Franz Mehring 18960408 Ein alter Schwindel

Franz Mehring: Ein alter Schwindel

8. April 1896

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Zweiter Band, S. 65-69. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 390-395]

Die Osterferien, in die der Reichstag gegangen ist, werden von der nationalliberalen und konservativen Presse genutzt, ihm allerlei böse Dinge nachzusagen. Er soll in unverantwortlicher Weise seine Zeit vertrödelt, im ganzen Winter nicht mehr als den Etat fertiggebracht, alle organischen Gesetze in die Frühjahrszeit verschleppt haben, wo erfahrungsgemäß doch nichts Ordentliches mehr zustande komme. Daran werden dann melancholische Betrachtungen geknüpft, wie so schnell des Reichstags Herrlichkeit darnieder gegangen sei, wie großartig er in den siebziger Jahren dagestanden habe und wie kläglich er jetzt dastehe, was für „nationale Größen" die damaligen Präsidenten Simson und Forckenbeck gewesen seien und wie obskur sich dagegen die freisinnigen und ultramontanen Männlein darstellten, die jetzt im Präsidium des deutschen Parlaments säßen.

Der Schwindel, der solchermaßen getrieben wird, ist keineswegs neu. Er hat sich unter anderen Formen und Verhältnissen schon oft abgespielt, und zwar jedes Mal, wenn die Volksvertretung sich den wirklichen Bedürfnissen und Wünschen des Volkes näherte. Gleich das erste Parlament, das in Berlin tagte, hat diese Erfahrung gemacht. Bekanntlich hatte der König Friedrich Wilhelm IV. 1847 bei Eröffnung des Vereinigten Landtags sich feierlich verschworen, es solle keiner Macht der Welt gelingen, ein Blatt Papier wie eine zweite Vorsehung zwischen unseren Herrgott und dieses Land zu schieben, und in einem Briefe an Bunsen hatte er gleichzeitig den Inhalt seiner Thronrede in die Worte gekleidet, man müsse ein „siebenfaches Rindvieh" sein, um eine Verfassung zu fordern. Als dann ein Jahr später die Märzrevolution den romantischen König zwang, ein Parlament auf Grundlage des allgemeinen Wahlrechts zur Beratung einer Verfassung einzuberufen, da erlebte man genau das umgekehrte Schauspiel. Alles was es im preußischen Staate an vermuckerten Geistlichen, an verstockten Bürokraten, an verbissenen Junkern gab, brüllte mit der Kraft eines „siebenfachen Rindviehs" nach der Verfassung, nach dem Blatte Papier, das sich wie eine zweite Vorsehung zwischen unseren Herrgott und dies Land drängen solle, und als der König mit brutaler Gewalt das Parlament gesprengt hatte, erließ er eine Proklamation an das Volk, worin er mit Tränen der Wehmut erklärte, er habe leider die Versammlung auflösen müssen, da sie ihren hohen Beruf, dem Volke eine Verfassung zu schenken, ganz vergessen und ihre Zeit mit Nichtigkeiten verschwendet habe, die ihrem wahren Beruf ganz fern gelegen hätten.

Diese Metamorphose des „siebenfachen Rindviehs", so widerspruchsvoll sie aussah, war dennoch sehr logisch und sehr leicht zu erklären. Als die preußische Nationalversammlung im Jahre 1848 zusammentrat, erkannten wenigstens ihre einsichtigeren Köpfe, Bucher, Rodbertus, Waldeck, sehr schnell, dass mit einem Blatte Papier, auf dem die allerschönste Verfassung niedergeschrieben stände, noch immer nichts getan sei, solange der vormärzliche Staat in all seiner bürokratischen und feudalen, militärischen und polizeilichen Tatsächlichkeit fortbestände. Das Niederschreiben einer Verfassung war ein Kinderspiel, und die Verfassungskommission, die unter Waldecks Vorsitz tagte, hatte sehr bald eine vom bürgerlichen Standpunkt aus sehr leidliche Verfassung fertig. Aber gerade Waldeck, der gewiss nicht der Mann war, sein eigenes Kind zu verleugnen oder zu unterschätzen, warf sich am eifrigsten dem Versuch entgegen, diese Verfassung so schnell wie möglich durchzupeitschen und das Land damit zu beglücken. Er wurde nicht müde zu wiederholen: Erst müssen wir den vormärzlichen Staat zerstören, „sonst bauen wir in die Luft, sonst pflügen wir im Sande". Sobald die Reaktion diesen Zusammenhang merkte, erhob sie das mark- und beinerschütternde Geschrei nach der Verfassung. Man lese nur die „Vossische Zeitung" aus dem Sommer 1848, die zwar „liberal" war, aber sich gegen bare Bezahlung für die „Eingesandts" zur Kloake für alle volksfeindlichen Agitationen hergab, und man wird staunen, was für reaktionäres Kroppzeug damals für die Verfassung erglühte. Aus diesem Schwindel ist dann die in alle wohlgesinnten Geschichtswerke übergegangene Legende entstanden, die preußische Nationalversammlung habe sich die Gunst des Volkes verscherzt, weil sie in frevelhaftem Leichtsinn die Herstellung der Verfassung verschleppt habe.

Der wirkliche Fehler der Nationalversammlung, der ihr die Stütze im Volke kostete, war gerade umgekehrt der, dass sie nicht fest und kräftig genug mit der Zerstörung des vormärzlichen Staats vorwärts schritt. Selbst Bucher, Rodbertus, Waldeck, die sich auf der richtigen Fährte befanden, wagten nicht so durchzugreifen, wie es notwendig gewesen wäre, und zudem ließ die Mehrheit der Versammlung sie bei jedem energischen Anlauf im Stich. Ganz besonders wurde es der Nationalversammlung verhängnisvoll, dass sie, solange es noch Zeit war, weder die Hand aufs Heer zu legen noch die Bauern vom feudalen Joche zu befreien verstand. Als sie im Herbst von 1848 in dem zahmen Antrag Stein die schon wieder sehr ausgewachsene Frechheit der junkerlichen Offiziere etwas zu beschneiden unternahm, war es zu spät. Die siegreiche Reaktion beeilte sich dann, die „Charte Waldeck" zu oktroyieren. Freilich schon mit einigen derben Einschnitten, aber im Großen und Ganzen doch so, dass die oktroyierte Verfassung vom 5. Dezember 1848 noch viel mehr an bürgerlicher Freiheit und bürgerlichem Recht enthielt, als heute im Deutschen Reich und preußischen Staat besteht. Es war natürlich das reine Augenverblenden. Die Reaktion sagte sich: Haben wir das Volk erst mit dieser Verfassung glücklich gemacht und sind wir dadurch fest in den Sattel gelangt, so ist es ein Kinderspiel, das Blatt Papier zu zerreißen und zum Spiele der Winde zu machen, die zweite Vorsehung so unfindbar zu machen wie die erste.

Bekanntlich kam es dann wirklich so. Die Nationalversammlung lehnte das Angebot der Berliner Arbeiter, sie mit bewaffneter Hand gegen den bewaffneten Staatsstreich der Brandenburg und Manteuffel zu verteidigen, hochnäsig ab; sie verließ sich auf den „passiven Widerstand" der bürgerlichen Klasse. Und diese Klasse ließ die Versammlung augenblicklich im Stiche, als sie die schöne Verfassung vom 5. Dezember 1848 zu Gesicht bekam. Hier waren ja, wenn auch nicht gerade alle, so doch die meisten Errungenschaften der Märzrevolution herrlich verbrieft und eigentlich noch viel mehr, als dem braven Bourgeois im Grunde seines ängstlichen Herzens lieb war. Kaum aber hatten die Brandenburg-Manteuffel durch diese feige Kurzsichtigkeit der Bourgeoisie festen Boden unter den Füßen, als die berüchtigte „Durchlöcherung" der Verfassung begann. Ziemlich zehn Jahre lang war das Blatt Papier nicht mehr als eine Scheibe, an der sich die Junker im edlen Sport des Pistolenschießens übten. Trotzdem scharten sich die bürgerlichen Klassen um den flatternden Fetzen wie um ein erprobtes Banner, als im Militärkonflikt ihre Interessen mit denen des König- und Junkertums hart zusammenstießen. Vergebens suchte sie Lassalle von diesem verhängnisvollen Irrtum zu kurieren; in seinen Verfassungsreden warnte er sie aufs dringendste, die Torheiten zu wiederholen, welche sie im Jahre 1848 begangen hatten. Sie lachten ihn einfach aus, und er beeilte sich nunmehr, das Proletariat aus der politischen Verbindung mit einer Klasse zu lösen, die mit unheilbarer Blindheit geschlagen war.

Was sich nun heute in dem Schimpfen über den angeblich verkommenen Reichstag abspielt, ist weiter nichts als eine neue Auflage des alten, nur in den äußeren Formen und Verhältnissen veränderten, aber im Wesen der Sache gleichen Schwindels. Der Reichstag wird zu besudeln versucht, weil er den Interessen der Massen zwar keineswegs in ausreichendem, aber doch in höherem Grade gerecht wird als jemals früher, als namentlich in der so viel gepriesenen Ära der siebziger Jahre. Man wird uns nicht im Verdacht irgendwelcher Sympathie für den gegenwärtigen Reichstag haben. Die einzige Tatsache, dass dieses Parlament im vorigen Jahr nur durch die gegenseitige Neidhammelei seiner bürgerlichen Fraktionen davor bewahrt wurde, die Umsturzvorlage anzunehmen, genügt vollständig, um alle Illusionen über seine moralische, politische, historische Bedeutung zu zerstören. Aber wir haben auch nicht das geringste Interesse daran, den schnöden Humbug zu dulden, der mit der reaktionären Herunterreißung des Reichstags getrieben wird. In diesem wie in manchem anderen Punkte ist für das Interesse der Arbeiterklasse noch heute die Politik der „Neuen Rheinischen Zeitung" vorbildlich, welche die Nationalversammlung mit schärfster Kritik voranzutreiben wusste, aber zugleich unbarmherzig den Schwindel aufdeckte, der mit dem reaktionären Zetern über ihre „unfruchtbaren Zänkereien" verübt wurde.

Unfruchtbare Zänkereien" sind nämlich in der Sprache des wohlgesinnten Patriotismus alle mehr oder weniger kräftigen Vorstöße gegen die Macht der bürokratischen, feudalen, polizeilichen, militärischen Reaktion, während alles, was die Kraft dieser Reaktion so oder so zu stärken geeignet ist, in derselben Sprache „organische Reformarbeit" genannt wird. Hat der Reichstag den Winter hindurch sich mit den „unfruchtbaren Zänkereien" über den Etat beschäftigt, während er die „organische Reformarbeit" am Margarine- und Zuckersteuer-, auch am Börsengesetz und selbst am bürgerlichen Gesetzbuch auf die minder günstigen Frühjahrsmonate verschoben hat, so mag er die Interessen der unterdrückenden Klassen geschädigt haben, hat aber ebendeshalb die Interessen der unterdrückten Klassen gefördert. Das ist allerdings ein großer Unterschied von dem Reichstag der siebziger Jahre. Der „vergeudete" seine Zeit nicht mit „unfruchtbaren Zänkereien", oder wenn er sich einmal auf dies Gebiet verlor, so genügte ein Aufstampfen von Bismarcks Kürassierstiefel, um ihn zusammenknicken und sein Loblied anstimmen zu lassen: Hunde sind wir ja doch. Dafür bescherte er dem Volke einen Haufen „organischer Reformarbeit", bei dem den Massen heute noch die Augen übergehen.

Es ist natürlich auch rein erschwindelt, dass der Reichstag der siebziger Jahre an Charakter und Bildung über dem heutigen Reichstag gestanden habe. Die Herren Boul, Schmidt und Spahn mögen kein ideales Präsidium sein, aber von der unanständigen und unwürdigen Parteilichkeit, womit die „nationalen Größen" Simson und Forckenbeck ihres Amtes walteten, sind sie denn doch frei. Der „ehrwürdige Simson" erlaubte sich, die parlamentarischen Vertreter des Proletariats, sobald sie das Wort ergriffen, mit Schulknabenwitzen zu verhöhnen, und wenn er ihnen das Wort entziehen wollte, die klarsten Vorschriften der Geschäftsordnung mit Füßen zu treten, was ihm einmal sogar in dieser servilen Versammlung beinahe übel bekommen wäre. Und nun gar die geschworene Rotte von schmutzigen Gründern und Gründergenossen, die im Reichstag der siebziger Jahre das große Wort führte, ist im Reichstag der neunziger Jahre doch nicht mehr da; wäre sie in ihm auch nicht unmöglich, so würde sie doch, falls sie hineingelangte, ungleich unsanfter gebettet sein als damals; die schandbare Komödie vom „unfindbaren Zeugen Adickes", die Lasker mit so ehrbarem Pathos aufführte, ließe sich heute nicht mehr parlamentarisch inszenieren. Das ist ein moralischer Fortschritt, der sogar mit Ahlwardts Reichstagsmandat1 nicht zu teuer erkauft ist.

Und nun gar die Bildung! In aller parlamentarischen Geschichte hat es selten einen ungebildeteren Janhagel gegeben, als die Bourgeoismehrheit des Reichstags vor dreißig und zwanzig Jahren war. Um nur ein Beispiel anzuführen, so sprach einer ihrer gefeiertsten Redner, Karl Braun-Wiesbaden, als großer Gründer und genialer Manchestermann gleich sehr berufen, den gebildeten Liberalismus zu führen, über die amtliche Fabrikaufsicht Folgendes: Er habe auch in seinem Leben oft mehr als fünfzehn Stunden arbeiten müssen und sei nicht daran zugrunde gegangen, man habe schon genug Gendarmen und Polizeidiener, die Sicherung des Hausrechts gegen polizeiliche Eingriffe müsse im neunzehnten Jahrhundert doch nicht ab-, sondern zunehmen. Niemand sei, wenn ein derartiges Fabrikinspektorat geschaffen werde, nachts zwischen zwei und drei Uhr in seinem Bette sicher: Der Eindringende brauche bloß zu erklären, er habe geglaubt, es sei hier ein industrielles Unternehmen. Wenn gar der Fabrikinspektor über die gewöhnlichen Verwaltungsbehörden zu wachen habe, ob sie ihre Schuldigkeit tun, so werde eine spanische Hermandad, eine Art Femgericht daraus. Die geforderten Berichte der Inspektoren habe der Reichskanzler doch nicht Zeit zu lesen! Es wären 500 Fabrikinspektoren, jeder mit einem Gehalte von 6000 Talern nötig; das sei unerschwinglich. Und so weiter. Diesen entsetzlichen Galimathias begrüßte der angeblich so „gebildete" Reichstag der siebenziger Jahre mit lebhaftem Beifall, wohlgemerkt, ein Menschenalter nach der Einführung der englischen Fabrikinspektoren, über deren Wirksamkeit schon eine reiche Literatur vorlag. Es heißt dem heutigen Reichstag noch nicht schmeicheln, wenn man behauptet, dass solche Proben von „Bildung" in seinen vier Wänden nicht mehr abgelegt werden.

Dies Beispiel zeigt aber auch, woher die Tränen über den moralisch und politisch verkommenen Reichstag fließen. Wie viel sich immer gegen ihn sagen lässt, so ist er doch nicht mehr ein so williges Werkzeug zum Schaben und Schinden der arbeitenden Klassen wie vor zwanzig und dreißig Jahren. Und dass er in diesem Punkte etwas vorsichtiger und widerspenstiger geworden ist, verdankt er der moralischen und politischen Erziehung durch das Proletariat. Vielleicht kennzeichnet nichts treffender die urwüchsige Kraft der deutschen Sozialdemokratie, als dass sie selbst ein so schwächliches Gewächs, wie der bürgerliche Parlamentarismus in Deutschland ist, einigermaßen in die Höhe zu bringen gewusst hat. Dieser Zusammenhang schärft zwar noch die Lästerzungen der bekümmerten Vaterlandsfreunde, macht aber auch ihre ganze Lästerschule zur gleichgültigsten Sache von der Welt. Es ist dafür gesorgt, dass sie die chambre introuvable2 der siebziger Jahre nicht wiedersehen.

1 Hermann Ahlwardt wurde 1892 in den Reichstag gewählt, im gleichen Jahr wegen antisemitischer Verleumdungen der Waffenfabrik Loewe zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt und aus der Deutschen Reformpartei ausgeschlossen.

2 Anspielung auf die „unfindbare Kammer", das heißt eine, die sich so leicht nicht wieder finden lässt, wie die Pariser „Volksvertretung" von 1815 bis 1816, die sich der Regierung bedingungslos fügte, sarkastisch genannt wurde.

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