Franz Mehring 18940718 Ein Jubiläum

Franz Mehring: Ein Jubiläum

18. Juli 1894

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Zweiter Band, S. 513-516. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 445-449]

In diesen Sommertagen vollenden sich zehn Jahre, seitdem die Ära Bismarck, um den patriotischen Mob zu amüsieren und wenn möglich noch einige Millionäre mehr zu züchten, die deutsche Kolonialpolitik eröffnete. Seitdem haben die deutschen Steuerzahler ungezählte Millionen in diesen unersättlichen Schlund werfen müssen und ein gut Stück der nationalen Ehre dazu. Das System Caprivi sucht auch auf diesem Gebiet etwas vernünftigere Zustände einzuführen, doch es wagt wie gewöhnlich nicht, gründlich mit der Vergangenheit zu brechen, und es hat seinen verdienten Lohn dahin, wenn es sich jetzt jeden Tag von der Presse Bismarcks Sottisen sagen lassen muss wegen seiner schlappen Haltung in der Kolonialpolitik. Man müsste heute schon einen ziemlich dicken Band füllen, wenn man die Geschichte der deutschen Kolonialpolitik schreiben wollte. Aber man würde in diesem Bande vergebens nach einem Blatte suchen, das sich mit leidlicher Zufriedenheit lesen ließe. Nicht einmal vom Standpunkte des reinen Kapitalprofits lässt sich der deutschen Kolonialpolitik eine günstige Ansicht abgewinnen. In unseren Augen würde sie dadurch nicht schöner werden, aber man könnte sich ungefähr einen Vers darauf machen, weshalb in der herrlichsten aller Welten die steuerzahlenden Massen mit dieser ägyptischen Plage gestraft seien. Wie wenig selbst vom kapitalistischen Standpunkte an der deutschen Kolonialpolitik zu loben ist, beweist der hartnäckige Widerstand der Herren Ludwig Bamberger und Eugen Richter gegen sie, der beiden edlen Ritter, die sonst sofort bereit sind, alle ihre politischen Ideale daranzugeben, falls nur ein erklecklicher Profit für das Kapital abfällt, und die in diesem Falle so aufsässig sind, weil eben gar nichts für den Kapitalismus dabei herausschaut.

Bismarck hatte einen seiner lichteren Augenblicke, als er im März 1871 dem Gerüchte widersprach, als ob Deutschland sich in französischen Kolonien für die Kriegskosten bezahlt machen wolle. Er fügte damals hinzu: „Ich will auch gar keine Kolonien. Die sind bloß zu Versorgungsposten gut. Für uns in Deutschland – diese Koloniegeschichte wäre für uns genauso wie der seidene Zobelpelz in polnischen Adelsfamilien, die kein Hemd haben." Das ließ sich in gewissem Sinne ganz gut hören, obschon es Bismarck in diesem Sinne vielleicht gar nicht gemeint hat. Bei Aufteilung der Erde war Deutschland aus historischen Gründen zu kurz gekommen; nicht mehr mit seiner Kolonial-, sondern nur noch mit seiner Sozialpolitik konnte es den Vorsprung der westeuropäischen Kulturvölker einholen. Bei diesen Völkern war die Kolonialpolitik oft genug der seidene Zobelpelz gewesen, der das zerschlissene Hemd ihrer Sozialpolitik wieder für einige Zeit verdeckt hatte; wollte Deutschland dies Hemd, und es war bei ihm zerrissener als irgendwo anders, heil und ganz machen, ohne es erst durch einen seidenen Zobelpelz zu verdecken, so war das eine vernünftige Politik. Indessen gleichviel, ob Bismarck sie wirklich in einem lichten Augenblick erwogen oder nur eine jener vieldeutigen Redensarten hingeschleudert hat, von denen er für seine gläubige Anhängerschaft stets Dutzende im Sacke hatte. Keinesfalls dachte er daran, mit dem Flicken des Hemdes irgendwelchen Ernst zu machen. Im Gegenteil waren die ersten Jahre des neuen Deutschen Reiches eine wüste Orgie des Kapitalismus, eine Schwindelperiode, wie sie Deutschland noch nie gesehen hatte und in der Tat auch erst sehen konnte, als es auf den steilen Gipfel der großen Industrie gelangt war.

In dem Krache, der dem Schwindel auf dem Fuße folgte, erwachte zuerst die deutsche Kolonialpolitik. Ihre Triebfedern waren einerseits die Eröffnung neuer Märkte für die deutsche Industrie, andererseits die Beschwichtigung der mächtig anschwellenden Arbeiterbewegung. Die Beschwichtigung oder auch die Erstickung, denn neben dem Plane, Ackerbaukolonien zu gründen, um durch eine organisierte Auswanderung der angeblichen Übervölkerung als der Hauptquelle der sozialen Leiden zu steuern und gleichzeitig der deutschen Industrie einen wohlhabenden Stamm neuer Käufer zu schaffen, lief von Anfang her der andere Plan, Strafkolonien für politische Verbrecher zu gründen. Doch mag zunächst wohl die Strafkolonie hinter der Ackerbaukolonie zurückgestanden haben. Der nationale Spiritus war noch nicht ganz verflogen, und begeisterte Schwärmer hielten es für notwendig, durch Gründung von Kolonien, wie es in einem der damaligen Programme hieß, die Zukunft des deutschen Volksstammes gegenüber dem riesigen Wachstum der Angelsachsen und der Russen für künftige Jahrhunderte zu sichern. Auch manche Anhänger des in den siebziger Jahren noch vielfach eklektischen deutschen Sozialismus verfielen dieser Schwärmerei. So war gleich der Begründer der ersten deutschen Kolonialgesellschaft, des Zentralvereins für Handelsgeographie und Förderung der deutschen Interessen, Professor Jannasch, ein altes Mitglied der Internationalen Arbeiterassoziation und hatte noch auf dem Baseler Kongresse im Herbst 1869 die Sektion Magdeburg vertreten.

Mit dieser kolonialen Bewegung hatte nun Bismarck an sich nichts zu tun. Gerade in ihrem verhältnismäßig rationellen Kerne, in der Organisierung von deutschen Ackerbaukolonien, war sie ihm sogar höchst zuwider. Wie konnte man diesem ostelbischen Junker, der unter den hartherzigen Latifundienbesitzern von jeher der hartherzigste war, die Auswanderung von besitzlosen Taglöhnern, die natürlich den ländlichen Arbeitslohn steigern musste, ernsthafterweise zumuten? Es versteht sich, dass Bismarck sein wirkliches Motiv rücksichtsloser Profitwut in ein gleißendes Mäntelchen nationaler Würde hüllte. „Ich bin kein Freund der Auswanderung", sagte er im Reichstage; „ein Deutscher, der sein Vaterland abstreift wie einen alten Rock, ist für mich kein Deutscher mehr." Indem Bismarck seine geniale Hand an die Kolonialpolitik legte, brach er ihr zunächst alles ab, was in irgendwelchem Sinn den notleidenden Klassen hätte zugute kommen können, verwandelte er sie in ein neues Werkzeug der Ausbeutung und Unterdrückung, ließ er die Ackerbaukolonien liegen und stürzte sich auf Handelskolonien. Doch ist es erlaubt, daran zu zweifeln, ob die Schaffung einer Handvoll neuer Millionäre wirklich sein erster Zweck gewesen sei; näher liegt die Annahme, dass es ihm zunächst mehr darauf ankam, den patriotischen Mob zu amüsieren.

Durch den Gewaltstreich des Sozialistengesetzes und die Verkoppelung der Interessen von Großgrundbesitz und Großindustrie hatte er sich aus dem Gröbsten des Fiaskos herausgearbeitet, das seiner Politik schon gegen Ende der siebenziger Jahre drohte. Aber bis zur Mitte der achtziger Jahre war seine Lage noch keineswegs glänzend. Bei den Reichstagswahlen von 1881 hatte er sogar eine entschiedene Niederlage gegenüber dem Liberalismus erlitten; die plumpe Demagogie, womit sein gehorsamer Diener Wagner das Tabaksmonopol als das „Patrimonium der Enterbten" während der Wahlagitation herum hausierte, hatte die kapitalistischen Interessen stark gereizt, während sie von den Arbeitermassen, in denen sie zünden sollte, vielfach verlacht worden war. Die Fortschrittler und Sezessionisten, die beiden ihm feindlichen Flügel des Liberalismus, waren über hundert Köpfe stark in den Reichstag gekommen, und zudem hatten die Wahlen gezeigt, dass die Sozialdemokratie keineswegs totgeschlagen, sondern noch sehr lebendig war. Dazu kam die schwankende Gesundheit des altersschwachen Kaisers Wilhelm, die Bismarcks Hausmeiertum in heftiges Wackeln brachte; eine Gewaltherrschaft, die durch jede kleine Erkältung eines fast neunzigjährigen Mannes aus der Welt gehustet werden kann, ist kein imponierendes Ding. Und nun nahten die Wahlen von 1884 heran, ohne dass sich die Lage trotz aller genialen Kapriolen für Bismarck wesentlich gebessert hätte. Sie nahm sogar eine sehr entschiedene Wendung zum noch Schlechteren, als sich im Frühjahre von 1884 die fortschrittliche und die sezessionistische Fraktion fusionierten. Die liberalen Wähler waren zwar von der hinter den Kulissen abgekarteten Machenschaft vollständig überrascht worden, aber Bismarck musste sofort wissen und wusste auch sofort, was sie bedeutete. Die Fusion war erfolgt, weil der Kronprinz für seinen alsbald erwarteten Regierungsantritt eine starke liberale Partei, auf die er sich stützen könne, verlangt hatte, und weil man durch den engen Zusammenschluss die Chancen der bevorstehenden Wahlen um so gründlicher ausnützen zu können hoffte.

Dies war die Lage, in der Bismarck mit seiner Kolonialpolitik einsetzte. Im März war die Fusion der Freisinnigen Partei erfolgt, im April telegraphierte Bismarck zur Überraschung von aller Welt an den deutschen Konsul in Kapstadt, er solle Angra Pequena, die südwestafrikanische Niederlassung des Herrn Lüderitz, unter den Schutz des Deutschen Reiches stellen. Gleichzeitig sandte er den Generalkonsul Nachtigal auf einem deutschen Kriegsschiffe nach Kamerun und Togo, um dort die deutsche Flagge zu hissen. Dann aber begann der Welfenfonds mit Hochdruck zu arbeiten, um jene „Schützenfeststimmung" hervorzurufen, über die Herr Bamberger nicht ohne sehr herben Beigeschmack seine Witze machte. Bismarck selbst betrieb seine Sache mit demagogischem Geschick. Die königlichen Kaufleute sollten die neuen Kolonien regieren, und dem Reiche sollten sie sehr wenig kosten. Nachdem so die Sorge des Philisters um seinen Geldbeutel beschwichtigt war, reizte Bismarck seinen hinter dem Stammtisch stets in unendlichen Massen vorhandenen Tatendrang durch den Hohn, die Deutschen seien bisher Stubenhocker gewesen, sie hätten auf den Thüringer Bergen zusammengesessen und dem Meere den Rücken zugekehrt. Bismarcks intime Busenfreunde, die reichen Börsenwölfe v. Bleichröder, v. Hansemann und andere, mussten ein paar lumpige Millionen opfern, um Gesellschaften für die Ausbeutung der neuen Kolonien zu gründen; mit schmatzenden Lippen und wässernder Zunge schilderten sämtliche Pindter im Deutschen Reiche die unerschöpflichen Schätze, die in den afrikanischen Sand- und Sumpflöchern verborgen sein sollten. Es gelang, einen Taumel in den besitzenden Klassen hervorzurufen wie in einer neuen Schwindelperiode. Alles, was in Deutschland verkracht war und nach neuem Profit hungerte, verbiss sich in den blinkenden Köder.

Auf diese Weise gelang es Bismarck, die Scharte von 1881 auszuwetzen. In den Wahlen von 1884 brachte er der Freisinnigen Partei zwar noch keine entscheidende, aber doch eine entschiedene Niederlage bei. Von ihren mehr als hundert Mandaten verlor sie ein gutes Drittel. Um den Rest der Beute einzuheimsen, musste Bismarck die stärkste seiner Künste spielen lassen, den Kriegsrummel von wegen Boulangers; erst 1887 gelang es ihm, sein politisches Ideal im Kartellreichstage zurecht zu schmieden. Aber die Wahlen von 1884 waren der Wendepunkt. Von da an segelte er mit der aufsteigenden Welle, und den Wind, der in seine Segel blies, hatte die Kolonialpolitik gemacht. Es lohnt, sich dessen zu erinnern in ihren zehnjährigen Gedenktagen. Bismarck selbst hätte es wohl manchmal gern vergessen. Auf dem kolonialen Gebiete hatte er nicht bloß mit den Mamelucken der deutschen Bourgeoisie, sondern auch noch mit anderen Leuten zu tun, und wenigstens die Genugtuung wurde dem Herrn Bamberger, dass Bismarck reichlich die von ihm, Bamberger, prophezeiten „Nasenstüber" erhielt und sie selbst von Mächten wie Spanien geduldig einstecken musste. Einen Reklame-Fischzug mit seiner Kolonialpolitik hat Bismarck nur noch einmal unternommen. Das war gleich nach dem Regierungsantritte Kaiser Wilhelms II., als der Aufstand der Eingeborenen im deutschen Ostafrika1 die ostafrikanische Gesellschaft fast ganz von ihrem Territorium vertrieben hatte. Da verkündete die Thronrede vom 22. November 1888, es sei Aufgabe des Reiches, den afrikanischen Weltteil für die christliche Gesittung zu gewinnen, und auf diesen Leim ging sogar der schlaue Windthorst. Diesmal war Bismarck der schlauere von den beiden Schlauköpfen oder wollte es wenigstens sein. In der Beratung des Reichstags über die Niederwerfung des ostafrikanischen Aufstandes, die den deutschen Steuerzahlern wieder viele Millionen kostete, sagte der vorsichtige Mann, er sei „kein Kolonialmensch von Hause aus" gewesen; die öffentliche Meinung habe ihn zu seiner Kolonialpolitik gezwungen. In so tapferer Weise sich um die Konsequenzen seiner Handlungen herumzudrücken war ja überhaupt Bismarcks Manier.

Zum Teil hat dann der neue Kurs die koloniale Erbschaft Bismarcks liquidiert. Mit dem Flaggenhissen und Vertragsschließen hat es seit 1890 ein Ende gehabt. Jetzt soll das Erworbene nutzbar gemacht werden, in ernster, unscheinbarer Arbeit, für die nach Ansicht des Grafen Caprivi voraussichtlich auf ein halbes Jahrhundert ausreichender Stoff vorhanden ist. Von dieser ernsten, unscheinbaren Arbeit haben wir inzwischen manches anmutige Pröbchen erlebt, so die Rhinozerospeitsche des Herrn Leist, die auf den nackten Leibern wehrloser Frauen tanzte. Und Ähnliches werden wir wohl noch öfter hören. Aber wir glauben nicht, dass die kolonialen Gründungen Bismarcks ein halbes Jahrhundert erleben werden. So langsam marschiert die Nemesis heutzutage nicht.

1 Der Aufstand, der 1888 begann, wurde erst 1890 (unter Führung Wissmanns) niedergeschlagen.

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