Franz Mehring 19040713 Literarische Rundschau (Zur Vorgeschichte des Krieges von 1870/71)

Franz Mehring: Literarische Rundschau (Zur Vorgeschichte des Krieges von 1870/71)

13. Juli 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Zweiter Band, S. 507-512. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 230-238]

Ottokar Lorenz, Kaiser Wilhelm und die Begründung des Reiches 1866/1871. Nach Schriften und Mitteilungen beteiligter Staatsmänner. Jena 1902, Verlag von Gustav Fischer. 634 Seiten.

Oskar Klein-Hattingen, Bismarck und seine Welt. Grundlegung einer psychologischen Biographie. Erster Band: von 1815 bis 1871. Berlin 1902, Ferdinand Dümmlers Verlagsbuchhandlung. 709 Seiten.

Hans Delbrück, Erinnerungen, Aufsätze und Reden. Berlin 1902, Verlag von Georg Stilke. 625 Seiten. Preis 3 Mark.

Die drei dicken Bände, so verschieden sie sonst nach Inhalt und Wert sind, haben das Gemeinsame, dass sie die beiden härtesten Nüsse der patriotischen Reichshistorie zu knacken suchen: das Verhältnis Bismarcks zu dem ersten deutschen Kaiser und die spanische Thronkandidatur des hohenzollernschen Prinzen als Ursache des Deutsch-Französischen Krieges. Lorenz vertritt die streng offizielle Auffassung, dass Kaiser Wilhelm der eigentliche Macher, der Große gewesen ist. Klein-Hattingen weist im Gegenteil nach, dass Wilhelm I. ein durchaus beschränkter und eigensinniger Kopf gewesen sei, mit dem Bismarck unendliche Mühe gehabt habe; er schildert in manchmal sehr ergötzlicher Weise, wie Bismarck seinen Willen dem widerstrebenden Kaiser suggeriert habe, bis diesem dann der Wille Bismarcks auf inbrünstiges Beten in schlaflosen Nächten als Wink vom lieben Gott aufgegangen sei; Delbrück endlich meint, dass Wilhelm neben seinem ungeheuren Minister und seinem genialen Feldherrn doch die königliche Würde behauptet habe. Eigentlich sei die Sache so natürlich und einfach, dass man meinen könnte, sie müsse sich auch mit allen Einzelheiten erzählen lassen. „Aber der Parteigeist und die Torheit des Publikums entbehren des historischen Sinnes; sie haben ihn nicht oder wollen ihn nicht haben. Man mag sie deshalb verachten, aber es sind Mächte, mit denen man rechnen muss." Die konkreten Einzelheiten über das Verhältnis zwischen Bismarck und Wilhelm würden, vor aller Welt ausgebreitet, tausend Missbräuche und Missdeutungen veranlassen. Und im Sinne der patriotischen Historie ist das allerdings sehr wahrscheinlich.

Wer sich von patriotischen Beklemmungen frei weiß, wird sich über diese Frage nicht länger den Kopf zerbrechen. Einen Teil seiner Sünden hat Bismarck schon auf Erden abgebüßt durch die furchtbare Qual, einen ungewöhnlich dürftigen Geist und zugleich halsstarrigen und unentschlossenen Charakter, unter dessen Befehlen er stand, in den Trott seiner verschlagenen und verwickelten Politik zwingen zu müssen. Mit der Zeit hat er es darin zu einer Art diabolischer Meisterschaft gebracht, die dann auch wohl einmal von der lieben Einfalt beschämt wurde. Klein-Hattingen schildert das recht hübsch.

Nicht ganz so einfach liegt die Frage nach dem Ursprung des Deutsch-Französischen Krieges. Lorenz vertritt auch hier die offizielle Tradition, mit der im Sommer 1870 die braven Untertanen begeistert wurden; „König Wilhelm saß ganz heiter" oder, wie es in einem anderen Leierkastenliede heißt, mit dem Treitschke die deutsche Literatur bereichert hat: „Aber horch! Der freche Franke Neidet unser Glück und schnaubt Und verhöhnt in rohem Zanke Unsres Königs greises Haupt." Klein-Hattingen setzt in eingehender Weise auseinander, wie recht Bucher, der damals Bismarcks vertrautester Ratgeber war, mit seiner wiederholten Behauptung gehabt hat, dass Bonaparte mit der spanischen Thronkandidatur habe in eine Falle gelockt werden sollen. Delbrück seinerseits erkennt unumwunden an, dass die spanische Thronkandidatur ein von langer Hand angelegtes Werk Bismarcks gewesen sei, aber er meint, sie spiele sich auf dem Hintergrunde des französisch-österreichisch-italienischen Schutz- und Trutzbündnisses ab, das Bonaparte zu gleicher Zeit betrieben habe.

Das ist in gewissem Sinne ganz richtig, wenn Delbrück die Verhandlungen über dies Bündnis in ihrer tatsächlichen Bedeutung auch viel ernsthafter nimmt, als sie gewesen sind. An dem guten Willen Bonapartes wie Beusts, wenn möglich Bismarck wieder unterzukriegen, besteht sicherlich kein Zweifel. Es fragt sich nur, ob Bismarck das fromme Lamm der patriotischen Legende gewesen ist, das kein Wässerlein trübte. Hätte er sich nur, gegenüber den Werbungen Bonapartes um Allianzen, auch seinerseits nach Bundesgenossen umgesehen, so hätte ihm kein Mensch daraus einen Vorwurf machen können, und es wäre dann nicht abzusehen, weshalb seine Anstiftung der spanischen Thronkandidatur, die von französischer Seite immer behauptet wurde, ein Vierteljahrhundert lang von deutscher Seite wider besseres Wissen bestritten worden ist, bis der König von Rumänien in seinen „Denkwürdigkeiten" das große Staatsgeheimnis ausplauderte. Danach muss die Sache wohl anders liegen, und sie lag auch wirklich anders.

Zuerst ist der Plan, einen hohenzollernschen Prinzen auf den spanischen Thron zu setzen, von einem spanischen Staatsrat ausgesprochen worden bei der tragikomischen Königssuche nach der spanischen Revolution von 18681. Gleich auf das erste Gerücht hin hat aber der französische Botschafter bei Bismarck dagegen protestiert, nicht in irgendeiner herausfordernden Weise, sondern mit derjenigen Reserve, die in solchen Fällen diplomatisches Herkommen ist. Das geschah bereits im März und Mai 1869. Von nun an betrieb Bismarck die Kandidatur, obgleich weder der König noch die hohenzollernsche Fürstenfamilie irgendwelche Lust hatten, sich auf das Abenteuer einzulassen. Da die Gründe, weshalb ein Vorteil für Deutschland daraus entspringen sollte, dass ein deutscher Prinz die Königspuppe in den Händen der spanischen Fraktionen spielte, gar zu fadenscheinig waren, suchte Bismarck den dynastischen Ehrgeiz Wilhelms zu reizen; dem etwaigen Einwande aber, dass, selbst wenn dieser oder jener geringfügige Vorteil für die deutschen Interessen dabei abfiele, um solchen nebensächlichen Gewinns willen der Zusammenstoß mit Frankreich doch zu teuer erkauft sein würde, begegnete er mit der Ausführung, dass die Kandidatur des Erbprinzen von Hohenzollern für Frankreich von „wesentlichem Werte" sei. Nämlich – wenn der Erbprinz nicht als König nach Spanien ginge, würden die spanischen Republikaner Oberwasser bekommen, durch sie aber auch die französischen, von denen dann Bonaparte leicht zum Kriege gedrängt werden könne. „Für alle Gefahren von Seiten Frankreichs würde die öffentliche Meinung in Deutschland diejenigen verantwortlich machen, von denen die Ablehnung (der hohenzollernschen Kandidatur) ausgegangen wäre." Damit suchte derselbe Bismarck, der schon seit März und Mai 1869 den Protest Bonapartes gegen die hohenzollernsche Kandidatur in der Tasche hatte, in einem Immediatbericht vom Februar 1870 den alten Wilhelm für diese Kandidatur zu gewinnen. Man mag lange nach einem Hausmeier suchen, der mit seinem ihm von Gott gesetzten Herrscher so – unbefangen umgesprungen wäre.

Für die Bewunderer Bismarcks ist das aber noch nicht einmal das Schlimmste; ein staatsmännisches Genie muss am Ende solche Streiche machen, wenn der liebe Gott sich in der Wahl seines Monarchen von Gottes Gnaden nicht genügend vorgesehen hat. Aber sie fragen nicht mit Unrecht: Wo steckt denn eigentlich das Genie bei der Falle, die Bismarck-Bucher ihrem Badinguet stellten? Das Recht Frankreichs, bei der Wahl eines spanischen Thronkandidaten vorher begrüßt zu werden, war nach seiner Lage, seiner Geschichte, nach den Überlieferungen der europäischen Diplomatie so unbestreitbar, dass Delbrück ganz richtig meint, der natürliche Lauf der Dinge sei doch nur gewesen, dass auf den Protest der Franzosen die Kandidatur hätte zurückgezogen werden müssen, dass also die Sache mit einem Erfolg Bonapartes und einer Niederlage Bismarcks geendet hätte, der wie der Fuchs vom Hühnerstall hätte abziehen müssen. Delbrück findet nun aber doch die Meisterschaft Bismarcks darin, dass er sich im Voraus den Rücken gedeckt habe, indem er die Sache nicht als königlich-preußische Staatsaffäre, sondern als hohenzollernsche Familiensache betrieben habe. Sobald die Sache brenzlig wurde, hätte Bismarck den Erbprinzen von Hohenzollern, den er sozusagen mit Haaren in die Kandidatur geschleift hatte, einfach aufsitzen lassen; unter einhelligem Beifall im ganzen deutschen Volke würde er dann erklärt haben: „Was kümmert die deutsche Nation oder den Staat Preußen der dynastische Ehrgeiz des hohenzollernschen Fürstenhauses, das vor mehr als sechshundert Jahren, zur Zeit der Hohenstaufenkaiser, mit der in Preußen regierenden Familie einen Stamm gebildet hatte?" Das mag in der Tat wohl die Bismarck-Buchersche Rechnung gewesen sein, aber man muss gestehen, dass die ganze Intrige dadurch weder anmutiger noch genialer wird. Denn der „einhellige Beifall" der deutschen Philister wäre lange noch nicht der Beifall Europas gewesen, und zudem fiel die ganze Kulisse mit der hohenzollernschen Familiensache beim ersten Stoße um.

Durch einen Zufall explodierte die von Bismarck gelegte Mine früher oder doch anders, als sie explodieren sollte. Wenn die Sache gelingen sollte, musste möglichst schnell eine vollendete Tatsache geschaffen werden, also der Annahme der Kandidatur durch den Erbprinzen seine Wahl durch die Cortes auf dem Fuße folgen. Aber als der Erbprinz annahm, waren die Cortes gerade auseinander gegangen, und ehe sie wieder zusammentreten konnten, musste sich der Widerstand gegen die hohenzollernsche Kandidatur geltend machen. Er machte sich in der Tat in ganz Europa geltend, und am stärksten begreiflicherweise in Paris. Der französische Botschafter Benedetti wurde nach Ems dirigiert, wo sich Wilhelm befand, während Bismarck in Varzin war. Auf die erste Frage Benedettis fiel nun die von Bismarck sorgsam aufgerichtete Kulisse um; Wilhelm wies nicht als Chef des Gesamthauses Hohenzollern den Franzosen ab, wie er nach Bismarcks Absicht sollte, ließ sich vielmehr mit ihm als König von Preußen in Unterhandlungen ein, gestand, dass Bismarck um die Kandidatur gewusst habe, erklärte sich mit einem etwaigen Verzicht des Erbprinzen einverstanden, genehmigte diesen Verzicht auch, als er sofort eintraf, und machte erst Späne, als Benedetti einen Verzicht nicht nur für dieses Mal, sondern für immer verlangte. Genug, „Serenissimus wollte kneifen", wie Bismarck noch nach langen Jahren in ungestillter Wut sagte. In der Tat stand er vor einer ungeheuren Blamage, und es ist bekannt, wie er sich im letzten Augenblick rettete durch die Fälschung der Emser Depesche2, durch die ihm über die Verhandlungen Wilhelms mit Benedetti berichtet wurde.

Seitdem die Enthüllungen über Bismarcks entscheidenden Anteil an der spanischen Thronkandidatur erfolgt sind, erscheint die Fälschung der Emser Depesche in etwas anderem Lichte, als worin sie Liebknecht seinerzeit sah. Sie war nicht sowohl ein „moralisches Verbrechen", das Bismarck aus freier Faust beging, als der letzte Ausweg aus einer Sackgasse, in die seine weder anmutige noch geniale Diplomatie geraten war. Über Liebknechts Wort vom „moralischen Verbrechen" sagt Klein-Hattingen so taktvoll wie treffend: „Ein Urteil, das auf dem Standpunkt dieses edlen Sozialisten vollkommen haltbar erscheint, aber in Wahrheit nur eine schwerwiegende Anklage nicht gegen einen einzelnen, sondern gegen eine gesellschaftliche Organisation bedeutet, welche Handlungen einzelner zulässt, die für die Allgemeinheit die ungeheuerlichsten Folgen haben können."

Diese Auffassung führt aber auch noch zu anderen Konsequenzen, die weder von Klein-Hattingen, noch von Lorenz oder Delbrück gezogen werden. Wenn wir nicht irren, war es Engels, der einmal sagte, der Deutsch-Französische Krieg habe entstehen müssen, da der europäische Kontinent für zwei Bonapartes zu klein gewesen sei.3 Von diesem Gesichtspunkt aus kann man den Bewunderern Bismarcks die Argumentation zugeben: Da Bismarck sich jeden Streiches von Bonaparte gewärtigen musste, so kann man ihm nicht übelnehmen, wenn er vor keinem Streiche zurückscheute, womit er Bonaparte schädigen zu können glaubte. Insofern mag man dann sagen, dass sich Bismarcks Umtriebe auf dem Hintergrunde von Bonapartes Umtrieben abgespielt hätten. Dabei ginge dann nur Bismarcks legendärer Ruhm als des frommen und friedliebenden Lammes verloren, das von dem bösen Wolfe unaufhörlich gereizt worden sei.

In der Tat liegt die Sache aber doch noch anders. Solange die zwei Bonapartes nebeneinander bestanden, war der Krieg unvermeidlich, aber der eine Bonaparte lag schon in der Agonie, als der andere mit jedem Mittel auf den Krieg drängte. Mit dem Jahre 1870 war das Zweite Kaiserreich durch seine „konstitutionelle Ära" an den Anfang vom Ende gelangt; jedermann in Europa wusste, dass sein Sturz nur noch die Frage einer sehr absehbaren Zeit sei. Bis dahin die kriegerische Auseinandersetzung zu verschieben war für Bismarck die einfachste Sache von der Welt; er brauchte seinen Nebenbuhler an der Seine nur ruhig den Abhang hinunterrollen lassen. Bonaparte, dem beiläufig fünf der erfahrensten Ärzte von Paris im Sommer 1870 sozusagen ein Todesurteil mit beschränkter Frist ausgestellt hatten, scheute den Krieg wie die Pest und ebenso seine Frau.* In Frankreich trieb tatsächlich niemand zum Kriege als jene schon von Marx in seinem Achtzehnten Brumaire4 gebrandmarkte Dezemberbande, die sich damals nach ihrem Klub in der Arkadenstraße die Arkadier nannte. Sie sah ihren Sturz vor Augen und schürte den Krieg mit der verzweifelten Frechheit eines Lumpenproletariats, das eine Welt in Brand steckt, um sich vielleicht doch noch für eine Weile zu retten. Als Bismarcks Kriegsspiel mit dem Verzicht des Erbprinzen verloren war, überspannte die Dezemberbande den Bogen mit der Forderung, dass Wilhelm sich verpflichten solle, diesen Verzicht für alle Zukunft zu bestätigen, und als Bismarcks Emser Depesche zunächst noch nicht die beabsichtigte Wirkung hatte – der französische Kronrat hat am 14. Juli bei voller Kenntnis dieser Depesche noch einmal den Frieden beschlossen –, erfand sie neue Lügen über die preußische Mobilmachung und das Heranrücken der deutschen Truppen an die französische Grenze, um in der Nacht dieses Tages endlich den Kriegsbeschluss durchzusetzen. An der Hand eines reichhaltigen Quellenmaterials lassen sich jetzt die damaligen Vorgänge in Paris von Stunde zu Stunde verfolgen, lässt sich Punkt für Punkt feststellen, dass die Dezemberbande allein zum Kriege trieb und dass sie nur durch die gänzliche Desorganisation des Zweiten Kaiserreichs das Heft in die Hand bekam.

Von hier aus fällt erst das erschöpfende Licht auf die Frage, weshalb Bismarck den Krieg wünschte und für die Erfüllung dieses Wunsches selbst so zweischneidige Mittel nicht verschmähte, wie die spanische Thronkandidatur des hohenzollernschen Prinzen war. Bismarck wusste, dass es mit dem Zweiten Kaiserreich unaufhaltsam zu Ende ging, jedoch es war das wenigste, dass er deshalb auf einen sicheren Sieg rechnen und auch erwarten konnte, dass die verzweifelte Dezemberbande sogar in eine so plumpe Falle wie die spanische Thronkandidatur tappen würde. Entscheidend für ihn war, wie er es später selbst ausgesprochen hat, dass „wir die Achtung der Süddeutschen nimmer gewinnen konnten, wenn wir ihnen nicht zeigten, dass wir die Franzosen schlagen könnten" und dass „die deutsche Einheit nur durch den gemeinsamen Krieg zu gewinnen war". Mit anderen Worten, dass die Verpreußung Deutschlands durch das ostelbische Junkertum nur möglich war durch einen Krieg gegen das Zweite Kaiserreich. Stürzte Bonaparte, so war die bürgerliche Republik seine Erbin, und dann war die deutsche Einheit ohne einen Krieg mit Frankreich zu haben; sie hätte sich auch ohne solchen Krieg vollzogen, jedoch in Formen und auf Wegen, die der Vorherrschaft des preußischen Junkertums über Deutschland ein für allemal ein Ende gemacht hätten. Dieselben Beweggründe, durch die Bismarck veranlasst wurde, den Krieg nach Sedan fortzuführen, obgleich er den Frieden mit der Republik haben konnte, haben ihn schon geleitet, als er die spanische Thronkandidatur betrieb. Preußisches Junkertum und französische Dezemberbande – das sind die Schuldigen des Deutsch-Französischen Krieges, seine Leidtragenden aber waren die deutsche und die französische Nation, mit dem Unterschied jedoch, dass die eine wenigstens ihre Dezemberbande loswurde, die andere aber das Joch ihres Junkertums desto tiefer in den Nacken gedrückt erhielt.

Um nun auf die drei Bücher zurückzukommen, die uns zu diesen Ausführungen veranlasst haben, so ist das Werk des Professors Lorenz eine unbeabsichtigte Satire auf den Begriff einer historischen Arbeit. Herr Lorenz, der zwanzig Jahre lang die literarischen Giftmischereien des Herzogs Ernst von Coburg-Gotha besorgt hat, schreibt jetzt unter dem Diktat des Großherzogs von Baden und einiger noch kleinerer Fürsten; er will den alten Wilhelm als einen Großen vom Schlage der Cäsar und Alexander nachweisen, mit einer Ehrfurcht, die dem Herzen eines Schwiegersohnes alle Ehre macht, aber sonst keine Ansprüche erheben kann. Von einigem Interesse sind etwa die Intimitäten, die Herr Lorenz aus dem Fürstenverkehr im Versailler Kriegswinter beibringt; sie sind ein ganz wirksames Medizinmittel zum Abgewöhnen monarchischer Gesinnung, aber wir fürchten, dass selbst diese erfreuliche Wirkung nicht von dem Buche zu erwarten steht. Es ist schwer, sich durch die dicke Scharteke durchzuarbeiten, zumal da ihrer öden Untertanengesinnung ein ebenso öder Untertanenstil entspricht, der dem Leser schwer auf die Nerven fällt, obgleich, wie Herr Lorenz versichert, „kein Geringerer" als der Berliner Literarhistoriker Erich Schmidt „eine große Zahl von Verbesserungen nach jeder Richtung hin" angebracht hat.

Ein Werk von ganz anderem Schlage ist Klein-Hattingens Buch; es erscheint wie ein grüner, etwas wild gewachsener Fleck in der sonst recht grauen Literatur über Bismarck. Der Verfasser steht durchaus auf bürgerlichem Boden, und im einzelnen hätten wir viel an seiner historischen Würdigung Bismarcks auszusetzen; sein Urteil geht manchmal mehr in die Breite als in die Tiefe; er treibt Historie in einem gewissen Naturburschenstil, der das eine Mal zu burschikos, das andere Mal dann auch wieder zu hausbacken wird. Aber nach all dem methodischen Unsinn, der über Bismarck zusammenkonstruiert worden ist und noch immer wird, erfreut man sich gern an dem gesunden Menschenverstand, wenn er auch ohne alle Methode ist, ja nicht einmal die methodischen Gewänder sieht, womit Bismarck bekleidet worden ist, und mit der naiven Ehrlichkeit des Kindes im Märchen ruft: Der König geht ja nackt. Alles in allem ein ehrliches, frisches und munteres Buch, das wir mit vielem Genuss gelesen haben.

Endlich Delbrücks Sammlung enthält 36 Aufsätze, die an Inhalt so verschieden sind wie an Wert. Einige davon beschäftigen sich auch mit der Sozialdemokratie oder sonst mit der Arbeiterfrage; von ihnen können wir im Stile des Verfassers, der sich einen „konservativen Sozialdemokraten" nennt, nur sagen: Dieses Eisen ist hölzern. Sehr ansprechend sind einige Aufsätze über den Kaiser und die Kaiserin Friedrich, denen Delbrück als Erzieher eines ihrer Kinder einige Jahre hindurch persönlich nahegestanden hat; sein berechtigter Einspruch gegen den schnöden Verrat, den Gustav Freytag nach dem Tode des Kaisers an dem Kaiserpaar beging, lässt ihn über den Kaiser wohl um diese oder jene Schattierung zu günstig urteilen, doch im allgemeinen trübt menschlich berechtigte Pietät sein historisches Urteil nicht; namentlich der Nachruf auf die Kaiserin Friedrich bringt ohne jede wohlfeile Übertreibung treffend den tragischen Zug heraus, der durch das Leben dieser unglücklichen Frau waltete. Ziemlich unfruchtbar, bei manchen scharfsinnigen Einzelheiten, sind die Aufsätze über den Ursprung des Siebenjährigen und des Deutsch-Französischen Krieges; um so höher stehen die kriegsgeschichtlichen Arbeiten über den Deutsch-Dänischen Krieg, über das Treffen von Langensalza, über die Beschießung von Paris5, worin Delbrück den Bismärckischen Schwindel abtut, als hätten „weibliche Einflüsse" eine Brutalität verhindert, die vielmehr von allen einsichtigen Militärs als sinnloser Fähnrichsstreich abgewiesen wurde, über den Erzherzog Karl, über Moltke und andere mehr. Auf diesem Gebiete liegt Delbrücks eigentliche Stärke als Historiker, doch gehen wir darauf nicht näher ein, da wir demnächst seine bisher in zwei Bänden vorliegende und gegenwärtig recht aktuell gewordene „Geschichte der Kriegskunst" zu besprechen gedenken; dabei wird dann auch auf den Satz zurückzukommen sein, mit dem Delbrück seinen Aufsatz über den Erzherzog Karl verunziert: „Karl Marx, der doch selber ohne Zweifel eine historische Persönlichkeit war, wird von der historischen Wissenschaft als Historiker der Beachtung nicht für wert gehalten und mit Recht."

1 Mit dem Aufstand in Cadiz am 17. September 1868 begann in Spanien die bürgerliche Revolution, geführt von den sogenannten Progressisten unter Prim y Prats. Die Royalisten wurden am 28. September bei Alcolea geschlagen, und Isabella II. floh nach Frankreich. Die von den Cortes am 2. Juni 1869 verabschiedete Verfassung behielt aber die Monarchie bei. Erst 1873 wurde die spanische Republik ausgerufen, aber durch die Niederlage gegen den Aufstand der Royalisten von 1874 bis 1876 (II. Karlistenkrieg) wieder beseitigt.

2 Um Frankreich zum Kriege zu provozieren, übergab Bismarck den telegrafischen Bericht über die Unterredung zwischen König Wilhelm von Preußen und dem französischen Gesandten Benedetti in Ems in gekürzter und entstellter Form an die Presse.

* In seinem bekannten Geschichtswerk hat Sybel der Frage von Eugeniens Mitschuld an dem Kriege ein besonderes Kapitel gewidmet und bündig nachgewiesen, dass sie keine andere Schuld trifft, als dass sie sich vielleicht im letzten Augenblick von der Dezemberbande ihre Zustimmung hat entreißen lassen, unter Seufzen und Tränen über den vermutlichen Ausgang. Wenn jedoch Sybel die Dezemberbande allein dafür belasten will, Eugeniens schlechten Ruf in diesem Punkte verursacht zu haben, so übersieht er, dass die Firma Bismarck-Bucher-Busch zuerst die Glocke angeschlagen und der Dezemberbande in die Hände gearbeitet hat, wie diese dann wieder ihr. Bereits am 8. Juli erhielt Busch, wie er in seinen Tagebuchblättern berichtet, durch Bucher von Bismarck als Leitmotiv für den offiziösen Pressspektakel den Satz: „Eugenie hetzt ihren Mann und die Minister. Als spanischer Parteimann oder Parteifrau würde sie den Intrigen und Gelüsten einer verfaulten Dynastie den Frieden und den Wohlstand Europas opfern." Bismarck und Bucher kannten ihre Philister; mit Eugeniens fabelhaftem Worte: „C'est ma guerre, ma petite guerre, la guerre à moi!" [C'est ma guerre, ma petit guerre, la guerre à moi (franz.) – Das ist mein Krieg, mein kleiner Krieg, der Krieg für mich.] ließen sich die deutschen Stammtische ebenso mächtig erschüttern wie mit den fabelhaften Insulten, die Benedetti dem alten Wilhelm in Ems zugefügt haben sollte.

5 Am 27. Juni 1866 siegte bei Langensalza das zahlenmäßig stark unterlegene hannoversche Heer über die Preußen, musste aber dennoch, von der großen Übermacht umstellt, am 29. Juli kapitulieren.

Das preußische Artillerie-Bombardement von Paris Ende 1870 hatte militärisch keine Bedeutung; es erfolgte zu dem Zweck, den Patriotismus der Pariser Bevölkerung gegen die jetzt offenbar werdenden Eroberungsgelüste des preußisch-deutschen Militarismus mit terroristischen Mitteln zu unterdrücken.

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