aussah. Die oktroyierte Dreiklassenwahl hatte ihnen das Heft in die Hand gegeben, und wenn es je eine parlamentarische Regierung im preußischen Staate gegeben hat, so war es in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die sogenannten Landratskammern spielten die Herrscher des Staates, die das Ministerium Manteuffel ganz nach ihrem Willen lenkten, oft genug gegen dessen eigenen Willen, denn Manteuffel blickte als gewitzter Bürokrat etwas weiter um sich als der Landjunker von altem Schrot und Korn.

Ihre einzige Aufgabe sahen die „Landratskammern" darin, das Recht des Landes nach Kräften zu zerstören. Wenn der „Rechtsstaat" Preußen in geschichtlichem Sinne überhaupt die reine Ironie war, so beruhte er nach bürgerlichen Rechtsbegriffen auf den Gesetzen vom 6. und 8. April 1848. Um das Recht der Revolution zu verleugnen und die „Kontinuität des Rechtszustandes" aufrechtzuerhalten, hatte das bürgerliche Märzministerium Camphausen-Hansemann den Vereinigten Landtag einberufen und mit seiner Zustimmung jene beiden Gesetze erlassen, von denen das eine (vom 8. April) das allgemeine, gleiche, geheime, aber indirekte Wahlrecht, das andere (vom 6. April) als die Grundlage des öffentlichen Rechtes im preußischen Staate verkündete: Freiheit der Presse ohne Kautionen, Schwurgerichte auch für politische Vergehen, Unabhängigkeit des Richterstandes und Beseitigung der über ihn verhängten Disziplinargesetze, freies Vereins- und Versammlungsrecht, Genuss der staatsbürgerlichen Rechte ohne Rücksicht auf das religiöse Bekenntnis und endlich, als die Krone von allem, die Verheißung, dass der Erlass aller Gesetze, die Festsetzung des Etats und die Erhebung der Steuern von der Zustimmung der künftigen, auf Grund des allgemeinen Wahlrechts zu wählenden Volksvertretung abhängig sein solle. Vom revolutionären Standpunkt mochte man diese Gesetze anfechten, wie es Karl Marx getan hat7, aber vom bürgerlichen Standpunkt waren sie das allein geltende Recht des Landes, von Regierung, Junkertum und Bourgeoisie einmütig beschlossen, gerade um die „Kontinuität des Rechtszustandes" zu wahren.

Durch eine Reihe widergesetzlicher Gewaltstreiche, Sprengung der Berliner Vereinbarerversammlung, Oktroyierung der Dreiklassenwahl usw., wurden sie alsbald zertrümmert oder verkümmert, und die preußische Verfassung von 1850 gab nur noch ein klägliches Zerrbild von ihnen. Aber auch an der immer stärkeren Verzerrung dieses Zerrbildes arbeiteten die Junker in den fünfziger Jahren unausgesetzt. Im Jahre 1857 schrieb darüber der junge Treitschke in den „Preußischen Jahrbüchern": „Jedes öffentliche Recht der Preußen entbehrt der Garantie, die verfassungsmäßigen Rechte so gut wie die schon länger bestehenden. Sämtliche Verwaltungsbeamten, sogar die rein technischen, stehen in der unbedingten Abhängigkeit vom Ministerium. Mit der Abhängigkeit von oben steht die rechtlich unbeschränkte Machtbefugnis nach unten in Wechselwirkung. Ein Widerstand gegen die Polizeibehörden ist fast unmöglich; wer die Vorschriften derselben nicht erfüllt, kann dazu im Exekutionsweg gezwungen werden durch Geld- und Gefängnisstrafe, selbst wenn jene Vorschriften auf Irrtum beruhen oder geradezu gesetzwidrig sind. Eine rechtliche Klage wegen solcher Exekution findet durchaus nicht statt. Selbst die Klage auf Schadenersatz in solchen Fällen ist ausgeschlossen durch das Gesetz vom 13. Februar 1854, das den Artikel 97 der Verfassung, statt ihn auszuführen, tatsächlich vernichtet hat. Das Ministerium hat das Recht, in Fällen der Gefahr eine Anzahl der wichtigsten Verfassungsartikel zeit- und schrittweise außer Kraft zu setzen (Artikel 111), und es gibt keinen rechtlichen Weg, den Missbrauch dieser Befugnis zu hindern. Finden die Kammern die Suspension ungerechtfertigt, so hört damit der Ausnahmezustand nicht auf. Nach einer Erklärung des Ministers des Innern wäre dies ein Eingriff in die Regierungsexekutive, es bleibe dem Landtag nichts übrig, als die Minister in den Klagezustand zu versetzen – was ihm bekanntlich unmöglich gemacht ist. Die Freizügigkeit war schon lange vor dem parlamentarischen Leben ein Recht jedes Preußen, aber wenn die Polizeibehörden nach ihrem Ermessen auf Niederlassungsgesuche die Bestimmungen über die Fremdenpolizei anwenden, so gibt es kein Rechtsmittel dagegen. Artikel 5 und 6 gewährleisten die persönliche Freiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung, aber die Polizei darf ohne richterliche Erlaubnis in die Wohnungen eindringen, wenn sie glaubt, dass durch Angehung des Staatsanwalts oder des Gerichts der Zweck der Untersuchung vereitelt werde. Bin ich durch Fahrlässigkeit eines Beamten meiner Freiheit beraubt, so habe ich gar keine Klage; bin ich verhaftet durch böse Absicht des Beamten, so habe ich nur dann eine Klage, wenn die vorgesetzte Behörde es nicht für gut befindet, den Kompetenzkonflikt zu erheben. Kein Gericht schützt den Staatsbürger, wenn ein Ministerialerlass durch Veränderung des Wahlkreises ihm die Ausübung der ersten staatsbürgerlichen Pflicht unmöglich macht… Und so könnten wir all die köstlichen Früchte der Verwaltung aufzählen, um die wir Tantalusqualen leiden, weil sie vom Scharfsinn der Verwaltung so hoch gehängt werden. Solange die Grundrechte nicht unter richterlichen Schutz gestellt sind, steht der Interpretation der Regierung nichts im Wege, welche die prägnantesten und wichtigsten Verfassungsbestimmungen kurzweg für allgemeine Grundsätze und darum für nicht bindend erklärt. Solange ist es den bestehenden Zuständen ganz angemessen, wenn in den Kammern mit antiker Offenheit gesagt wird: Es handelt sich nur darum, ob dieser Artikel formell geändert oder im Verwaltungsweg umgangen werden soll." Soweit Treitschke, dessen Zeugnis um so unanfechtbarer ist, als er die Dinge immer noch in viel zu rosigem Lichte sah; wären die „Grundrechte" unter den „richterlichen Schutz" des feilen Obertribunals gestellt worden, so wäre es Hose wie Jacke gewesen.

Man könnte nun fragen: Weshalb machten die Junker nicht überhaupt kurzen Prozess mit der ganzen Verfassung? In der Tat haben sie den Gedanken immer wieder erwogen. Und Friedrich Wilhelm IV. hat sich bis in die Nacht des Wahnsinns mit der Absicht eines Staatsstreichs getragen, der die Verfassung durch einen „Königlichen Freibrief" ständischen Charakters ersetzen sollte. Was schließlich alle diese Pläne vereitelt hat, war nicht irgendein sittliches Bedenken und am wenigsten der Eid, den der König auf die Verfassung geleistet hatte, sondern die sehr nüchterne Tatsache, dass der Scheinkonstitutionalismus die preußische Krone aus dem ewigen Dalles befreit hatte, worin sie seit Jahrzehnten gelebt hatte. Durch die Zustimmung einer gewählten Volksvertretung gewann sie auf dem europäischen Geldmarkt einen Kredit, der dem vormärzlichen Absolutismus immer versagt geblieben war. Darauf konnte nicht verzichtet werden, und die Junker sorgten nur dafür, dass die parlamentarische Geldbewilligungsmaschine niemals in einen ihnen unbequemen Gang gesetzt werden konnte. Der Staatshaushalt wurde dem im Anfang des Jahres zusammentretenden Landtag erst für das laufende Jahr vorgelegt, so dass er immer schon verausgabt wurde, während das Abgeordnetenhaus ihn erst beriet. Dann aber wurde er nur in allgemeinen Titeln und Summen ausgeworfen, die dem Ministerium gerade in den wichtigsten Verwaltungszweigen, namentlich in der Militärverwaltung, einen der Kontrolle der Volksvertretung fast gänzlich entzogenen Spielraum und die Machtvollkommenheit gewährten, auch ohne und gegen den Willen des Parlaments tiefgreifende Einrichtungen zu treffen. Endlich hatten die Junker noch in der Verfassung eine besondere Zwickmühle für den Fall angebracht, dass die Budgetbewilligung des Abgeordnetenhauses einmal unbequem werden könnte. Artikel 99 der Verfassung bestimmte, dass der Etat jährlich durch ein Gesetz festgestellt werden müsse, und da ein Gesetz auch der Zustimmung der Krone bedurfte, so folgerte die junkerliche Logik daraus, dass die Volksvertretung nur solche Abstriche am Budget machen dürfe, die sich die Regierung gefallen lasse.

Diese ganze Junkerwirtschaft hätte sich niemals so auswachsen können, wenn die Bourgeoisie nur ein wenig auf dem Posten gewesen wäre. Aber ihre halbwegs entschiedenen Elemente, wie sie etwa die Linke der Vereinbarerversammlung von 1848 gebildet hatten, beteiligten sich überhaupt nicht am politischen Leben, weil sie die widerrechtlich oktroyierte Dreiklassenwahl nicht anerkennen wollten, und die sogenannten Gothaer taten zwar mit, waren aber viel zu mattherzig und schwachköpfig, als dass sie sich von den Junkern nicht hätten nasführen lassen. Im Übrigen wurde die ganze Bourgeoisie über ihr politisches Elend durch den glänzenden Aufschwung der Geschäfte getröstet, die ihr die fünfziger Jahre gewährten. Allein dadurch wurde sie nun doch wieder ihres „deutschen Berufs" inne, denn die deutsche Zerrissenheit legte der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise unzählige Hemmnisse in den Weg. Die Bourgeoisie begann nach der deutschen Einheit zu schmachten, wobei sie mit rührender Anhänglichkeit ihrer alten Liebe treu blieb, der „preußischen Spitze", die sie gegen die Revolution schützen sollte und ihr deshalb durch die ärgste Junkerwirtschaft nicht verleidet worden war. In den fünfziger Jahren stellte sie eine ganze Reihe von Historikern, die durch die verwegensten Geschichtsklitterungen die „nationale Mission" des preußischen Staates im allgemeinen und des Hohenzollernhauses im besonderen bewiesen, und sie brach in den berufenen „Krönungsochsenjubel" aus, als im Herbst 1858 der Wahnsinn des Königs nicht mehr zu verheimlichen war und sein Bruder die Regentschaft übernahm, um eine „Neue Ära" zu beginnen.

Das Geheimnis dieser Neuen Ära ist heute längst aufgeklärt. Der Prinzregent war der alte beschränkte Reaktionär geblieben, den die siegreichen Barrikadenkämpfer im März 1848 aus Berlin getrieben hatten. Von liberalen und nationalen Bestrebungen wusste er soviel wie der Mann im Monde. Weder aus liberalen noch aus nationalen, sondern nur aus militärischen Gründen war ihm die Schande von Olmütz wider den Strich gegangen; er wollte die preußische Heeresverfassung, deren Verfall sich nicht bestreiten ließ, so weit wiederherstellen, dass der preußische Staat nicht bei jedem Konflikt mit einer europäischen Großmacht die Segel zu streichen brauchte. Sicherlich spielte seine subalterne Kommissnatur auch bei seinen Heeresplänen mit, aber er hatte den 18. März noch in den Gliedern und hütete sich sehr davor, die Bourgeoisie, geschweige denn das Proletariat, herauszufordern. Die Kosten der Heeresreform sollten vielmehr die Junker tragen, und eben um ihnen die feudalen Grundsteuerbefreiungen abzuknöpfen, hatte der Prinzregent die Neue Ära begonnen und ein „liberales" Ministerium berufen. Es bestand aus schwächlichen Gothaern, den Auerswald, Patow, Schwerin und anderen verbürgerlichten Aristokraten, die im Jahre 1848 im Ministerium Camphausen-Hansemann gesessen hatten.

Als getreue Diener ihres Herrn dachten sie gar nicht daran, die Misswirtschaft zu beseitigen, die das Ministerium Manteuffel hinterlassen hatte. Und ebenso wenig dachte die liberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses daran, die aus den Herbstwahlen von 1858 hervorgegangen war. Ihr lag 1848 ebenso in den Knochen wie dem Prinzregenten; wenn der Prinzregent sich hütete, die Bourgeoisie zu reizen, so hütete sich die Bourgeoisie, den Prinzregenten zu reizen. Sie wählte zu ihrer Devise: Nur nicht drängeln!, womit sie sich selbst in den Sumpf drängte, worin sie ersticken sollte.

Hatte das Junkertum verstanden, ein parlamentarisches Regiment zu führen, solange es die Mehrheit im preußischen Abgeordnetenhaus besaß, so verstand sich die liberale Bourgeoisie nicht ebenso darauf, sobald sie das parlamentarische Heft in der Hand hatte. Drei Jahre lang verzichtete die liberale Mehrheit auf jede Initiative zur Herstellung verfassungsmäßiger Zustände, aus reiner Angst, dass der Prinzregent darüber böse werden und sein „liberales" Ministerium entlassen könnte.

Dies Ministerium begnügte sich unter solchen Umständen auch mit dem Genuss seines zwecklosen Daseins und erstarb in derselben Ehrfurcht vor seinem Herrn und Meister wie die Mehrheit des Abgeordnetenhauses vor ihm. Als im November 1859 der hundertste Geburtstag Schillers durch einen öffentlichen Aufzug in den Berliner Straßen gefeiert werden sollte, empörte sich der Korporalsgeist des Prinzregenten über diese einem Zivilisten und nun gar einem desertierten Regimentsmedikus erwiesene Ehre, und der Minister des Innern, der „liberale" Graf Schwerin, verbot den öffentlichen Aufzug unter der famosen Begründung, der „Herr v. Schiller" habe ja zweifellos einige Verdienste, aber so weit über das Maß des „Hergebrachten" hinaus dürfe man ihn nicht feiern. Als ein demokratischer Schriftsteller gegen diesen Abderitenstreich protestieren wollte, verweigerte sowohl die „Nationalzeitung" wie die „Volkszeitung" seiner Erklärung die Aufnahme, und nur der alte Jacob Grimm fand den Mut, in der Sitzung, die die Akademie der Wissenschaften am 10. November abhielt, wenigstens gegen die adlige Verhunzung von Schillers Namen zu protestieren.

Mit solchen und ähnlichen Heldentaten wurde eine kostbare Zeit vertrödelt, und das ganze Ergebnis der Neuen Ära bestand darin, den Karren der Bourgeoisie gründlich zu verfahren. Die Heeresreform war die Stelle, wo der Prinzregent sterblich war und deutlich verriet, dass er sich sterblich fühlte. Er hätte nie gewagt, sie wider den Willen des Abgeordnetenhauses durchzuführen, und um sie zu erlangen, konnte er zu weitgehenden Zugeständnissen getrieben werden. Dabei hätte sich die Mehrheit des Abgeordnetenhauses nichts zu vergeben brauchen, wenn sie sich auf den Handel eingelassen hätte. Sie bestand aus Gothaern, und die Gothaer hatten die Politik mitgemacht, die bei Olmütz an dem Mangel eines kriegstüchtigen Heeres gescheitert war. Zudem hatte die Mobilmachung, die im Jahre 1859 durch den französisch-österreichischen Krieg veranlasst wurde, die Schäden des preußischen Heeres von neuem aufgedeckt. Gewiss, es mochte ein eigener Geschmack sein, sich in die „preußische Spitze" zu verlieben, aber wenn man einmal diesen Geschmack besaß, so musste man diese heilbringende Spitze auch spitz und nicht stumpf machen.

Wenn man sich einmal auf diesen Standpunkt stellte, so war gegen die Heeresreform, die der Prinzregent plante, wenig einzuwenden. Sie machte mit dem Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht, der in argen Verfall geraten war, einigermaßen Ernst, wälzte das Schwergewicht der Militärlast von den Schultern von Familienvätern auf junge Burschen, und die Mehrkosten von gegen 10 Millionen Talern, die sie jährlich verursachte, sollten aus den Taschen der Junker aufgebracht werden. Der einzige wesentliche Einwand, der sich gegen sie erheben ließ, war die Länge der Dienstzeit unter der Fahne, aber ihre Verkürzung von drei Jahren auf zwei wäre – nebst manchem anderen – zu haben gewesen, wenn die liberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses einer halbwegs konsequenten Politik fähig gewesen wäre.

Gewiss hatte sie auch Gründe genug zum Misstrauen. Die Heeresreform stärkte unzweifelhaft nach innen die Stellung der Krone und des Junkertums, während die Bourgeoisie nicht die geringste Sicherheit hatte, dass sie benutzt werden würde, die „preußische Spitze" nach außen zu kehren. In der Krise des Jahres 1859 hatte der Prinzregent eine geradezu klägliche Politik getrieben, freilich in holder Übereinstimmung mit seinem „liberalen" Ministerium. Aber alles das konnte die liberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses nur veranlassen, die Kosten der Heeresreform unter Bedingungen zu bewilligen, die den Interessen der Bourgeoisie entsprachen, nicht aber sie als solche zu verwerfen, wenn sie sich einmal an die „preußische Spitze" klammerte.

Geht man heute die damaligen Kommissionsberichte und Plenarverhandlungen des Abgeordnetenhauses durch, so kann man nur sein Erstaunen nicht unterdrücken über die äußerst dilettantischen Vorschläge, die den Plänen der Regierung entgegengesetzt wurden. Man schrieb der bisherigen Landwehrverfassung Vorzüge zu, die sie nie gehabt hatte. Dass mit ihr kein auswärtiger Krieg geführt werden konnte, hatte sich 1850 und 1859 klar genug gezeigt. Aber nicht minder klar hatte sich 1848 und 1849 gezeigt, dass sie auch keine Schutzwehr gegen Staatsstreiche bot. Die gelegentlichen Widersetzlichkeiten der Landwehr in den Revolutionsjahren spielten auf beiden Seiten eine Rolle, aber mit einem sehr bezeichnenden Unterschied. Während die Wortführer der Regierung mit einer sozusagen brutalen Offenheit erklärten, dass die Haltung eines preußischen Heeres auf dem Schlachtfeld nicht von der politischen Einsicht der Landwehrmänner, nicht von ihrem mehr oder minder zutreffenden Urteil über die politische Tragweite des einzelnen gegebenen Falles abhängig werden dürfe, heuchelten die Liberalen – dieselben Leute, die tatsächlich die Landwehrverfassung beibehalten wollten, weil sie in ihr mit Recht oder Unrecht einen Schutz gegen Staatsstreiche erblickten –, es sei das „ehrendste Zeugnis" für die Landwehr, dass sie auch in den Tagen der Revolution im großen und ganzen „Beweise ihrer Treue, ihres Gehorsams und ihrer Disziplin" gegeben habe, obgleich alle möglichen Versuchungen an sie herangetreten seien, sie ihren militärischen Pflichten abwendig zu machen!

Diese Mischung von Heuchelei und Torheit erreichte dann ihren Gipfel, als der „liberale" Finanzminister v. Patow dem Abgeordnetenhaus vorschlug, die Mittel für die Heeresreform im Betrag von 9 Millionen Talern zunächst auf ein Jahr zu bewilligen; man gewinne dadurch Zeit, sich endgültig zu einigen; könne sich das Abgeordnetenhaus nach wie vor nicht mit der Heeresreform befreunden, so werde sie dann rückgängig gemacht werden. In diese plumpe Falle tappte das Abgeordnetenhaus fast einstimmig. Der Prinzregent gewann dadurch die Mittel, die von ihm geplante Heeresreform durchzuführen. Es wurden 117 neue Bataillone der Infanterie errichtet, dazu wurden die Kavallerie und Artillerie entsprechend vermehrt. Im Oktober 1860 erhielten die neuen Truppenteile ihre Fahnen oder Standarten, und im Januar 1861 wurden diese Feldzeichen feierlich eingeweiht, während sich die Bourgeoisie in der holden Hoffnung wiegte, durch ein einfaches Nein diese bewaffnete Macht wieder von der Bildfläche zu fegen, wenn die Regierung sich nicht zur Erhaltung der Landwehrverfassung und Einführung der zweijährigen Dienstzeit bequeme.

Im Januar 1861 starb Friedrich Wilhelm IV., und der Prinzregent gelangte auf den Thron. In einer schäbigen Amnestie, voller tückischer Fallen und Hinterhalte, und seiner Krönung in Königsberg, wo er die Krone von Gottes Gnaden vom Tische des Herrn nahm, offenbarte er vor aller Welt, dass er seit 1848 nichts gelernt und nichts vergessen hatte. Mochte nun aber in liberaler Beziehung nichts mehr von ihm zu hoffen sein, so suchte ihm das Abgeordnetenhaus in seiner Session von 1862 auf den nationalen Zahn zu fühlen. In seiner Antwortadresse auf die Thronrede wollte es erklären, dass Preußen kein Interesse habe, sich der Einigung Italiens zu widersetzen, und ferner, dass eine Gesamtreform der Bundesverfassung unter Erlangung der dem preußischen Staat gebührenden Stellung „an der Spitze des deutschen Bundesstaats" ein nationales Bedürfnis sei. Das hieß fragen, ob das neue Heer für die „preußische Spitze" im Interesse der Bourgeoisie eingesetzt werden solle. Der „liberale" Minister v. Schleinitz beeilte sich jedoch zu erklären, diese Anträge gingen weit über den Standpunkt der Regierung hinaus. Dadurch wurde die Abneigung des Abgeordnetenhauses gegen die Heeresreform begreiflicherweise gesteigert, aber seine Courage reichte nur so weit, die 8 Millionen, die diesmal von der Regierung gefordert wurden, um ein weniges zu kürzen und den Rest nur im Extraordinarium zu bewilligen. Der König quittierte über diese harmlose Demonstration in der Thronrede, durch die er den Landtag schloss, mit der trockenen Bemerkung, er könne über die Form der Bewilligung hinweggehen, da „das Lebensprinzip der großen Maßregel" dadurch nicht berührt werde.

Damit schloss die dreijährige Legislaturperiode des Landtags. Für die Neuwahlen spaltete sich nun von der Mehrheit eine Fraktion ab, die nachgerade einsah, dass es der liberalen Blamagen genug sei. Sie bestand zunächst nur aus einem Dutzend namentlich ostpreußischer Abgeordneter, die nach der Ablehnung der „preußischen Spitze" durch Schleinitz der liberalen Mehrheit den Scheidebrief sandten. Anfangs als „Jung-Litauer" verspottet, wuchs sie sich durch Verbindung mit alten „Demokraten" von 1848 zur „Deutschen Fortschrittspartei" aus. Diese „Demokraten", die sich wegen der widerrechtlich oktroyierten Dreiklassenwahl in den fünfziger Jahren vom politischen Leben ferngehalten hatten, waren nicht ohne Mitschuld an den Sünden der Neuen Ära; selbst der als starrer Doktrinär verrufene Johann Jacoby hatte dem seligen Vertrauen auf „die wahrhaft männliche, verfassungstreue" Politik des Prinzregenten nicht nur die Republik, sondern für absehbare Zeit auch das allgemeine Stimmrecht geopfert. Im Allgemeinen hatten die „Demokraten" sich bisher selbst für unwählbar erklärt, um durch Männer von ihrer „revolutionären Vergangenheit" dem „liberalen" Ministerium keine Schwierigkeiten zu bereiten. Nunmehr aber glaubten sie, ihre staatsmännischen Bedenken opfern und das Vaterland dadurch retten zu sollen, dass sie ihre demokratischen Prinzipien opferten.

Die Fortschrittspartei begann damit, das Landesrecht zu verraten, wie es in den Aprilgesetzen von 1848 niedergelegt worden war, und alle Staatsstreiche der Gegenrevolution zu besiegeln, indem sie die preußische Verfassung, zusammengehudelt und -gesudelt und tausendmal zerfetzt, wie sie war, einschließlich der Dreiklassenwahl, für das „unlösliche Band" erklärte, das „Fürst und Volk" zusammenhalte. Sie schwor „unerschütterliche Treue" dem König und machte die Einigung Deutschlands von „einer starken Zentralgewalt in den Händen Preußens" abhängig. In ihren liberalen Forderungen ging sie nicht über die Gothaer hinaus und verriet wie das allgemeine Wahlrecht, so auch den Namen der Demokratie; ihre Absicht lief darauf hinaus, die „Demokraten" und „Konstitutionellen" zu einem allgemeinen Mischmasch zu verschmelzen, der etwas stärker auf das „liberale" Ministerium drücken solle, als die Gothaer auf eigene Faust getan hatten. Es ist wahr, dass einzelne „Demokraten", wie Waldeck und Ziegler, nur zögernd in diesen Pott stiegen, aber schließlich überwanden sie ihre bange Ahnung, dass die Sache schiefgehen werde.

Bei den Wahlen im Dezember 1861 errang die Fortschrittspartei zwar noch nicht die Mehrheit des Abgeordnetenhauses, aber doch einen großen Erfolg. Sie begann nun ihr stärkeres „Drängeln" mit dem Antrag auf eine größere Spezialisierung des Budgets. Darin sah das „liberale" Ministerium ein Misstrauensvotum und löste im März 1862 das Haus auf, trollte sich dann aber wenige Tage darauf selbst, da es sich endlich über seines Nichts durchbohrendes Gefühl klargeworden war. Die Neue Ära starb so elend, wie sie gelebt hatte. Nun berief der König ein Ministerium, das überwiegend aus bürokratischen und reaktionären Nullen bestand, übrigens aber auch nicht viel Verstand dazu gebrauchte, die Wahlmaschinerie spielen zu lassen, die die Neue Ära sorgsam aus den Tagen der Landratskammern erhalten hatte. Einstweilen versagte die Maschine jedoch, und in dem neuen Abgeordnetenhaus hatte die Fortschrittspartei eine weit überwiegende Mehrheit.

Sie stand nun auf dem Rhodus, worauf sie tanzen sollte. Wenn zu diesem Tanze nicht ganz leicht aufzuspielen war, so hatte sie sich bei ihrer eigenen Halbheit zu bedanken. Wollte sie nach ihrem Programm den preußischen Staat als „starke Zentralgewalt" an die Spitze Deutschlands setzen, so konnte sie vernünftigerweise nicht damit beginnen, einen großen Teil des preußischen Heeres zu entwaffnen, indem sie die Mittel für die Heeresreform endgültig verweigerte. Wollte sie diese Mittel aber endgültig bewilligen, so war ein großer Aufwand schmählich vertan, denn das hätte die frühere liberale Mehrheit, deren Sünden gutzumachen mit großem Eklat als ihre Aufgabe verkündet worden war, am letzten Ende auch fertiggebracht. Dabei tat ihr die Regierung nicht einmal den Gefallen, sie an die Wand zu drücken. Es gehört zu den eingewurzelten Fabeln über die preußische Konfliktszeit, dass die Regierung durch brutales Auftreten den inneren Konflikt heraufbeschworen oder doch verschärft haben soll. Das ist im späteren Verlauf der Dinge, unter besonderen Umständen geschehen, nicht jedoch von Anfang an. Ganz im Gegenteil erbot sich die Regierung im Sommer 1862 zu Einräumungen, die sie in militärischen Fragen niemals wieder dem Land- oder später dem Reichstag gemacht hat.

Zunächst erklärte sie sich bereit, die Forderung zu erfüllen, wegen deren das „liberale" Ministerium das vorige Abgeordnetenhaus aufgelöst hatte, und den Etat zu spezialisieren. Ferner verpflichtete sie sich, den Etat fortan rechtzeitig einzubringen, so dass er immer schon vor Beginn des Jahres beschlossen sein musste, für das er gelten sollte. Weiter versprach sie, die Steuerlast zu mindern und die Kosten der Heeresreform aufs äußerste einzuschränken. In der Tat brachte sie diese Kosten von 9 auf 6 Millionen Taler herab und verzichtete auf die Zuschläge von 25 Prozent zu der Einkommen- und Klassen-, wie der Mahl- und Schlachtsteuer, die seit 1859 mit der Zustimmung des Landtags beschlossen worden waren und jährlich über 3 Millionen Taler einbrachten. Endlich erkannte das Ministerium ausdrücklich an, dass alle Staatsausgaben der Zustimmung des Landtags bedürften. Nur meinte sie, wenn das Abgeordnetenhaus die Mittel für die unbedingt notwendige Heeresreform streiche, so könne sie dem nicht zustimmen, und insoweit griff sie auf die Zwickmühle zurück, die die Landratskammer in der Verfassung angebracht hatte. Sie erklärte, da der Etat durch ein Gesetz festgestellt werden müsse und zu einem Gesetz auch die Zustimmung der Regierung und des Herrenhauses gehöre, die der Streichung der für die Heeresreform notwendigen Mittel nicht zustimmen könnten, so mache das Abgeordnetenhaus, wenn es auf dieser Streichung beharre, das Zustandekommen eines Etatsgesetzes unmöglich. Deshalb könne der Staat aber nicht untergehen, und er müsse dann unter den einmal gegebenen Verhältnissen fortbestehen, also unter Aufrechterhaltung der Heeresreform, deren Mittel für die beiden Vorjahre vom Abgeordnetenhaus bewilligt und für das laufende Jahr von der Regierung in gutem Glauben schon großenteils verbraucht worden seien.

In der Theorie war damit nun freilich das Budgetrecht des Abgeordnetenhauses einfach ausgeschaltet, worüber alles „tatsächliche Entgegenkommen" der Regierung nicht hinwegtäuschen konnte. Wenn das Abgeordnetenhaus nur je mit der Zustimmung der Regierung und des Herrenhauses Ausgaben bewilligen oder nicht bewilligen konnte, so war sein Budgetrecht nicht mehr als ein Schattenspiel an der Wand. Aber die Gelegenheit war so ungünstig wie nur irgend denkbar, um eine Machtprobe auf diese Theorie zu machen, und die Fortschrittspartei hatte ein begreifliches Grauen davor, Beschlüsse zu fassen, von denen sie, wie einer ihrer angesehensten Führer sagte, gar nicht einmal wünschen konnte, dass sie ausgeführt würden. Sie war auch bereit, ihre geliebte Landwehrverfassung preiszugeben und sich mit der zweijährigen Dienstzeit zu begnügen. Einen Augenblick schien der Kriegsminister nicht abgeneigt, darauf einzugehen, aber der König war für das Zugeständnis nicht zu haben. Die Ängste des 18. März waren wieder in ihm erwacht; er sah in den Fortschrittlern eine neue Schar von Barrikadenkämpfern; da sich unter den fortschrittlichen Abgeordneten ein Flüchtling von 1848 befand, gerade nur einer, der harmlose Löwe-Calbe, so schüttete er einer Deputation von Pastoren sein bekümmertes Herz aus: „Man schickt Menschen nach Berlin, welche als politische Verbrecher verurteilt sind und welche nur durch die Amnestie die Erlaubnis erhalten haben, zurückzukommen." Er gedachte des alten Sprüchleins, dass gegen Demokraten nur Soldaten helfen, und wollte am wenigsten auf das dritte Dienstjahr verzichten, das zwar militärisch überflüssig, aber geeignet war, den „soldatischen Geist" zu züchten, der, wenn der „Kriegsherr" befiehlt, auch auf Vater und Mutter schießt. Diese Hartnäckigkeit des Königs entschied den Streit; am 23. September 1862 strich das Abgeordnetenbaus die Mittel für die Heeresreform, und der König berief den Pariser Botschafter v. Bismarck, der an die Spitze des Ministeriums trat, mit der Aufgabe, die Heeresreform durchzuführen, auch gegen den Willen des Abgeordnetenhauses.

Was für den König der Zweck war, das war für Bismarck aber nur das Mittel. Als hartgesottener Junker hatte er sich in den Tagen der Gegenrevolution so hervorgetan, dass Manteuffel ihn zum Gesandten am wiedererweckten Bundestag ernannt hatte. In dieser Stellung und später als Botschafter in Petersburg und Paris hatte Bismarck die reichlichste Gelegenheit gehabt, höchst demütigende Erfahrungen über die klägliche Stellung Preußens in der europäischen Politik zu machen. Er trennte sich allmählich von den Kraut- und Zaunjunkern, in deren Gedankenkreis er bisher gelebt hatte, insoweit, als er die altpreußischen Eroberungstendenzen wieder aufnahm, die aus Deutschland ein „verlängertes Preußen" zu machen gedachten. Es war altfriderizianische Politik, die er treiben wollte, in all ihrer Gescheitheit, aber auch in all ihrer Beschränktheit, so wie ihn Friedrich Engels einmal treffend gekennzeichnet hat8: ein Mann von großem praktischem Verstand und großer Schlauheit, ein geborener und geriebener Geschäftsmann, der unter anderen Umständen auf der New-Yorker Börse den Vanderbilts und Jay Goulds den Rang streitig gemacht hätte, aber neben diesem entwickelten Verstand auf dem Gebiete des praktischen Lebens ein Mann von einer entsprechenden Beschränktheit des historischen und politischen Gesichtskreises. Darin stand er selbst noch weit hinter dem falschen Bonaparte in Paris zurück, den er sich sonst vielfach zum Muster genommen hatte.

So war ihm der Gedanke der deutschen Einheit als eines Zieles, das im nationalen Interesse zu verfolgen sei, auch völlig fremd. Mit welchen Absichten er seine preußische Ministerschaft antrat, schildert sein Historiker Sybel also: „Fest stand ihm die Tatsache, dass die jetzige Stellung Preußens im Deutschen Bund unerträglich sei, dass sie, wie er einst dem Minister Schleinitz geschrieben hatte, durch Eisen und Feuer geheilt werden müsse. Und nicht minder gewiss war die weitere Tatsache, dass für die Entscheidung der Frage alles auf die realen Mächte in Deutschland, auf das Verhältnis zwischen Österreich und Preußen ankam. Eine friedliche Umgestaltung desselben hielt Bismarck für äußerst unwahrscheinlich; jeder andere Krieg, sagte er wohl, den Preußen vor diesem österreichischen Kriege führte, wäre die reine Munitionsvergeudung. Er war bereit, in den Kampf einzutreten, verkannte aber die Gefahren desselben nicht und hätte, wenn sich ein Einvernehmen möglich zeigte, ein solches Friedenswerk gern begrüßt. In voller Klarheit lagen die verschiedenen, in Krieg oder Frieden denkbaren Systeme vor seinem unvergleichlich scharfen und weiten Blick; gemeinsame Beherrschung Deutschlands durch die beiden Großmächte oder Teilung Deutschlands unter dieselben nach der Mainlinie oder gänzlicher Ausschluss Österreichs aus Deutschland und in diesem letzten Falle wieder mehr die föderative oder mehr die unitarische Gestaltung des neuen Bundes, die engere oder weitere Kompetenz der von Preußen zu leitenden Reichsgewalt und der nationalen Volksvertretung. Ohne eine doktrinäre Vorliebe für irgendeines dieser Systeme, wog er ihre Aussichten und Vorteile sowie ihre Kosten und Gefahren und vor allem ihre Erreichbarkeit trotz der Eifersucht der fremden Großmächte ab, stets bereit, je nach der Lage der Dinge das Verfahren oder auch das Ziel zu wechseln; nur unter dem unverbrüchlichen Gesetz, dass Preußen immer vorwärtsschreite, niemals zurückweiche, niemals den gewonnenen Boden und niemals den eigenen Stab verliert." Sieht man von der verhimmelnden Form ab, so ist diese Schilderung durchaus zutreffend, und von Bismarck selbst, der sich in seinen Denkwürdigkeiten häufig auf Sybels Werk beruft, niemals bestritten worden. Es wäre auch vergebliche Mühe gewesen, denn noch im Mai 1866, nach Abschluss des Bündnisses mit Italien, hat Bismarck ernsthaft den Plan der Mainlinie erwogen, eine Teilung der Herrschaft über Deutschland zwischen Österreich und Preußen, einen Plan, worin jeder deutsche Patriot mit Recht den schmählichsten Verrat an der deutschen Einheit erblickte.

Nun aber lag die Sache so, dass Bismarck, als er ins Ministerium gelangte, vom König- und Junkertum zwar die Vollmacht hatte, ein verfassungswidriges Regiment zu führen, aber keineswegs die friderizianischen Überlieferungen wieder aufzunehmen und eine preußische Eroberungspolitik zu treiben. Gerade ein Jahr vorher hatten die preußischen Junker, und an ihrer Spitze Bismarcks Busenfreunde Kleist-Retzow, Blanckenburg, Wagener – als Gegengewicht gegen den liberalen Nationalverein, der nach dem italienischen Vorbild für die deutsche Einheit unter „preußischer Spitze" agitierte einen preußischen Volksverein begründet, der im ersten Satze seines Programms zwar „die Einigkeit unseres deutschen Vaterlandes" hatte, aber nur „in der Einigung seiner Fürsten und Völker und in Festhaltung an Obrigkeit und Recht", nicht jedoch „auf den Wegen des ,Königreichs Italien' durch Blut und Brand", nicht durch „Kronenraub und Nationalitätenschwindel". Da Bismarck gar sehr die Möglichkeit erwog, durch „Blut und Brand", durch „Kronenraub und Nationalitätenschwindel" an sein Ziel zu gelangen, so fiel ihm dies Programm schwer auf die Nerven, aber er durfte nicht wagen, ihm zu widersprechen, und musste sich begnügen, seinem gepressten Herzen in einem Briefe an einen vertrauten Freund Luft zu machen. Er sagte darin, die konservative Partei dürfe sich doch nicht zum Don Quichotte für den ganz unhistorischen, gott- und rechtlosen Souveränitätenschwindel der von Napoleon geschaffenen und von Metternich sanktionierten Kleinstaaten machen. Sie habe auch gar keinen Anlass, vor der Idee einer Volksvertretung im Deutschen Bund zimperlich zurückzuschrecken. Mit sehr mäßigen Zugeständnissen sei da viel zu erreichen; man könne eine recht konservative Nationalvertretung schaffen und doch selbst bei den Liberalen Dank dafür ernten.

Aus dieser Anschauung Bismarcks erklärt es sich, dass er als leitender Minister sich mit der Fortschrittspartei zu einigen suchte. In der für ihn entscheidenden Frage der „preußischen Spitze" hatte er mit ihr viel engere Berührungspunkte als mit dem König- und dem Junkertum. Soweit er irgend konnte, deckte er seine Karten auf, indem er in der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses erklärte, man möge den Konflikt nicht zu tragisch auffassen; die Regierung suche keinen Kampf und böte gern die Hand dazu, die Krisis in Ehren beizulegen. Aber Preußen müsse seine Kraft zusammenhalten für den günstigen Augenblick, der schon einige Male verpasst sei; Preußens Grenzen seien für einen gesunden Staatskörper nicht günstig. Man möge nicht in den Fehler von 1848 und 1849 verfallen und die großen Fragen der Zeit, die nur durch Blut und Eisen entschieden würden, durch Majoritätsbeschlüsse und parlamentarische Reden entscheiden wollen. Es kennzeichnete die Lage, dass der stramm konservative Kriegsminister v. Roon, wie Bismarck in seinen Denkwürdigkeiten erzählt, sofort lebhaften Protest gegen diese „geistreichen Exkurse" erhob und dass Bismarck sich beeilte, dem von einer Reise heimkehrenden König bis Jüterbog entgegenzufahren, um ihn abzufangen, ehe ihm in Berlin der Kopf wegen der Offenherzigkeiten seines Ministers verkeilt wurde.

Die Fortschrittspartei ihrerseits lehnte es ab, auf die Sirenengesänge Bismarcks zu hören. Daraus lässt sich auch kein Vorwurf gegen sie schmieden, wie es von reaktionärer Seite oft geschehen ist. Sie hatte wohl eine allgemeine Ahnung, dass Bismarck wieder eine aktive auswärtige Politik treiben wolle, aber sie wusste auch, dass diese Absicht zunächst nur seine persönliche Sache sei. Wenn aber seine Persönlichkeit – ein Heißsporn der Junkerpartei, der seinerzeit die Schande von Olmütz gefeiert hatte wie kaum ein anderer – ihr kein Vertrauen einflößte, so war auch das vollkommen in der Ordnung. Nicht dass sie den Kampf mit ihm aufnahm, war ihr Verbrechen und mehr noch ihr Fehler, sondern wie sie den Kampf mit ihm führte. Wollte sie in der Tat, wie sie behauptete, in „tief sittlichem Ernste" das „Recht des Landes" verteidigen, so musste sie über die unzähligen Rechts- und Verfassungsbrüche der Gegenrevolution zurückgehen auf die Aprilgesetze von 1848 und in allererster Reihe das allgemeine Wahlrecht als das Recht des Landes fordern. Aber gerade davor hatten diese biederen Rechtsmänner den tiefsten Abscheu; sie erklärten feierlich, nachdem des „Königs Majestät" die Verfassung und damit die Dreiklassenwahl beschworen habe, würde die Wiederherstellung des allgemeinen Wahlrechts der allergemeingefährlichste Staatsstreich sein. Worum sie kämpften, war die Erhaltung der preußischen Verfassung, die selbst nur das Produkt wiederholter Rechtsbrüche war, und auch von allen Vergewaltigungen dieser Verfassung wollten sie nur die verhältnismäßig entschuldbarste sühnen, die in erster Reihe durch die liberale Bourgeoisie selbst verschuldet war. Hätte sie nicht zweimal die Mittel für die Heeresreform bewilligt, so hätte die Regierung gar nicht die Möglichkeit gehabt, diese Reform aufrechtzuerhalten, auch wenn das Abgeordnetenhaus zur Abwechslung einmal die Mittel verweigerte.

Bekanntlich hat sich damals Lassalle bemüht, der Fortschrittspartei die ganze Hoffnungs- und Sinnlosigkeit dieser Opposition klarzumachen. Er forderte nichts Übermenschliches von ihr, sondern nur, was dem eigensten Wesen entsprach und selbst in vormärzlicher Zeit, in den Tagen des Vereinigten Landtags, von ihr ganz gut exekutiert worden war: nämlich alle parlamentarischen Verhandlungen mit der Regierung abzubrechen, dadurch den Scheinkonstitutionalismus zu vernichten, den unverhüllten Absolutismus seinem unvermeidlichen Bankrott zu überliefern, danach aber mit ihm zu verhandeln, „den Daumen aufs Auge und das Knie auf die Brust". Davon wollte jedoch die Fortschrittspartei nichts hören, denn das hätte geheißen, alle Rechts- und Verfassungsbrüche aufrollen, namentlich auch die, die an der Arbeiterklasse begangen worden und der liberalen Bourgeoisie mindestens ebenso ans Herz gewachsen waren wie der Regierung. So entschloss sich die Fortschrittspartei, mit dem Ministerium Bismarck ruhig weiter zu verhandeln, als ob gar nichts geschehen wäre, und ihm auch alljährlich das Budget zu bewilligen, bis auf das halbe Dutzend Millionen Taler, die zur Aufrechterhaltung der Heeresreform gebraucht wurden, gegen die widerrechtliche Ausgabe dieser Summe aber sich auf Proteste zu beschränken. Waldeck, der angesehnste Führer der Fortschrittspartei, führte aus, wer ein Mandat vom Volke habe, dürfe nicht auf den Erfolg sehen, wenn er sich in seinem guten Rechte wisse, und müsse „das übrige der Vorsehung überlassen"; wenn das Abgeordnetenhaus mit richtigem Gewissen seine Schuldigkeit tue, brauche es um die Zukunft nicht zu sorgen und könne in „majestätischer Ruhe" verharren, während das Ministerium, auf einer schiefen, „vollständig abschüssigen Ebene" herabgleitend, sehen möge, wo es bleibe.

Mit der „majestätischen Ruhe" stimmte es nur insofern nicht, als die liberalen Kammergrößen von vornherein einen Ton gegen Bismarck anschlugen, der sich nicht zu seinem Vorteil von der ganz höflichen, ruhigen und sicheren Sprache des Ministers unterschied. Es war nicht der derbe Ton einer inneren Empörung, sondern ein hysterisches Gekreisch, worin sich namentlich die Bankrotteure der Neuen Ära hervortaten. Simson, der Meister feierlich gespreizter Gemeinplätze, verglich Bismarck mit einem Don Quichotte und Seiltänzer, und noch ärger trieb es der Graf Schwerin, das angebliche Urbild deutscher Ehrlichkeit. Bismarcks Vorschlag, sich gütlich zu einigen, da sich sonst die Rechtsfragen zu Machtfragen auswüchsen, verdrehte Schwerin dahin, Bismarck habe gefordert, dass Macht vor Recht gehen solle, und erklärte, dass „die Größe unserer Dynastie, die Größe unseres Landes", die Verehrung, die das preußische Regentenhaus im Inland und im Ausland genieße und immer genießen werde, auf dem umgekehrten Satze beruhe: Recht geht vor Macht. Wenn sich darüber der alte Fritz im Grabe umgedreht haben wird, so spendete das Haus donnernden Beifall, dasselbe Haus, das auf dem brutalen Gewaltstreich der Dreiklassenwahl beruhte und in diesem infamen Rechtsbruch sogar das herrlichste Kleinod preußischen Rechtes sah.

Studiert man heute die stenographischen Berichte über die damaligen Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses, so ist man geneigt, das Verdienst zu unterschätzen, das sich Lassalle erwarb, indem er die deutsche Arbeiterklasse aus der Gefolgschaft dieser Bourgeoisie erlöste. Auch ein minder genialer Kopf musste erkennen, dass ein Feldzug, der so abgeschmackt begann, nur mit einer elenden Niederlage enden konnte.9

1 Der Sieg des deutschen Heeres bei Sedan am 1. September 1870 führte am 2. September zur Gefangennahme der eingeschlossenen französischen Armee und Napoleons III. und war entscheidend für den Ausgang des Deutsch-Französischen Krieges 1870/1871.

2 Mehring gebraucht das Wort „ideologisch" im Sinne von „idealistisch".

4 Marx an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz von Schaper, 17. November 1842. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Historisch-Kritische Gesamtausgabe (MEGA), Erste Abteilung, Bd. 1, 1. Halbbd., Berlin 1929, S. 281-285.

6 Das Bestreben Preußens, einen Bund aller deutschen Staaten unter Ausschluss Österreichs, die sogenannte Union, zu bilden, führte zur ernsten Krise zwischen Preußen und Österreich, das vom russischen Zarismus unterstützt wurde. In der Olmützer Punktation vom 29. November 1850 fand die preußische Unionspolitik – der erste Versuch, die nationale Einigung von oben durchzusetzen – ihr Ende. Auf Verlangen des russischen Zarismus und Österreichs musste Preußen nicht nur die schon erklärte Mobilmachung (gegen Kurhessen – der Kurfürst appellierte an den Schutz Österreichs) zurücknehmen, sondern auch auf die Durchsetzung seiner Hegemoniebestrebungen in Deutschland verzichten. Alle entscheidenden Bestimmungen der Verhandlungen fielen zuungunsten Preußens aus.

7 Gemeint ist der Kampf von Marx und Engels in der „Neuen Rheinischen Zeitung" gegen das vom Vereinigten Landtag genehmigte Wahlgesetz für die Konstituierende Nationalversammlung, die „Vereinbarerversammlung", und die Bewilligung der von der Regierung gewünschten Kredite vom 2. bis 10. April 1848.

9 Der Schluss dieses Artikels vom 31. Juli wurde nicht mehr geschrieben; einen Tag später begann mit der deutschen Mobilmachung der erste Weltkrieg.

Kommentare