Franz Mehring 18960108 Die Gründung des Deutschen Reichs

Franz Mehring: Die Gründung des Deutschen Reichs

Januar 1896

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Erster Band, S. 481-484. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 243-247]

Die prunkenden Feste, mit denen sich die herrschenden Klassen des Deutschen Reichs seit dem vorigen Sommer unterhalten, werden am 18. Januar ihren Gipfelpunkt finden. An diesem Tage wird das neue Deutsche Reich fünfundzwanzig Jahre alt. Am 18. Januar 1871 erließ der König von Preußen, Wilhelm I., eine Proklamation an das deutsche Volk, worin er verkündete, dass er und seine Nachfolger an der Krone Preußen, nachdem die deutschen Fürsten und freien Städte den einmütigen Ruf an ihn gerichtet hätten, mit Herstellung des Deutschen Reichs die seit mehr denn sechzig Jahren ruhende deutsche Kaiserwürde zu erneuern und zu übernehmen, den kaiserlichen Titel in allen Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reichs führen würden. Er hoffte zu Gott, dass es der deutschen Nation gegeben sein werde, unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland einer segensreichen Zukunft entgegen zu führen, dass es ihm und seinen Nachfolgern verliehen sein werde, allzeit Mehrer des Deutschen Reichs zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.

Es hat Gott nicht gefallen, diese Hoffnung zu erfüllen. Mehrer des Reichs wurde der neue Kaiser nur durch kriegerische Eroberungen, durch die Annexion von Elsass-Lothringen, die in erster Reihe dazu beigetragen hat, den latenten Kriegszustand in Europa zu verewigen, die Güter und Gaben des Friedens zu verkümmern, die nationale Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung zu unterdrücken. Unter der eisernen Last der Waffen versagt sich das Deutsche Reich mehr und mehr die bescheidensten Kulturaufgaben. Diese Tatsache wird die herrschenden Klassen nicht hindern, den fünfundzwanzigjährigen Gedenktag in rauschendem Fest- und Wortschwalle zu feiern. Die ganze abgetriebene Herde der patriotischen Schlagworte wird abermals aufgestört werden, um blökend über die Bühne zu traben. Die „Heroen des großen Jahres" werden als riesige Schattenbilder an der Wand erscheinen und den „Dank des Vaterlandes" empfangen für Gedanken, die sie nie gehegt, für Taten, die sie nie getan haben. Und vielleicht spenden die begeisterten Festredner auch das Brosamlein eines kargen Dankworts den namenlosen Toten, die zu Zehntausenden auf den französischen Schlachtfeldern schlummern, den armen Invaliden, die noch heute im dankbaren Vaterlande frieren und hungern, nachdem sie und sie allein durch ihrer Arme Kraft vor fünfundzwanzig Jahren das Deutsche Reich zurecht gehämmert haben.

Sie und sie allein, denn von all den gefeierten „Gründern des Deutschen Reichs" hat keiner das Deutsche Reich gewollt, keiner, es sei denn der damalige Kronprinz und spätere Kaiser Friedrich, und der wollte es nicht als modernen Staat, sondern als mittelalterlich-romantische Dynastie. Als sein Vater einmal dem Kaiser von Russland, weil er Kaiser sei, den Vortritt ließ, rief der Kronprinz heftig: „Das soll kein Hohenzoller sagen, und das darf für keinen Hohenzollern gelten", und sein Vertrauter Gustav Freytag schreibt über ihn: „Aus dem fürstlichen Stolze erwuchs in der Seele des deutschen Kronprinzen die Idee des deutschen Kaisertums, sie wurde ein heißer Wunsch. Der Kronprinz aber bewahrte die Auffassung, dass die neue Kaiserwürde nur dann die rechte Weihe erhalte, wenn sie als Fortsetzung jener alten römisch-kaiserlichen Majestät betrachtet werde, und er war es, welcher bei der Eröffnung des ersten deutschen Reichstags 1871, zum Erstaunen der Abgeordneten, den uralten Stuhl der Sachsenkaiser in die moderne Eröffnungsfeier hineinschob … Bei späterer Begegnung hatte er die Huld zu bemerken: Ich denke nicht mehr so. Dennoch kam er von derselben Auffassung nicht los. Wenigstens war in schmerzvoller Zeit noch einmal von einer römischen IV die Rede, welche hinter der ersten Unterschrift des neuen Kaisers gestanden haben soll und die der Erinnerung an Kaiser Friedrich III., den Vater Maximilians I., ihren Ursprung verdankt." Aber selbst mit dieser höchst feudalen Auffassung von Kaiser und Reich fand der Kronprinz keine Gegenliebe bei seinem Vater und auch nicht bei Bismarck, wie in seinem Tagebuche des näheren nachgelesen werden kann.

Es war eine eherne ökonomische Notwendigkeit, die das Deutsche Reich schuf, und diese Notwendigkeit trat um so schärfer hervor, je widerwilliger die Werkzeuge waren, deren sie sich bediente. Sie zwang die „großen Helden" unter ihre starke Faust, und vor ihrem nüchternen Muss zerstob alle romantische Herrlichkeit. Dem romantischen König von Bayern musste die Unterschrift des „hochherzigen" Briefes, worin er dem preußischen König die Kaiserkrone anbot, mit der Pistole auf der Brust abgezwungen werden, und Delbrück legte die neugebackene Kaiserkrone auf den Tisch des Reichstags nieder wie eine neue Warenprobe, von der er nicht ganz im klaren war, unter welche Rubrik des Zolltarifs sie eigentlich gehöre. Der Kronprinz wütete über dies geschäftsmäßige Gebaren, und selbst Bismarck, zu dessen Fehlern überflüssiges Komödienspiel sonst gerade nicht gehörte, setzte „seinen Leuten" auseinander, wie Delbrück die Sache vom Komödienstandpunkte hätte behandeln müssen. Er meinte: „Es musste eine wirksamere mise en scene stattfinden. Es hätte einer auftreten müssen, um seine Unzufriedenheit mit den bayerischen Verträgen auszusprechen. Es fehlte dies, und es mangelte jenes. Dann musste er sagen: Ja, wenn sich ein Äquivalent für diese Mängel gefunden hätte, etwas, worin die Einheit ausgesprochen wäre, das wäre was anderes, und nun musste man den Kaiser hervorziehen." Wir lassen dahingestellt sein, ob die „welthistorische Szene" durch diese komödiantenhafte Aufstutzung viel gewonnen hätte. So wie sie sich abspielte, brachte sie wenigstens ihren wirklichen Gehalt zum ungeschminkten Ausdruck. Herr Friedenthal, der in seiner Person den großen Grundbesitzer und großen Industriellen vereinte, fragte in trockenem Geschäftstone an, ob das deutsche Volk nicht ein Oberhaupt erhalten werde, und Herr Delbrück verlas mit seiner blechernen, tonlosen Stimme ebenjenes „hochherzige" Schreiben, das dem König von Bayern durch die Pistole auf der Brust abgepresst worden war. Mit allen gegen die sechs sozialdemokratischen Stimmen genehmigte der Norddeutsche Reichstag ein paar Tage darauf die Vorlage der Regierung, welche das Deutsche Reich und den deutschen Kaiser in die Bundesverfassung einführte.

Die klugen Geschäftsleute des Norddeutschen Reichstags täuschten sich natürlich nicht über das, was sie wollten. Das neue Reich sollte das Reich der Bourgeoisie sein, und in der Wechselrede Friedenthal-Delbrück kam seine Bedeutung und sein Zweck treffend zum Ausdruck. Jene Geschäftsleute wussten auch recht gut, dass die feudale Hof- und Militärpartei in Versailles mit schlecht verhehltem Missbehagen auf das neue Gebilde blickte. Aber die Bourgeoisie ist nun einmal in der Übeln Lage, indem sie ihre selbstsüchtigen Zwecke verfolgt, so tun zu müssen, als ob sie sich heldenmütig für das Volk opfere. Um den Massen einigen Sand in die Augen zu streuen, schickte der Norddeutsche Reichstag eine Deputation von dreißig Mann nach Versailles mit einer Adresse, die den König von Preußen himmelhoch anflehte, im Interesse des Vaterlandes die Kaiserkrone anzunehmen. In seinem kauderwelschesten Deutsch begründete Lasker diese Adresse, und die Deputation machte sich durch Eis und Schnee auf den sauren Weg. Die Vertreter des deutschen Volkes standen im Schlosshofe von Versailles etwa wie weiland Kaiser Heinrich IV. im Schlosshofe von Canossa. Hohn und Spott regnete auf sie herab. Höflinge und Krautjunker variierten in allen Tonarten das verächtliche Wort des preußischen Königs: „Ei, da verdanke ich Herrn Lasker ja eine rechte Ehre." Jedoch fand die Deputation auch ein fühlendes Herz in Versailles, und dies Herz schlug in der Brust des Herrn Stieber. Der meineidige Faiseur des Kölner Kommunistenprozesses empfand mit richtigem Instinkt, dass solche Halunken, wie er einer war, im Reiche der Bourgeoisie noch bessere Aussichten auf gute Verköstigung hätten als im absolutistisch-feudalen Staate, und er schwänzelte wohldienerisch um die Deputation des Reichstages. Sie war nicht undankbar, und in einem feierlichen Schreiben empfing Stieber ihren „verbindlichsten Dank" und ihre „vollkommene Ergebenheit". Er sandte den Brief nach Berlin, damit er den spätesten Stiebern noch als ein Ehrenzeugnis ihres Ahnherrn aufbewahrt werde, und schrieb dazu: „Mir hat die Deputation viel Arbeit gemacht, um ihr einen anständigen Empfang zu bereiten. Die Hof- und Militärpartei war ziemlich kühl, ich vertrat hier die Zivilpartei und das deutsche Volk. Wunderbare Zeiten." Ach ja, die „Zeiten" waren „wunderbar", und man kann es schließlich begreifen, dass sie sogar diesem hartgesottenen Sünder einige Krokodilstränen erpressten …

Das Deutsche Reich hat gehalten, was es bei seiner Gründung versprach. Es ist geworden, was es nach den Bedingungen seiner Entstehung werden musste: ein mächtiger Hebel der großindustriellen Entwicklung. Es ist ein goldenes Land der Bourgeoisie, die in ihm ihren geschichtlichen Beruf des revolutionären Auflösens und Zersetzens prächtig erfüllt, die so gewaltig aufgeräumt hat unter den feudal-juchtigen Trümmern, welche vor fünfundzwanzig Jahren noch fußhoch den deutschen Boden bedeckten. Sollen wir diese aufräumende Arbeit nicht anerkennen, nicht loben, nicht preisen? Wir wären Toren, wenn wir es nicht täten. Wir sind darin gerechter als die Bourgeoisie selbst, die vor den Folgen ihrer eigenen Taten erschrickt und sich am liebsten aus mittelalterlichem Schutt eine neue Burg erbaute, worin sie, sicher für alle Ewigkeit, mit ihren ungezählten Schätzen wuchern könnte. Aus Angst vor ihrem stolzen und trotzigen Kinde möchte sie sich zitternd in das Grab ihrer längst selig entschlafenen Mutter wühlen.

Nein, wir feiern die Gründung des Deutschen Reichs aufrichtig und herzlich, viel aufrichtiger und herzlicher als die Bourgeoisie. Wir feiern sie in dem Sinne von Marx, im Sinne seines prophetischen Worts, dass der Deutsch-Französische Krieg den Schwerpunkt der internationalen Arbeiterbewegung nach Deutschland verlegen werde.1 Mag die fünfundzwanzigjährige Geschichte des Deutschen Reichs nur eine glänzende und große Seite haben, den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse um ihre Emanzipation, nun, so ist diese Seite glänzend und groß genug, um einen bewundernden und dankbaren Rückblick zu verdienen, um aus den Kämpfen der Vergangenheit neue Kraft und Zuversicht für die Kämpfe der Zukunft zu schöpfen.

Teilen wir uns also redlich mit den herrschenden Klassen in die Feier des 18. Januar: uns die revolutionäre und ihnen die romantische Feier. Wir gönnen ihnen ihr Teil neidlos, ja wir sind teilnehmend genug zu wünschen, dass ihnen die, um mit Bismarck zu sprechen, mise en scene ihrer patriotischen Geschichtslegenden diesmal besser glücken möge als vor fünfundzwanzig Jahren. Es ist gewiss eine verteufelt schwere Aufgabe, aber umso mehr sollte sie den Ehrgeiz der Edelsten und Besten anspornen.

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