Franz Mehring 19101217 Elsass-Lothringen

Franz Mehring: Elsass-Lothringen

17. Dezember 1910

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Erster Band, S. 384-388. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 401-404]

In den Tagen seines Übermuts hat Bismarck einmal die allmähliche Verpreußung Deutschlands mit einer Jacke von rauer Wolle verglichen, die erst ein wenig kratze, aber dann um so wärmer sitze.

Wie so viele Weisheitssprüche des Genialen ist auch dieser an den Tatsachen elend zuschanden geworden. Noch standen die deutschen Heere in Frankreich, als sich der Partikularismus in der Zentrumspartei zu organisieren und der Verpreußungsmethode einen so zähen Widerstand entgegenzusetzen wusste, dass Bismarck selbst mehr als einmal vor ihm kapitulieren musste. Es lag in der Logik der Tatsachen, dass sich der preußische Partikularismus – und nichts anderes war die „deutsche Einheit", die Bismarck meinte – mit allem sonstigen Partikularismus zwar schlagen, aber auch vertragen muss.

Am greifbarsten zerschellte die Theorie der wollenen Jacke an der Morgengabe der „deutschen Einheit", so wie Bismarck sie verstand, an den Provinzen, mit deren Verlust die französische Nation dafür büßen musste, dass sie sich achtzehn Jahre lang von einem verbrecherischen Abenteurer hatte vergewaltigen lassen. Und doch bot gerade Elsass-Lothringen ein klassisches Vorbild für die Frage, wie man annektieren soll, wenn man einmal annektieren will, wie sich durch eine höhere Zivilisation nicht nur partikularistische Beschränktheit ausrotten lässt, sondern auch nationale Schranken niederwerfen lassen. Eine einzige Nacht genügte, um aus dem altdeutschen Elsass eine französische Provinz zu machen, die an feurigem Patriotismus keiner altfranzösischen Provinz nachstand, und den französischen Heeren, die über den Rhein in ihr ehemaliges Vaterland einbrachen, die tapfersten Soldaten zu stellen.

Gewiss war die französische Nationalversammlung, die in der Nacht des 4. August von 1789 mit allem feudalen Unrat in Frankreich aufräumte, keineswegs von hoher staatsmännischer Weisheit und ebenso wenig von einem idealen Opfermut beseelt, der die Vorrechte der herrschenden Klassen opferte, um den misshandelten Bauern und Handwerkern zu helfen.

Sie kann nur das bescheidene Verdienst beanspruchen, die trefflichen Lehren beherzigt zu haben, die ihr die Stürmer der Bastille gaben, und ebenso die roten Hähne, die überall im Lande von den feudalen Schlössern krähten. Aber immerhin – ihre revolutionäre Methode, wenn sie ihr auch erst nachdrücklich eingepaukt werden musste, bewährte sich glänzend, in erster Reihe an den deutschen Landschaften, die ihre nationale Gesinnung gern einer höheren Gesittung opferten.

Aus historischen Erfahrungen zu lernen ist den Junkern jedoch immer versagt, den genialen wie den nichtgenialen. Den Bismarck und Konsorten war es bei der Annexion Elsass-Lothringens im Jahre 1871 um alles andere eher zu tun als um zivilisatorische Zwecke. Als der altersschwache Bonaparte in die plumpe Falle gestolpert war, die ihm sein pfiffigerer Nachahmer und Nebenbuhler an der Spree mit der spanischen Thronkandidatur gestellt hatte, wurde zunächst nicht der Kampf gegen die französische Nation, sondern nur gegen das „französische Gouvernement" proklamiert; der Hass, der sich in Frankreich gegen die bonapartistische Schandwirtschaft angesammelt hatte, galt zunächst als eine Chance des Erfolges. Aber als man des Sturzes Napoleons sicher war, kam es nunmehr darauf an, Zwietracht zu säen zwischen der deutschen und der französischen Nation, deren friedliches Einvernehmen der preußischen Junkerherrlichkeit auf die Dauer an den Kragen gehen musste. Es wird für immer ein Schandfleck in der Geschichte der deutschen Bourgeoisie bleiben, dass ihre „Notabilitäten" sich – nach den großen Augustschlachten von 1870 und kurz vor den Tagen von Sedan – dazu hergaben, den Hetzhund der Junker zu spielen und in einem „Aufruf an die deutsche Nation" die Annexion Elsass-Lothringens zu fordern, wie es immer ein ehrenvolles Blatt in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bleiben wird, dass ihre klassenbewussten Vorkämpfer sofort gegen den ruchlosen Plan protestierten, wofür sie denn freilich unter groben Beschimpfungen und Misshandlungen durch den patriotischen Janhagel nach Lotzen geschleppt wurden.

Es gelang dem ostelbischen Junkertum, durch die Annexion Elsass-Lothringens die moderne Entwicklung auf dem europäischen Festland lange Jahrzehnte hindurch zu lähmen, aber wohin nun mit der Beute, an der ihm an und für sich gar nichts lag? Man muss anerkennen, dass Bismarck das leere Gerede von den „wiedergewonnenen Bruderlanden" ungeschmälert den Spatzenköpfen der liberalen Bourgeoisie überließ; er heuchelte nicht mehr, als er gerade musste, wenn er Elsass-Lothringen nur als Schutzwehr gegen Frankreich haben wollte, wie er sagte, gegen das eroberungssüchtige und, wie er meinte, gegen das bürgerliche Frankreich. Am nächsten lag ihm, das eroberte Land, so gut oder so schlecht es ging, zu verpreußen; jedoch über dem erlegten Wilde kreiste nicht nur der borussische Adler, sondern darum schlich auch der bajuwarische Löwe und allerlei sonstiges Wappengetier, dem noch aus seiner napoleonischen Vasallenzeit her in angenehmer Erinnerung war, dass es, wenn der Löwe seine Mahlzeit hielt, einige Knochen zu erhalten pflegte.

Und alle waren nicht so leicht abzufertigen wie der Herzog Ernst von Coburg, der sich, als Hans in allen Gassen, dem damaligen Grafen Bismarck zum Statthalter von Elsass-Lothringen anbieten ließ, aber – der Offiziöse des Herzogs selbst, weiland Professor Lorenz in Jena, berichtet es in melancholischer, wenn auch offenherziger Stimmung – seine Unterhändler in „ganz gedrückter Stimmung" von dem „heftig Erzürnten" zurückkehren sah. Schwieriger war mit dem König von Bayern fertig zu werden, der nicht in teutscher Begeisterung, wie die Schulbücher faseln, sondern in der Hoffnung auf Landerwerb seine Zustimmung zur Kriegserklärung gegeben hatte und aus seinem Herzen durchaus keine Mördergrube machte. Ihn legte Bismarck lahm durch die Eifersucht, die von altem Länderschacher her zwischen Baden und Bayern bestand. Der Großherzog von Baden, der Schwiegersohn des Königs von Preußen, der 1849 als „Kartätschenprinz" den badischen Aufstand niedergeworfen hatte und also doppelten Anspruch auf die Fügsamkeit des Schwiegersohns hatte, musste schon im August 1870, kaum dass der Gedanke der Annexion Elsass-Lothringens aufgegriffen war, gegen den „verwerflichen Partikularismus" predigen, der das eroberte Land unter die süddeutschen Staaten verteilen wolle.

Es war eine recht niedliche Komödie. Unter dem Vorgeben, dass preußische Generale ihm von der Vergrößerung Badens durch Teile des Elsasses gesprochen hätten, verwarf der Großherzog von Baden in einem amtlichen Schreiben an seinen Minister Jolly eine so eigennützige Politik. „Indem wir diese Art Kompensation im Voraus ablehnen und das wahre nationale Gesamtinteresse recht hoch halten, können wir auch dazu beitragen, Bayern und Württemberg mit in diese Bahn zu führen und etwaige derartige Gelüste im Keime zu ersticken." Das „wahre nationale Gesamtinteresse" aber gebot nach dem Großherzog von Baden, dass „die von Frankreich zurückeroberten Provinzen unter preußische Oberhoheit gestellt werden, oder, falls sie einen gewissen Grad von Selbständigkeit behalten sollen, könnte Preußen, das heißt der Kaiser, einen Statthalter bestellen". Das heißt, die zweite Meinung war von vornherein die eigentliche, wie sie denn auch ausgeführt wurde; die Forderung der einfachen Annexion an Preußen, die schließlich doch unmöglich war, wenn Bayern und andere süddeutschen Appetite sich einfach den Mund wischen sollten, wurde nur als Übergebot aufgestellt, damit beim Handel etwas abgelassen werden könne.

Auf diese Weise entstand das „Reichsland" Elsass-Lothringen, und im Grunde wäre es ja auch schade gewesen, wenn dem neudeutschen Reiche der feudale Zopf eines „zugewandten Orts" gefehlt hätte, der in allen modernen Staaten längst abgeschnitten worden war. Und dieser Zopf soll ihm auch ferner hinten hängen, Elsass-Lothringen soll auch fernerhin „Reichsland", ohne Vertretung im Bundesrat, mit kaiserlicher, das heißt – wie der Großherzog von Baden sehr richtig sagte – preußischer Statthalterschaft bleiben, jetzt, wo ihm endlich nach vierzig Jahren eine Volksvertretung gewährt werden soll. Eine Volksvertretung natürlich auch nach preußischem Muster: eine Erste Kammer von 36 Mitgliedern, die zur Hälfte vom Kaiser auf Vorschlag des Bundesrats ernannt werden, zur anderen Hälfte aus Bischöfen, Konsistorialpräsidenten, Oberbürgermeistern, Handelskammerpräsidenten usw. bestehen sollen, also ein Miniaturabbild des preußischen Herrenhauses, und eine Zweite Kammer von 60 Mitgliedern, die nach direktem und geheimem, aber weder allgemeinem noch gleichem Stimmrecht gewählt werden sollen. Das allgemeine Wahlrecht ist eingeschränkt durch die untere Altersgrenze von 25 Jahren, durch dreijährigen Wohnsitz im Wahlkreis oder – bei einjährigem Wohnsitz – durch Besitz eines Grundstücks, ein stehendes Gewerbe oder selbständigen Betrieb der Landwirtschaft, das gleiche Wahlrecht aber ist beseitigt durch die Abstufung der Stimmenzahl nach dem Alter. Wahlberechtigten von mindestens 35 Jahren stehen zwei, von mindestens 45 Jahren drei Stimmen zu.

Nach vierzigjährigem Kreißen ein solches Mäuslein zu gebären bringt unter allen Müttern des Erdballs wirklich nur Mutter Borussia fertig. Und dennoch – ihre eigene Kinderschar muss noch mit Neid auf dieses Stiefschwesterlein blicken. Etwas menschenwürdiger als die preußischen Dreiklassensysteme ist das Wahlrecht, das den Elsass-Lothringern beschieden werden soll, bei alledem doch. Vor der Provinz, die sie erst seit vierzig Jahren knechten, haben die Junker noch ein wenig mehr Respekt als vor den Provinzen, die sie seit vierhundert Jahren geknechtet haben.

Von ihrem Standpunkt aus rechnen die Junker dabei vielleicht nicht unlogisch, und sie würden sogar ganz richtig rechnen, wenn dieser Schlag ihrer Peitsche nicht auch die schläfrigsten Philister aufschreckte.

Kommentare