Franz Mehring 19020625 Les rois s'en vont

Franz Mehring: Les rois s'en vont

25. Juni 1902

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 385-387. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 368-371]

Als König Friedrich August von Sachsen im Jahre 1827 starb, erwartete man im Volke wie am Hofe allgemein, seine beiden greisen Brüder würden so viel Selbsterkenntnis haben, zugunsten des jungen rüstigen Prinzen Friedrich August auf die Krone zu verzichten. Aber König Anton ließ sich sein Recht nicht nehmen … Der neue König war der Geschäfte unkundig, da man ihn einst für den geistlichen Stand erzogen hatte, und so unbedeutend, dass ihn selbst die Dresdener Ehrfurcht nur mit dem Beinamen des Gütigen zu schmücken wusste."

Diese Sätze aus Treitschkes „Deutscher Geschichte" drängen sich unwillkürlich der Erinnerung auf durch den Thronwechsel, der sich eben wieder im Königreich Sachsen vollzogen hat. Anscheinend ist es ein ganz gleicher Vorgang. Der König Georg steht zwar nicht schon, wie seinerzeit König Anton, im zweiundsiebzigsten, aber doch im siebzigsten Lebensjahr; auch ist er nicht für den geistlichen, sondern für den militärischen Stand erzogen worden. Diese kleinen Unterschiede fallen aber um so weniger ins Gewicht, als der älteste Sohn des jetzigen Königs Georg, der angeblich wegen zu großer Jugend noch nicht den Thron seiner Väter besteigen soll, schon achtunddreißig Jahre hinter sich hat, während der älteste Sohn des Königs Anton im Jahre 1827 erst dreißig Jahre zählte; ferner hatte König Anton niemals formell auf die Thronfolge verzichtet, was der gegenwärtige König Georg vor mehreren Jahren schon bereits getan hat. Aber wenn man diese kleinen Differenzen gegeneinander aufwiegt, darf man wohl sagen, dass der neueste Thronwechsel im Königreich Sachsen sich unter gleichen Umständen vollzieht wie der Thronwechsel im Jahre 1827.

Nur eins ist grundverschieden zwischen heute und damals, und ebendieser Punkt ist es, um dessentwillen wir ein für die historische Entwicklung sonst so gleichgültiges Ereignis, wie den sächsischen Thronwechsel, an dieser Stelle erwähnen. Wie Treitschke richtig andeutet, herrschte im Jahre 1827 ein allgemeines Befremden darüber, dass ein siebzigjähriger Mann die schwere Verantwortlichkeit eines Herrscheramtes auf sich nahm, und selbst die Dresdener, die wegen ihrer alleruntertänigsten Anhänglichkeit an das angestammte Herrscherhaus selbst unter den deutschen Residenzen einen sprichwörtlichen Ruf genossen, wagten den neuen König nur mit dem farblosen Beinamen des Gütigen zu schmücken. Das ist heute ganz anders. Von einem „allgemeinen" Befremden ist schlechterdings keine Rede; der übergroßen Mehrheit der sächsischen Bevölkerung ist der Thronwechsel überhaupt vollkommen gleichgültig, während eine kleine Minderheit mit dem freilich tönenden Sprachrohr der bürgerlichen Presse den neuen König als eine riesige Heldengestalt, als den Inbegriff aller Herrschertugenden feiert, so dass man, wenn es mit diesen Posaunenstößen sonst seine Richtigkeit hätte, nur lebhaft den allzu späten Termin der Thronbesteigung eines so hervorragend für das monarchische Handwerk begabten Mannes beklagen könnte.

Der Unterschied ist lehrreich für alle diejenigen, die sich darum sorgen, dass im Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die moralische Gewalt wieder ein so großes Übergewicht hat, während es um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts allgemein hieß: Les rois s'en vont, die Könige gehen. Die sächsische Bevölkerung erschien im Jahre 1827 respektloser gegen das Königtum, indem sie sich darüber skandalisierte, dass ein König, der mit zweiundsiebzig Jahren allerdings noch ebenso von Gottes Gnaden war, als wenn er siebenundzwanzig Jahre gezählt hätte, überhaupt den Thron bestieg. Sie erschien respektloser, als sie heute erscheint, wo im gleichen Falle die große Mehrheit der sächsischen Bevölkerung sich deshalb nicht das kleinste graue Haar wachsen lässt, ihre Minderheit sogar das innigste Entzücken und die ungestümste Begeisterung darüber bekundet, einen siebzigjährigen König zu haben.

In der Tat ist nun leicht einzusehen, dass die Sache gerade umgekehrt liegt. Im Jahre 1827 herrschte in den Massen noch der Glaube an die Monarchie; man hielt sie für eine notwendige Funktion im Völkerleben, man schrieb ihr segensreiche und wohltätige Wirkungen zu; deshalb reagierten die Massen lebhaft, wenn die monarchische Gewalt in die Hände eines Mannes geriet, der nach den allgemeingültigen Gesetzen der menschlichen Natur sie nicht mehr wirksam ausüben konnte. Es war ein ganz begreifliches und natürliches, gerade aus Achtung vor der Monarchie entsprungenes Gefühl, wenn die Bevölkerung sich sagte, dass in einem Lebensalter, wo selbst den Trägern der geringfügigsten staatlichen Funktionen die wohlverdiente Ruhe gegönnt zu werden pflegt, die denkbar wichtigsten Aufgaben der obrigkeitlichen Gewalt nicht mehr richtig gehandhabt werden könnten. Das „allgemeine" Murren, das die sächsische Bevölkerung im Jahre 1827 über die Thronbesteigung des Königs Anton hören ließ, war eine unendlich viel ehrlichere Huldigung an die Monarchie als die lärmendsten Jubelschreie, die heute von der bürgerlichen Presse im Königreich Sachsen über die Thronbesteigung des Königs Georg ausgestoßen werden, geschweige denn als die absolute Gleichgültigkeit, womit das sächsische Proletariat der Frage gegenübersteht, ob König Georg oder König Friedrich August auf dem sächsischen Throne sitzt.

Die Volksmassen hatten damals noch den Glauben an die Monarchie, während dieser Glaube heute vollständig ausgerottet ist. Er hängt damit zusammen, obgleich es scheinbar wiederum ein krasser Widerspruch ist, dass die Majestätsbeleidigungen in der heutigen Hypertrophie der monarchischen Gewalt viel grausamer verfolgt werden als in der alten Zeit; man sollte denken, je vernünftiger die Monarchie sei, um so gleichgültiger könne sie dagegen sein, ob ihren jeweiligen Trägern in Schrift und Wort einmal zu nahe getreten würde. In Wirklichkeit ist dem auch so; zur Zeit, wo die Völker noch den Glauben an die Monarchie hatten, wo sich die Monarchie in diesem Glauben sicher fühlte, kam es ihr auf einen gelegentlichen Puff nicht viel an; ja, sie förderte wohl selbst eine Legendenbildung, bei der sie keineswegs immer die obsiegende Rolle spielte, sondern sich vom Volkswitz derb abtrumpfen ließ oder sich mit der Tatsache abfand, dass sie der Gegenstand von Pasquillen sei. Man denke nur an die zahllosen Schnurren über den alten Fritz, über den angeblichen Müller von Sanssouci, der den König mit dem Kammergericht ins Bockshorn jagte, oder an die Schmähschriften, die der König angeblich niedriger hängen ließ, damit sie bequemer gelesen würden. In diesen Schnurren steckt oft ein ganz gesunder Mutterwitz, was eben auch dafür zeugt, dass sie die Produkte einer monarchischen Gesinnung sind, die einmal wirklich in den Massen gelebt hat. Damit vergleiche man einerseits die raffinierte, selbst nicht einmal in den Zeiten des römischen Kaiserreichs dagewesene Verfolgung, die jede derb-volksmäßige, oft genug gar nicht böse gemeinte Äußerung über irgendeine Majestät im Deutschen Reiche erfährt, andererseits die unendliche, auf keinem Gebiet der Literatur in ähnlicher Weise existierende Albernheit jener Anekdötlein, die von der gutgesinnten Presse erfunden werden, um die „Leutseligkeit" der „hohen Herrschaften" zu beweisen.

Wenn gleichwohl die monarchische Gewalt heutzutage viel mächtiger erscheint als vor fünfzig oder achtzig Jahren, so haben wir die Ursachen davon schon früher an dieser Stelle nachgewiesen. Die Monarchie ist durch die modernen Klassenkämpfe entwurzelt und zu ihrem Spielball geworden; sie ist mächtig, jawohl, aber nicht mehr als eine Macht von historischer Selbständigkeit, sondern weil sie eine Waffe der besitzenden Klassen gegen die arbeitenden Klassen geworden ist. Das zeigt gerade bis ins Kleinste hinein der sächsische Thronwechsel. Als das eigenste Recht der Monarchie, als dasjenige Recht, das sie aus ihrer souveränen Machtvollkommenheit schöpft, und gerade um die durch den Klassengegensatz verursachten Ungleichheiten auszugleichen, hat von jeher das Recht der Begnadigung gegolten. Man mag es auch als eine menschliche Regung verstehen und würdigen, wenn der verstorbene König von Sachsen auf seinem Totenbett von diesem Rechte einen reichlichen Gebrauch gemacht hat, aber vergessen hat er dabei nicht die Schranken seiner Macht; die letzten Opfer des Löbtauer Urteils1, des furchtbarsten und ungerechtesten Spruches, den die sächsische Justiz unter seiner Regierung gefällt hat, sind auch von dem sterbenden König nicht begnadigt worden.

So bleibt es für die moderne Arbeiterklasse bei dem alten Worte: Les rois s'en vont. Ja, für sie gehen die Könige nicht nur, sondern sind sie längst gegangen.

1 Im Februar 1899 wurden in Löbtau bei Dresden neun Bauarbeiter zu insgesamt 61 Jahren Zuchthaus und Gefängnis verurteilt, weil sie dagegen protestiert hatten, dass auf einem Nachbarbau über die festgesetzte Arbeitszeit hinaus gearbeitet wurde. Hierbei war es zu Tätlichkeiten gekommen, als der Bauleiter mit einem blindgeladenen Revolver geschossen hatte.

Kommentare