Franz Mehring 19141002 Erinnerungen aus dem Kriegsjahre 1870

Franz Mehring: Erinnerungen aus dem Kriegsjahre 1870

2. Oktober 1914

Ein Wort zum Burgfrieden

[Die Neue Zeit, 33. Jg. 1914/15, Erster Band, S. 9-17. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 248-59]

Die Masse der deutschen Parteigenossen erlebt zum ersten Male einen großen Krieg, und auch unter ihrer Minderzahl gibt es nur verhältnismäßig wenige, die den Krieg von 1870 schon von politischer Warte aus mit angesehen haben. An diese wenigen, und jedenfalls an mich, ist während der letzten Wochen wiederholt aus Parteikreisen die Aufforderung gerichtet worden, Erinnerungen aus dem Jahre 1870 aufzuzeichnen. Ich für mein Teil habe bisher diese Aufforderungen abgelehnt, da ich 1870 politisch noch recht unerfahren war und auch nichts Besonderes erlebt habe.

Neuestens bin ich aber wieder darum angegangen worden, und zwar unter einem Gesichtspunkt, den ich als berechtigt anerkennen muss. Die erschütternde Tatsache, dass die Internationale zusammengebrochen ist und dass die Haltung der deutschen Sozialdemokratie von ihren Schwesterparteien, auch in den neutralen Staaten, ungünstig beurteilt wird, erklärt sich wenigstens zum Teil daraus, dass sich die deutschen Parteiinstanzen, und namentlich die deutschen Parteizeitungen, dem sogenannten Burgfrieden anbequemt, das heißt auf die nachdrückliche Vertretung der Parteiprinzipien während des Krieges verzichtet haben. Sie haben es unter dem eisernen Zwange der Militärdiktatur getan, aber gleichviel, sie haben es getan, und dadurch ist bei den ausländischen Gesinnungsgenossen der Schein hervorgerufen worden, als habe sich die deutsche Sozialdemokratie mit Hand und Herz, mit Haut und Haaren dem Imperialismus ergeben.

Dieser Schein trügt, wir wissen es alle, aber auch ein trügerischer Schein kann gewaltiges Unheil anrichten. Ist der Burgfriede nur ein Interim, so hat auch dies Interim den Schalk hinter ihm. Indem die Partei sich in ihn fügt, bringt sie ein Opfer, das sie nur den dringendsten und höchsten Interessen der Nation bringen darf. Die Trümmer der Internationale warnen, und man braucht noch lange kein Prophet zu sein, um vorherzusehen, dass die Partei durch die Frage des Burgfriedens vor die verhängnisvollsten Entschlüsse gestellt werden kann.

Das Problem stellt sich demnach so: Ist der Burgfriede eine Lebensfrage der nationalen Existenz? Und diese Frage lässt sich nur auf dem Wege der historischen Erfahrung beantworten. Wenn man fragt: Wie war es denn mit dem Burgfrieden im Jahre 1870?, so glaube ich, dieser Frage die Antwort nicht versagen zu dürfen. Deshalb zeichne ich einige Erinnerungen aus dem Kriegsjahre 1870 auf, wobei ich von mir selbst sowenig wie möglich und nur insoweit sprechen werde, als notwendig ist, um den Standpunkt zu kennzeichnen, von dem aus ich dazumal die Dinge angesehen habe.

In den letzten Novembertagen des Jahres 1869 war ich in die Redaktion der „Zukunft" eingetreten. Im Burgfrieden hinterpommerscher Landstädtchen aufgewachsen, hatte ich mich mit der lauteren Milch preußischer Gesinnung genährt und noch beim Abiturientenexamen auf dem Gymnasium Greifenberg in Pommern die erste Note erhalten über das glückliche Thema: Preußens Verdienste um Deutschland. Auf der Universität hatte sich mein Gesichtskreis erweitert; ich las die „Volkszeitung" und die „Zukunft", und ich schwankte anfangs, welcher der beiden Zeitungen ich meine literarischen Erstlinge darbringen sollte. Aber Rabbi Bernsteins talmudistischer Scharfsinn war schließlich nicht ganz mein Geschmack, und ich sollte erst ein halbes Menschenalter später nach seinem Tode sein Nachfolger werden; einstweilen fesselte mich, zumal da meine literarischen Neigungen noch ungleich stärker waren als meine politischen, die feine und unvergleichliche Feder, die Guido Weiß in der „Zukunft" führte.

Sie war das Organ Johann Jacobys und im Jahre 1867 gegründet worden, um aus den entschiedensten Elementen der Fortschrittspartei wieder eine bürgerliche Demokratie zu sammeln, die diesen Namen verdiente. Es gelang ihr jedoch nur, einen kleinen Kreis zusammenzubringen, der teils aus Intellektuellen, namentlich Ärzten, bestand, wie denn Weiß selber ursprünglich Mediziner war, teils aus Industriellen, die altangesehenen Firmen angehörten (Heffter, d'Heureuse, Spindler) oder auch, wie Paul Singer, junge und selbstgemachte Männer waren. Aber so ausgezeichnet oder tüchtig die Jacobyten als einzelne Personen sein mochten, so entscheidet in der Politik wie im Kriege nicht der papierne, noch so geistreiche Operationsplan, sondern der liebe Gott ist immer mit den großen Bataillonen, und just zur Zeit, wo ich in die Redaktion der „Zukunft" eintrat, war ihr Kreis zu der Überzeugung gelangt, dass er eine nähere Fühlung mit der Arbeiterklasse nehmen müsse.

Es sollte geschehen durch die Rede über das Ziel der Arbeiterbewegung, die Johann Jacoby am 20. Januar 1870 im Neuen Gesellschaftshause am Cottbusser Tor hielt: in der Form eines Rechenschaftsberichts, den er als Abgeordneter des zweiten Landtagswahlkreises vor dessen Wählern erstattete. Diese Wähler kamen sehr zahlreich, aber es waren Sozialdemokraten, die Schweitzer zum Vorsitzenden wählten. Jacoby war klug und konsequent genug, seinen Bericht zu erstatten, im Unterschiede von seinem Mitabgeordneten Runge, der nach Fortschrittlersitte davonlief. Es war eine imposante Versammlung, die erste, über die ich einen Bericht erstattete.

Die Rede Jacobys wurde aufmerksam angehört, obgleich sie sehr lang war und mit matter Stimme vorgetragen wurde; sie war mehr ein abgelesener Vortrag, der bereits im Druck vorlag. Das Gute daran hatte sich Jacoby aus Lassalle und Marx zusammengelesen, das minder Gute sich vom Statistiker Engel soufflieren lassen, neben dem Jacoby im Abgeordnetenhause saß, namentlich die Gewinnbeteiligung, für die Engel damals eine gewaltige Reklame machte. Auf die Hörer konnte die Rede schon deshalb keinen Eindruck machen, weil sie den proletarischen Klassenkampf verleugnete, auf den die Berliner Sozialdemokraten eingeschworen waren. Schweitzer hatte denn auch leichtes Spiel mit Jacoby, der kein flinker Debatter war, und auf Hasenclevers Antrag beschloss die Versammlung, dass Johann Jacoby manche sozialistischen Wahrheiten in sich aufgenommen habe, aber auf halbem Wege stehengeblieben sei.

Inzwischen fuhren die „Zukunft" und ihre Freunde fort, an der Hand von Jacobys Programmrede eine neue demokratische Partei zusammenzubringen. Die Sache hatte aber ihre Schwierigkeiten, und sie war noch längst nicht unter Dach und Fach, als im Sommer 1870 der Krieg hereinbrach. Er begrub natürlich diese Anfänge und schaufelte auch der „Zukunft" das Grab. Aber den Krieg selbst hat sie noch durchgehalten, ohne ihren demokratischen Grundsätzen etwas zu vergeben und auch ohne große Zusammenstöße, bis auf ein paar kleine Abenteuer.

In Königsberg beantragte ein patriotischer Professor namens Maurenbrecher, die „Zukunft" aus dem akademischen Lesezirkel auszuschließen, da sie „die Gemüter der Jugend vergifte". Das war soweit ganz nett und gereichte beiden Teilen zum Nutzen. Für die „Zukunft" war eine hübsche Reklame gemacht, und Herr Maurenbrecher hat später die Ehre gehabt, den Prinzen Wilhelm, den heutigen Kaiser, in deutscher Geschichte zu unterrichten.

Etwas tragischer gestaltete sich das zweite Abenteuer. Stephan war kurz vorm Kriege zum Generalpostmeister ernannt worden und hatte in der Errichtung der Feldpost gleich ein kleines Meisterwerk geliefert; er war damals noch ganz in seiner genialen Periode und besaß also noch etwas von der Naivität des Genies. Er hatte ein amtliches Rundschreiben an die ihm untergebenen Behörden gerichtet, worin er die Besorgung der „Volkszeitung" und der „Zukunft" für die Armeelazarette in Frankreich anordnete und sich dafür auf einen Wunsch der Kronprinzessin bezog. Entsetzte Gamaschenknöpfe berichteten das Unerhörte an den alten Kaiser, den die Berufung auf die Kronprinzessin noch tiefer kränkte als selbst die Empfehlung der „Volkszeitung" und der „Zukunft". Sein empörtes Gemüt wurde schließlich durch Bismarck beschwichtigt, der Stephan nicht missen wollte und konnte, aber die beiden Blätter wurden – als „gesunde Jungen", wie der „Kladderadatsch" scherzte – aus den Armeelazaretten verwiesen.

Sonst ist die „Zukunft" gänzlich unbehelligt geblieben und nicht minder der „Sozialdemokrat", in dessen Spalten Hasselmann namentlich seit Sedan eine äußerst scharfe Polemik gegen die Friedens- wie Kriegspolitik der Regierung führte, eine kaum minder scharfe Klinge, als sie Liebknecht gleichzeitig im „Volksstaat" schlug. Der Kriegszustand wurde nur verhängt, wo der Krieg tatsächlich auszubrechen drohte: in den Küstenlanden, wo man jeden Tag eine Landung der französischen Kriegsflotte erwartete. Für den Bereich des 1., 2., 9. und 10. Armeekorps (Preußen, Pommern, Schleswig-Holstein, Hannover, Braunschweig, Hansestädte usw.) wurde der General Vogel v. Falckenstein als Gouverneur mit dem Sitz in Hannover bestellt.

Irgendeine Beschränkung wurde der Presse nicht zugemutet, außer dass sie von Fall zu Fall verständigt wurde, in ihren Mitteilungen über militärische Dinge sich zu beschränken. Das genügte auch vollständig. Nur in einem einzigen Falle hat ein Teil der Presse versagt, und zwar die Presse, die die patriotische Gesinnung am liebsten allein gepachtet hätte. Es geschah, als im Versailler Hauptquartier der Streit zwischen den „Schießern" und den „Sch…ßern" ausbrach, als Bismarck und der Kriegsminister v. Roon das Bombardement von Paris verlangten, das die gesamte Generalität, mit der einzigen Ausnahme eben Roons, aber mit Moltke und Blumenthal an der Spitze als einen „Fähnrichsstreich" verurteilte, der den eigenen Truppen und der bürgerlichen Bevölkerung von Paris unnütze Blutopfer auferlegen, den Fall der gewaltigen, nur durch Hunger bezwingbaren Festung aber auch nicht um einen Tag beschleunigen würde. Diese Ansicht, die von vornherein durch militärische Gründe der einleuchtendsten Art gestützt wurde, hat sich denn auch als vollkommen richtig erwiesen, sobald Bismarck seinen Willen durchgesetzt hatte und mit dem Bombardement begonnen wurde. Um aber seinen Willen durchzusetzen, hatte Bismarck wochenlang durch die von ihm abhängigen Blätter verbreiten lassen, „weibliche Schutzengel" schwebten über dem „Mekka der Zivilisation", will sagen, der König und der Kronprinz würden durch fremdtümliche Sentimentalitäten ihrer Gemahlinnen zur Schonung der französischen Hauptstadt veranlasst, unbekümmert darum, ob der Krieg dadurch ins Unabsehbare verlängert würde. Diese Unterstellung, die schlechterdings gar nichts hinter sich hatte, in allerlei verständlichen Anspielungen verbreitet zu haben ist das einzige, was die Presse oder vielmehr nur ihr offiziös geeichter Flügel damals in militärischen Fragen gesündigt hat.

Sonst aber hat die Presse sich in Fragen der inneren Politik den Mund nicht verbieten lassen, und es ist auch gar kein Versuch gemacht worden, ihr den Mund zu verbieten. Überhaupt gingen das Parteileben und natürlich auch der Parteikampf im Kriege ihren Gang weiter, als wenn Frieden wäre. Es seien nur einige Beispiele herausgegriffen. Am 30. August erließen liberale „Notabilitäten" einen Aufruf an das deutsche Volk, worin der Regierung die Annexion französischer Provinzen mehr noch vorgeschrieben als angeraten wurde. Das mochte der Regierung noch bequem sein, und vielleicht war dieser Aufruf selbst bestellte Arbeit, aber sehr unbequem war ihr schon – nach der Sprache ihrer Organe –, dass die Fortschrittspartei am 26. September eine öffentliche Kundgebung erließ, worin sie unter scharfer Kritik der Norddeutschen Bundesverfassung die Einberufung eines gesamtdeutschen Parlaments forderte, um eine gesamtdeutsche Verfassung auf freiheitlicher Grundlage zu beraten.

Und wie auf politischem so auch auf religiösem Gebiete. Gleichzeitig mit dem Ausbruch des Krieges hatte das Vatikanische Konzil das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes verkündet, und nun ging die Katzbalgerei los. Bereits am 27. Juli erhob der katholische Geistliche Michelis öffentliche Anklage „vor dem Angesicht der Kirche Gottes" gegen den Papst Pius IX. „als einen Häretiker und Verwüster der Kirche". Am 31. August beschlossen dagegen die deutschen Bischöfe in Fulda, sich dem Unfehlbarkeitsdogma zu unterwerfen und die gleiche Unterwerfung von ihren Beichtkindern zu verlangen. Am 3. September beanspruchte der Bischof von Paderborn von den Lehrern seiner philosophisch-theologischen Lehranstalt die Unterschrift unter das Unfehlbarkeitsdogma. Am 5. September erklärten sich wieder neun Lehrer an der Universität Breslau gegen das Dogma, und am 18. September begann die „Kölnische Zeitung" „päpstliche Verlustlisten" zu veröffentlichen, will sagen, die Namen der Katholiken, die von der päpstlichen Unfehlbarkeit nichts wissen wollten. Und so mit Grazie ins Endlose.

Jedoch wurde gleichzeitig auch ein Versuch unternommen, einen Burgfrieden im heutigen Sinne des Wortes herzustellen. Der Generalgouverneur Vogel v. Falckenstein hatte von vornherein einige Dänen und Welfen, dann am 5. September auch den Braunschweiger Ausschuss der Eisenacher Fraktion aufheben lassen, weil dieser einen Aufruf für einen Frieden mit der Französischen Republik und gegen die Annexion Elsass-Lothringens erlassen hatte. Das machte zunächst kein großes Aufsehen, denn von einzelnen Organen abgesehen, ließ sich die große Masse der bürgerlichen Presse um Dänen, Welfen und Sozialdemokraten keine grauen Haare wachsen. Aber als nun auch Johann Jacoby verhaftet wurde, weil er sich am 14. September gegen die Annexion Elsass-Lothringens ausgesprochen hatte, die beiläufig noch keineswegs als offizieller Kriegszweck verkündet worden war, machte sich doch ein lebhafter Unwille kund, und es kennzeichnet die Sachlage, dass zu diesen Unwilligen, nicht an letzter, sondern vielleicht selbst an erster Stelle Bismarck gehörte.

Als einer seiner Räte sich darüber freute, dass Falckenstein den „faulen Schwätzer eingespunden" habe, erwiderte Bismarck wütend, wenn auch nicht witzig: „Wenn er ihn als Rhinozeroskotelett gegessen hätte, meinethalben, aber ihn einsperren, da hatte er nichts als einen alten dürren Juden." Das ist erst später bekannt geworden, aber auch auf handhafter Tat bekundete Bismarck deutlich genug, dass ihm die Verhaftung Jacobys höchst unwillkommen war. Er konnte sie nicht kurzweg rückgängig machen, denn in rein militärischen Sachen hatte er trotz seiner sonstigen Macht bekanntlich „nix to seggen", und zumal damals war er mit dem militärischen Hauptquartier über den Fuß gespannt. Er musste, da er die Verhängung des Kriegszustandes über die Küstenlande verantwortlich gegengezeichnet hatte, die Verhaftung Jacobys öffentlich wohl oder übel verteidigen, aber er tat es in einer Weise, die unschwer erkennen ließ, dass er die Geschichte gern aus der Welt haben wollte.

Auf eine telegraphische Beschwerde, die die städtischen Behörden Königsbergs wegen der Verhaftung Jacobys an ihn richteten, ließ er ihnen durch den Oberpräsidenten der Provinz Preußen eröffnen, auf Grund des verhängten Kriegszustandes ließe sich die Verhaftung Jacobys nicht rechtfertigen, aber als militärische Maßregel des wirklichen Krieges sei sie statthaft. Auf dem unmittelbaren Kriegsschauplatze sei unbestritten, dass ein kämpfendes Heer, um den Kriegszweck zu erreichen, Bäume abhauen, Häuser verbrennen, in Wohnungen eindringen und Personen verhaften dürfe, die auch nur im Verdachte ständen, dem Feinde materiellen oder moralischen Vorschub zu leisten. Den Übergang zu dem Fall Jacoby fand Bismarck dann durch den Satz: „Der zugrunde liegende Rechtsgedanke ist von der Örtlichkeit unabhängig." Wenn Jacoby durch eine Rede in Königsberg nachteilig auf die Kriegführung einwirke, so dürfe er ebenso unschädlich gemacht werden wie eine verdächtige Person auf dem unmittelbaren Kriegsschauplatz. Schließlich erklärte Bismarck, dass er die Aufregung der Königsberger Behörden über die Verhaftung Jacobys begreife, aber es käme nicht auf den Eindruck an, den dessen Protest in Königsberg, sondern den er in Paris und Frankreich mache.

Es liegt auf der Hand, dass diese. Verteidigung Falckensteins die allgemeine Beunruhigung nicht besänftigen, sondern steigern musste. Abgesehen davon, dass die Annexion Elsass-Lothringens noch nicht als Kriegszweck anerkannt worden war, so war Jacobys Protest dagegen in Frankreich überhaupt erst durch das Aufsehen bekannt geworden, das seine Verhaftung gemacht hatte, und den „Eindruck", den er in Frankreich hervorgerufen hatte, fasste das offizielle Organ der französischen Regierung dahin zusammen, es sei keine Illusion darüber möglich, dass „der humanitäre Philosoph von Königsberg" jenseits des Rheins ins Leere gesprochen habe. Entbehrte also der konkrete Fall jeder tatsächlichen Grundlage, so war die Theorie des Kriegsrechts, die Bismarck aus ihm entwickelte, geradezu lebensgefährlich für jeden noch so patriotischen Deutschen. Danach konnte ein friedlicher Philister, der am Biertisch irgendeine Ansicht äußerte, die der Militärbehörde als geeignet erschien, den Kriegszweck zu gefährden, ebenso unschädlich gemacht werden wie ein französischer Spion, der in den Belagerungslinien vor Paris ergriffen wurde; Bismarcks Leiboffiziöser, der berüchtigte Busch, stellte sogar in einem Artikel den Fall Jacobys auf dieselbe Stufe mit dem Fall eines französischen Spions.

So wuchs die Aufregung über die Verhaftung Jacobys nur immer stärker an, worüber Bismarck nichts weniger als unglücklich gewesen zu sein scheint. Am grausamsten wurde sein Erlass von Otto Gildemeister, dem klugen Essayisten und klassischen Übersetzer Byrons, in der „Weserzeitung" zerzaust, aber Bismarck, empfindlich wie er sonst gegen jede Zeitungskritik war, hat das gar nicht übelgenommen. Nach Friedensschluss wurde Gildemeister von dem Bremer Senat als Bevollmächtigter in den Bundesrat entsandt, was nicht ohne Bismarcks herzliche Zustimmung geschehen konnte.

Noch eine kleine Episode zeigte, dass Bismarck seine lebensgefährliche Theorie des Kriegsrechts nicht seinen militärischen Intimen zuliebe aufgestellt hatte, sondern ganz im Gegenteil. Nach seinem Erlass beschlossen wir Berliner Jacobyten, im ganzen hundert Mann, einen feierlichen Protest gegen die Annexion Elsass-Lothringens zu erlassen, die inzwischen auch als offizieller Kriegszweck verkündet worden war. Über Berlin war der Kriegszustand nicht verhängt worden, aber nach Bismarcks Ausführungen wäre unsere Verhaftung auf Grund des Kriegszustandes ja auch unstatthaft gewesen, wohl aber war sie möglich und notwendig nach Maßgabe jenes von Bismarck verkündeten „Rechtsgedankens", der „unabhängig von der Örtlichkeit" galt, also in Berlin ebenso wie in Königsberg oder auf den französischen Schlachtfeldern. Allein unser Protest hatte nur die Wirkung, dass der Renegat Braß, die fähigste Feder der Regierung, in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" einen schnoddrigen Witz produzierte. Er sprach den hundert Protestierenden sein Bedauern aus, dass sie sich unter ihresgleichen in hoffnungsloser Minderheit befänden; nach der amtlichen Statistik beherbergten die Berliner Krankenhäuser achthundert Geisteskranke.

Weshalb war nun aber Bismarck so verdrießlich über die Verhaftung Jacobys? Dass ihm die Wahrung bürgerlicher Rechte eine besondere Herzenssache gewesen sei, haben selbst seine Bewunderer ihm noch nicht nachgesagt. In der Tat liegt die Erklärung auf einem anderen Gebiete. Bismarck fürchtete im Herbst und Winter 1870 nichts so sehr wie die Einmischung der neutralen Mächte in den Krieg und ihre freundlichen Dienstanerbietungen noch viel mehr als selbst ihre etwaigen Drohungen. Gegen beide hatte er ein probates Mittel, das er schon in seinen „dilatorischen" Verhandlungen mit Benedetti reichlich angewandt hatte: Was mich anbetrifft, von Herzen gern, aber wenn ich dieses zugebe, so schlagen mich die alten Weiber in Berlin mit ihren Besenstielen tot, oder wenn ich jenes einräume, so steht bei der Stimmung der Nation die Existenz der Dynastie auf dem Spiele. Diese Beweisführung, mochte sie im einzelnen Falle nur ein diplomatischer Schachzug oder auch mehr sein, war aber nur wirksam, wenn sich die „Nation" in ungeschmälertem Besitz der Rechte befand, die ihr gestatteten, ihren Willen kundzugeben; sie zerflatterte wie eine Seifenblase, wenn ein Burgfriede bestand, der durch eine militärische Diktatur gesichert wurde. Bismarck wusste recht gut, dass er damit keiner neutralen, geschweige denn einer feindlichen Macht imponieren würde. Deshalb tobte er über Jacobys Verhaftung und ruhte nicht eher, bis er am 24. Oktober eine Kabinettsorder erwirkt hatte, die dem Generalgouverneur der Küstenlande befahl, Jacoby und die anderen von ihm eingelochten preußischen Staatsbürger freizulassen.

Als Grund wurde angegeben, dass bei den bevorstehenden Landtagswahlen „der Äußerung politischer Meinungen und der persönlichen Beteiligung der Wahlberechtigten" kein Hindernis im Wege stehen dürfe. Diese Wahlen brachten nun eine große Überraschung; ehe noch das neudeutsche Reich gegründet war, erschien schon, gestiefelt und gespornt, eine neue Partei auf dem Kampfplatze, die ihm das Leben so sauer als möglich zu machen verhieß: nämlich das Zentrum. In stiller Wühlarbeit und auch lautem Spektakel, aber gänzlich unbekümmert um allen Burgfrieden, hatte das Zentrum auf den ersten Schlag 60 Mandate erobert und bildete im preußischen Abgeordnetenhause das Zünglein an der Waage zwischen 171 konservativen und 182 liberalen Mitgliedern.

Jedoch selbst innerhalb der einzelnen Parteien wurde nicht überall der Burgfriede gewahrt. In Berlin, wo es nur fortschrittliche Wahlmänner gab, entbrannte ein heftiger Kampf um das Mandat Johann Jacobys; auf Betreiben namentlich Eugen Richters sollte es ihm abgeknöpft werden, weniger wegen seines Protestes gegen die Annexion Elsass-Lothringens, als wegen seiner Ketzereien in der Arbeiterfrage. Man wollte den unlauteren Streich beschönigen, indem man das Mandat dem alten Ziegler anbot; der aber wies die schnöde Zumutung mit stolzen Worten zurück, und Eugen Richter musste die ganze Kläglichkeit der Machenschaft bloßstellen, indem er selbst den Henker spielte. Mit etwa fünf Sechstel der Wahlmännerstimmen wurde er gegen Jacoby gewählt. Was hat damals Ziegler geflucht und gewettert in der kleinen Weinkneipe am Moritzplatz, wo er seinen Abendschoppen zu trinken pflegte. Einen großen Teil der Schuld an dem Verfall der Fortschrittspartei schob er auf ihre Nachgiebigkeit gegen die verfassungswidrige Pressordonnanz Bismarcks; „einige Monate Diskussion unter dem Damoklesschwert verderben selbst die besten Leute", prägte er uns jungen Dachsen ein.

Acht Tage nach den preußischen Landtagswahlen, am 24. November, trat der Norddeutsche Reichstag zu seiner letzten Session zusammen. Er hatte sich vornehmlich mit drei Sachen zu beschäftigen. Zunächst mit einer neuen Kriegsanleihe, die von allen sozialdemokratischen Abgeordneten abgelehnt wurde, was einen Höllenlärm verursachte und mit dazu beitrug, dass Bebel und Liebknecht nach Schluss des Reichstags verhaftet wurden. Es geschah aber nicht auf Grund irgendeines Kriegszustandes oder Kriegsrechts, sondern in den gesetzlichen Formen einer gerichtlichen Anklage auf Hochverrat, die, wie windig sie sein mochte, doch ein gerichtliches Verfahren notwendig machte, was bekanntlich den Angeklagten zum Ruhm und ihrer Partei zum Vorteil ausgeschlagen ist.

Dann hatte der Reichstag die Verträge mit den süddeutschen Staaten zu beraten, aus denen das neudeutsche Reich hervorgehen sollte. Sie waren durchaus nicht nach liberalem Geschmack ausgefallen. Sie vermehrten die norddeutsche Bundesverfassung nicht einmal um den Schatten eines freiheitlichen Rechts, entstellten sie aber durch eine Masse partikularistisch-reaktionärer Vorbehalte. Selbst Treitschke hatte seine schweren Bedenken gegen sie und warnte seine nationalliberalen Parteigenossen, im Kriege nicht eine Unterwürfigkeit zu zeigen, die von politischer Unreife zeugen würde, nachdem sie im Frieden alles mögliche an Bismarck auszusetzen gehabt hätten. Aber die Verträge wurden genehmigt.

Endlich brachte die Fortschrittspartei durch Duncker eine Interpellation wegen der Verhaftung Jacobys ein. Im Auftrage Bismarcks erklärte Delbrück, für die etwaige Rechtsverletzung trüge der Bundeskanzler keine Verantwortung; für ihre dienstlichen Handlungen schuldeten die Militärs nur dem Könige Rechenschaft. In der Debatte sprach am besten Windthorst: „Bei den jetzigen Maßregeln der Regierung wäre es von Wichtigkeit, bei der Regelung der gegenseitigen Ländergebiete auch Cayenne zu annektieren … Gerade in Zeiten, wie den jetzigen, müssen Rechte, wie das Vereins- und Pressrecht, hochgehalten werden. Die böse Zeit ist der Probierstein derselben." Die bürgerlich-respektablen Parteien von dazumal haben sich, wie gewöhnlich, verteufelt wenig um das Unrecht gekümmert, das armen Teufeln zugefügt wurde, aber wenn einer von ihnen ohne Urteil und Recht hinter die schwedischen Gardinen gesteckt wurde, so haben sie sich ganz wacker gerührt, und das ist wenigstens etwas.

Schließlich sei noch ein Blick auf die Freiheit gestattet, die im Kriegsjahre 1870 Scherz und Satire genossen. Damals erschien in Berlin ein Witzblatt, das dem „Kladderadatsch" einige Konkurrenz machte, aber seit Jahrzehnten versunken und vergessen ist. Da ich gelegentlich jugendliche Verse hinein stiftete und der Mensch seine Sünden immer vor Augen behalten soll, um nie wieder in sie zu verfallen, so habe ich die Nummern von 1870 aus dem Strom der Zeiten gerettet und will einige Proben daraus geben zum Vergleich mit dem heutigen Witze.

Als die Kaiserdeputation des Reichstags unter Führung des Präsidenten Simson nach Versailles ging, hieß es:

Die Kaiserkrone ist unterwegs Auf Simsons Leiterwagen, -

Die Neue Ära steigt empor, Bald wird sie glänzend tagen.

Verändern wird sich manches Schild, Und die sich königlich nannten,

Sie kriegen annoch ein goldenes K, - Wie freun sich die Hoflieferanten!

Zwar ist das simple K. sehr hübsch, Doch doppelt ist's köstlich zu lesen,

Das siamesische Zwillings-K. Ist gar ein himmlisches Wesen.

Ja, Scherz beiseite! Wir werden nun, Um neuen Ruhm zu gewinnen,

Mit Gott für Kaiser und Vaterland Die neuen Kriege beginnen.

Und in einem Weihnachtsliede heißt es über die Kaiserkrone, die Verträge mit den süddeutschen Staaten, die Annexionen:

Nun sah'n die Kinder mit gewisser Scheu

Die Kaiserkrone funkelnagelneu

Hoch oben, solch ein Leuchten sah'n sie selten,

Von Golde schwer und Steinen, schwarzweißrot,

Und Perlen und Demant. Was mag das Lot,

Was mag das Pfund an neuen Steuern gelten?

Daneben wallt von jedem Tannenzweig

Ein buntes Banner, tier- und wappenreich,

Von jedem Ländchen eine Fahnenprobe.

Statt einer Trikolore gab's, mit Fleiß

Gemacht aus farbigen Flicken dutzendweis,

So was wie Papagenos Garderobe.

Fast völlig deckt dies Linnen und Kattun,

Was ihren Blicken sich wollt' zeigen nun:

Die neuen, höchst kostspieligen Provinzen,

Die Kriegsgefangnen und die Kriegstrophäen

(Oh, welche Masse! Kaum zu übersehn!)

Und der Feldmarschallstab der beiden Prinzen.

Man frug die Kinder wohl mit stolzem Ton:

Ist das nicht groß? Was sagt ihr nun davon?

Befriedigt euch, was euch dies Jahr beschieden?

Sie sprachen: Ruhm genug bracht' uns die Zeit,

Doch immer noch fehlt eine Kleinigkeit:

Ein bisschen Freiheit und ein bisschen Frieden!

Das ist recht harmlos, gewiss, aber was heute an den Stellen, wo diese bescheidenen Veilchen verdorrt sind, im Schatten des Burgfriedens wächst, ist lange nicht so ehrlich und ist auch nicht einmal so witzig.

Es mag an diesen Erinnerungen aus dem Kriegsjahre 1870 genug sein. Sie genügen schon, um zu zeigen, dass in jenem Jahre ein Burgfriede unter militärischer Diktatur von niemandem als eine Lebensfrage der nationalen Existenz betrachtet worden ist. Von den Parteien nicht, deren keine ihn gehalten, geschweige denn beansprucht hat, und auch von der Regierung nicht, deren oberstes Haupt vielmehr den ersten Anlauf dazu zertrat, in der sehr gerechten Besorgnis, dass dadurch die deutschen Interessen gegenüber den ausländischen Mächten empfindlich geschädigt werden würden.

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