Franz Mehring 19080603 Hehler und Stehler

Franz Mehring: Hehler und Stehler

3. Juni 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Zweiter Band, S. 345-349. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 396-400]

Heute ist der Tag der preußischen Urwahlen. Ihr Ergebnis kann noch nicht bekannt sein zur Zeit, wo diese Zeilen abgeschlossen sein müssen, während doch die Spannung auf ihren Ausfall zu groß ist, als dass andere Tagesfragen nicht im Hintergrund verschwänden. Wir möchten deshalb einige kritische Bemerkungen machen, die wir uns, solange die Wahlagitation währte, aus begreiflichen Gründen versagen zu sollen glaubten, aber die wir nunmehr um so weniger unterdrücken wollen, als diese Wahlen, wie immer sie ausfallen mögen, noch lange nicht den entscheidenden Kampf zwischen dem Junkertum und dem Proletariat darstellen, also die Taktik, nach der dieser Kampf zu führen ist, nach wie vor eine Frage von äußerster Wichtigkeit bleibt.

Unsere Bemerkungen richten sich gegen das „Handbuch für sozialdemokratische Landtagswähler", das unter dem Titel: Der preußische Landtag „im Auftrag des Parteivorstandes und unter Mitwirkung einer Anzahl von Parteigenossen" vom Genossen Paul Hirsch herausgegeben worden ist, und zwar besonders gegen die Einleitung, die historisch nachweisen will, dass seinem innersten Wesen nach das Deutsche Reich das Vollstreckungsorgan des feudalen preußischen Junkertums sei und im Herzen Europas das monströse Bild eines Staates biete, der wirtschaftlich auf kapitalistisch-industrieller Grundlage ruhe, aber politisch die Formen des feudalen Ackerbaustaats erhalten habe. Preußen-Deutschland besitze noch nicht die Vorbedingung eines nationalen Staates: die Herrschaft der Nation. Ein nationales Deutschland sei unmöglich; auch das neudeutsche Reich müsse zugrunde gehen wie das alte, wenn die feudalen Fesseln der preußischen Staatsgewalt nicht durch das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht gesprengt würden.

Das wird nun auf 58 Seiten näher begründet, und wir erkennen bereitwillig an, dass wir eine gleich grimmige Philippika gegen das ostelbische Junkertum kaum schon gelesen haben. Es wird schwarz in schwarz gemalt, und wenn ethische Donnerkeile töten könnten, so wäre es nunmehr mausetot. Freilich ist die Darstellung nicht so überzeugend wie beredt, nicht so beredt wie geistreich, und nicht so geistreich wie geistreichelnd. Am Ende gewinnt auch der ergriffenste Leser einen gewissen Respekt vor dieser Handvoll intellektuell versimpelter und moralisch verkommener Junker, die gleichwohl eine moderne Nation von sechzig Millionen zu vergewaltigen wissen. Der Verfasser, mag es nun Genosse Hirsch oder einer der mitwirkenden Genossen sein, merkt gar nicht, dass er das Junkertum groß, statt klein macht, indem er ihm eine persönliche Gewalt der Initiative zuschreibt, die in der Weltgeschichte beispiellos dastehen würde; er hat nicht einmal eine Ahnung davon, dass es seine Aufgabe gewesen wäre, gerade in der historischen Einleitung eines solchen Handbuchs die Klassenkämpfe aufzudecken, die einer grotesken und mittelmäßigen Klasse, wie das ostelbische Junkertum sein mag, das Spiel der Heldenrolle ermöglichen.

Doch gehen wir etwas näher auf seine Ausführungen ein! Er weiß zu erzählen, dass es dem ersten Napoleon als dem Erben der Französischen Revolution gelungen sei, Deutschland bis zur Elbe der östlichen Feudalherrschaft zu entziehen, im Rheinland „so etwas wie den Anfang Vereinigter Staaten von Europa" zu schaffen – welch geistreicher Gedanke! – und den modern bürgerlichen Rechtsstaat unter patriarchalischer Diktatur auf deutschem Boden zu begründen – auch nicht übel, König Jerôme-Morgen-Wieder-Lustik – Friedrich von Württemberg und die anderen napoleonischen Satrapen „patriarchalische Diktatoren"! Selbst das niedergeworfene, nunmehr innerhalb seiner natürlichen Kulturgrenzen eingeschlossene Preußen sei durch den Selbsterhaltungstrieb gezwungen gewesen, die feudale Herrschaft zu lockern, wenn auch die sogenannten preußischen Reformen niemals die bürgerliche Höhe der Gebiete erreicht hätten, über die die Revolution in Form der napoleonischen Herrschaft geflutet sei. Dann heißt es wörtlich weiter:

Napoleons Zusammenbruch, die abenteuerlich wahnwitzige Rettung der Fürsten und des Adels durch ihre betrogenen Untertanen stellte das Feudalwesen wieder her. Die preußische Rache, die sich national spreizte, aber das Feudalwesen wiederaufbauen wollte, sättigte sich an der Gefolgschaft Napoleons; sie verschlang das halbe Sachsen und stärkte dadurch gewaltig die Macht der Ostelbier. Während im deutschen Süden die napoleonische Saat nicht mehr ganz zerstört werden konnte, während die von Napoleon geschaffenen Fürsten sich gegen die preußisch-österreichische Gewalt sicherten, indem sie schon im zweiten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts ihre Völker durch Gewährung von Verfassungen an sich ketteten, während die Flutwelle der Julirevolution von 1830 dann auch die mitteldeutschen Staaten konstitutionell befruchtete, blieb Preußen unbewegt der Feudalstaat ostelbischer Gutsbezirke. Das Jahr 1848 sprengte für ein paar Monate die Fesseln, die um so fester dann wieder geschmiedet wurden."

Alle historischen Schiefheiten, die in diesen Zeilen zusammengebracht sind, eingehend auseinander zu klauben würde mindestens ebenso viele Seiten erfordern. Wir können nur einige Hauptpunkte berühren. Es soll das Verbrechen der Junker sein, die Vollendung des nationalen Staates zu hindern, aber es war „abenteuerlicher Wahnwitz", durch Abschüttelung der napoleonischen Fremdherrschaft auch nur den Anfang eines nationalen Staates zu ermöglichen! Sicherlich ist es gut und recht, den zwiespältigen Charakter der Kriege zu betonen, durch die Napoleon niedergeworfen wurde, wie es übrigens selbst der preußische Historiker Treitschke schon vor vierzig Jahren getan hat, aber sie als „abenteuerlich wahnwitzig" zu schildern ist ebenso sinnlos wie der Götzendienst, der in den preußischen Schulen mit diesen angeblichen „Freiheitskriegen" getrieben wird. Ein so gänzlicher Mangel an Verständnis für historische Zusammenhänge ist nicht gerade schmeichelhaft für die Partei, wenn er sich in einem Buche findet, das gewissermaßen unter ihrer offiziellen Flagge segelt.

Die „preußische Rache", die sich nur „national gespreizt" habe, soll das Feudalwesen dann wieder aufgebaut und durch die Verschlingung des „halben Sachsens" noch gewaltig gestärkt haben. Tatsächlich war der Haupterwerb des preußischen Staates nach Napoleons Fall nicht das „halbe Sachsen", sondern Westfalen und Rheinland, das heißt diejenigen deutschen Landesteile, die allein in Deutschland schon auf der Höhe der modernen bürgerlichen Gesellschaft standen, was ökonomisch und politisch ungleich mehr bedeutete als die papierenen Verfassungen der süddeutschen Staaten und die „konstitutionelle Befruchtung" der mitteldeutschen Staaten durch „die Flutwelle der Julirevolution". Freilich suchten die ostelbischen Junker die westlichen Landesteile auf die Kulturhöhe der Kassubei hinab zu drücken, aber soweit ihnen das gelang, war es die Schuld der rheinischen Bourgeoisie, deren Häupter, die Minister Camphausen und Hansemann, denn auch den Junkern wieder auf die Beine halfen, als die Berliner Barrikadenkämpfer sie niedergeworfen hatten.

Es soll nicht verkannt werden, dass im Anschluss an die oben zitierten Zeilen zwar nicht für das Jahr 1848, aber doch für die preußische Konfliktszeit von der „Unfähigkeit des Bürgertums", von seinem „bornierten Hass gegen das Proletariat" gesprochen wird und ähnliche Äußerungen noch sonst ein paarmal wiederkehren. Aber das geschieht immer nur gelegentlich, und namentlich ohne daraus die Konsequenz zu ziehen, dass die Junkerklasse von Gnaden der Bourgeoisie herrscht. So gehört es denn auch zu jenen Geistreicheleien, bei denen jedes historische Verständnis aufhört, wenn das Werk angestaunt wird, „dessen Gelingen auch der kühnste Junker 1848 für unmöglich hielt: das Zentralparlament selbst in eine Ständekammer zu verwandeln". Im preußischen Landtag habe das Junkertum sein Ideal vollständig verwirklicht; kraft des Dreiklassenwahlrechtes habe es sich eine ständische Organisation geschaffen usw. Tatsächlich ist die Dreiklassenwahl in all ihrer Gräulichkeit insofern ein modernes Wahlrecht, als sie das Wahlrecht der Bourgeoisie ist; selbst die schwächlichen Anstrengungen dieser Klasse in den preußischen Konfliktsjahren genügten, um ihr eine überwältigende Mehrheit im preußischen Abgeordnetenhaus zu sichern, die die Junker selbst heute noch nicht entfernt erreicht haben. Bis zu einem gewissen Grade ist der Vorsprung der Bourgeoisie allerdings dadurch ausgeglichen, dass die ländlichen Wahlkreise durch die Verschiebungen der Bevölkerung nach und nach ein verhältnismäßiges oder unverhältnismäßiges Übergewicht erlangt haben, aber der plutokratische Charakter der Dreiklassenwahl ist damit nicht aufgehoben, und sowenig wir Bismarck für ein übermenschliches Genie halten, so halten wir ihn auch nicht für so kurzsichtig, dass er nicht gewusst hätte, was er tat, als er, solange er die Bourgeoisie nicht völlig in der Tasche hatte, es lieber noch mit dem allgemeinen Wahlrecht riskieren wollte als mit der Dreiklassenwahl.

Ein ebenso beklagenswertes Opfer des Junkertums wie die Bourgeoisie sind nach unserem Verfasser die Regierungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten! Sie wagen nur selten einen Widerstand gegen die Gelüste der preußischen Junker. „Die Moskauer Rede des Prinzen Ludwig von Bayern am 5. Juni 1896 blieb ein Einzelfall, der aber allgemein gehegte Gefühle bekundete." In dieser Rede verwahrte sich Prinz Ludwig dagegen, dass die deutschen Fürsten „Vasallen" des deutschen Kaisers seien, sie seien vielmehr dessen „Verbündete". Wir müssen nun zu unserer Schande gestehen, dass wir für unser Teil von den „allgemein gehegten Gefühlen" aber auch nichts empfunden haben. Nachdem die bayerische Regierung die ihr bei den Versailler Verhandlungen gebotene Gelegenheit, die künftige Reichsverfassung liberaler zu gestalten, dazu benutzte, sie noch reaktionärer zu verunstalten, als es schon die preußischen Junker getan hatten, und nachdem dieselbe bayerische Regierung ein Vierteljahrhundert jedes reaktionäre Reichsgesetz, das die preußischen Junker planten, unweigerlich unterstützt hat, bringen wir es gegenüber der Frage, ob Prinz Ludwig von Bayern ein „Vasall" oder ein „Verbündeter" des deutschen Kaisers ist, zu keinem Gefühl, es sei denn zu einem Gefühl der vollkommensten Wurstigkeit.

Im Übrigen, wenn die Dreiklassenwahl die Bourgeoisie nicht hindert, den Junkern die Zähne zu weisen, so die Reichsverfassung nicht die deutschen Fürsten. Das erkennt auch unser Verfasser an, aber er meint: Wehe ihnen, wenn sie einen solchen Versuch machen würden, dann kämen die Junker über sie. Das ist freilich auch ein Argument, aber wir fürchten, dass die Gefühle, die es auslöst, eher den Junkern zugute kommen werden als ihren Opfern.

Was die sozialdemokratischen Wähler, für die das Handbuch bestimmt ist, mit all diesen wehleidigen und weinerlichen Betrachtungen anfangen sollen, ist uns nicht klar. Malt man einen gefährlichen Gegner recht schwarz, um den Angriff gegen ihn zu beleben, so mag dieser Zweck für den Augenblick erreicht werden, aber wenn es auf Kosten der historischen Wahrheit, unter Verschweigung der historischen Zusammenhänge geschieht, in denen die Gefährlichkeit des Gegners wurzelt, so tritt bald ein bedenklicher Rückschlag ein, eine Enttäuschung, die nicht sobald wieder gehoben werden kann.

Es gab eine Zeit, wo Eugen Richter die seltsame Ansicht vertrat, die Regierung brauche nur zu blasen, und die Junkerklasse würde im Nu von der Bildfläche verschwinden, eine Ansicht, die selbst in den Parteikreisen mitunter laut wurde. Heute ist man geneigt, in das entgegengesetzte Extrem zu fallen und vom Sturze des Junkertums die „Herrschaft der Nation" im nationalen Staate zu erwarten. Das ist ebenfalls eine Utopie, denn die Macht des Junkertums wurzelt heutzutage darin, dass es von allen herrschenden Klassen der Nation als Prätorianertruppe gegen die Masse der Nation gehätschelt und gehegt wird. Schont man die Hehler, so kommt man dem Stehler nicht an den Leib, auch nicht, wenn man ihn als Teufel an die Wand malt.

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