Franz Mehring 19131114 Partikularismus und Sozialdemokratie

Franz Mehring: Partikularismus und Sozialdemokratie

14. November 1913

[Die Neue Zeit, 32. Jg. 1913/14, Erster Band, S. 209-216. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 359-367]

Heil dem neudeutschen Reiche borussischer Fasson! Ehe es sich dessen recht versehen hat, ist es zu einem neuen Herzog und einem neuen König gekommen.

Las man, wie sich seit langen Wochen alle patriotischen Blätter, von der Linken bis zur Rechten, über die bayerische Königs- und die braunschweigische Erbfolgefrage stritten, so konnten verhärtete Reichsfeinde nur schwer der Versuchung widerstehen, eine Satire zu schreiben. In einer Zeit, deren Schoß so gewaltige Probleme des Völkerlebens birgt, floss der Schweiß der Edlen in Strömen um die Frage, ob in Braunschweig ein obotritischer oder ein welfischer Prinz das Zepter führen oder ob in München sich der Prinzregent die Krone aufs Haupt stülpen dürfe, die vor hundert Jahren ein fremder Eroberer dem Hause der Wittelsbacher verliehen hat.

Soweit staatsrechtliche Gesichtspunkte dabei ins Gefecht geführt wurden, waren sie zwar schweinsledernen Scharteken entnommen, erinnerten aber dennoch oder ebendeswegen an die leicht geschürzte Muse Offenbachs. Soll das Recht gelten, wie es in feierlichen Verträgen niedergelegt worden ist, so gebührte dem Welfenspross unzweifelhaft der braunschweigische Thron, auf den er eben geklommen ist; nach dem Pactum Henrico-Wilhelminum von 15351 und nach der herzoglich braunschweigischen Neuen Landschaftsordnung von 1832 besteht daran kein Zweifel, dass der braunschweigische Herzogshut „in dem fürstlichen Gesamthause Braunschweig-Lüneburg" vererbt wird. Nach dem Aussterben der älteren braunschweigischen Linie im Jahre 1884 kam also, wenn jenes monarchische Recht gelten soll, wonach Land und Leute wie eine Herde Vieh vererbt werden, die jüngere hannoversche Linie daran. Auch wäre niemals der geringste Zweifel darüber entstanden, wenn nicht diese jüngere Linie im Jahre 1866 mit gröblichster Missachtung des deutschen Privatfürstenrechts entthront worden wäre und das böse Gewissen des neugebackenen Heldenkaisers eine Erschütterung des neudeutschen Reiches davon befürchtet hätte, dass nach dem Aussterben der älteren Welfenlinie jene drei größeren und unterschiedlich kleineren Fetzen niedersächsischen Landes mit ihren paarmalhunderttausend Einwohnern, die man Herzogtum Braunschweig nennt, unter das Zepter der jüngeren Welfenlinie gekommen wären.

Um den braunschweigischen Thron dem rechtmäßigen, will sagen nach deutschem Privatfürstenrecht rechtmäßigen Erben vorzuenthalten, wurde ein „Kriegszustand" konstruiert, worin sich die jüngere Welfenlinie, vertreten durch den Herzog von Cumberland, den Sohn des 1866 gewaltsam entthronten Königs von Hannover, mit dem preußischen Staate befinden sollte. Dieser „Kriegszustand" bestand aber nur darin, dass der Herzog von Cumberland der Gnade Gottes nicht spotten wollte. Er versprach, als Herzog von Braunschweig alle Pflichten zu erfüllen, die die Reichsverfassung einem in Deutschland regierenden Fürsten auferlege, also auch den preußischen Besitzstand in dem ehemaligen Königreich Hannover anzuerkennen. Aber er wollte nicht feierlich vor allem Volke auf das Königreich Hannover verzichten, das ihm die Gnade Gottes verliehen, aber die Ungnade seines preußischen Vetters geraubt hatte. Steht man einmal auf dem Gottesgnadenstandpunkt, auf dem alle Monarchen stehen, so handelte der Cumberländer ganz ehrenwert und konsequent, viel ehrenwerter und konsequenter jedenfalls als der Heldenkaiser, der seine Krone ja auch von Gottes Gnaden trug, aber diese Gottesgnade arg missachtete, indem er einige andere Kronen ohne jedes religiöse Bedenken in seine Tasche steckte.

Indessen die Weigerung des Cumberländers, seines Gottes zu spotten, wurde von dem Hausmeier Bismarck als „Kriegszustand" gegen den preußischen Staat ausgelegt, und der allezeit willige Bundesrat zögerte nicht, diese waghalsige Behauptung wiederholt durch feierliche Beschlüsse zu bestätigen. So kam die jüngere Welfenlinie um ihr rechtmäßiges Erbe. Inzwischen hat der einzige Sohn des Herzogs von Cumberland die einzige Tochter des Deutschen Kaisers geheiratet und ist als Rittmeister in ein preußisches Husarenregiment eingetreten, und nun gewinnt die Sache wieder ein anderes Ansehen. In einer Beziehung freilich bleibt das deutsche Privatfürstenrecht, das Land und Leute immer nur als eine Herde Vieh betrachtet, der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht. Die Braunschweiger selbst, obgleich sie die Nächsten dazu sind, werden nach wie vor nicht danach gefragt, wen sie zum Herzog haben wollen – eine gewiss kitzlige Frage, die jedoch von der Mehrheit der braunschweigischen Bevölkerung durch die ebenso einfache wie erschöpfende Erklärung erledigt werden würde, dass sie überhaupt keinen Herzog brauchten. Wenn aber einmal ein Herzog sein soll, so bietet ein Schwiegersohn des Kaisers gewiss alle Bürgschaften einer gerechten und weisen Regierung, und so war der Wunsch des Kaisers, seine Tochter mit einer Herzogskrone geschmückt zu sehen, am Ende begreiflich. Allein es ergab sich nun doch noch ein kleines Hindernis; es zeigte sich, dass die Welfen als das ältere und legitimere Fürstengeschlecht in Gottesgnadensachen bewanderter und steifnackiger sind als die Hohenzollern.

Der kaiserliche Schwiegersohn ist gegenwärtig das Haupt der jüngeren Welfenlinie, da sein Vater zu seinen Gunsten auf alle Rechte und Würden verzichtet hat. Es war also an ihm, jenen feierlichen und förmlichen Verzicht auf das Königreich Hannover zu leisten, von dem wiederholte Beschlüsse des Bundesrats die Anerkennung seiner Erbansprüche auf den braunschweigischen Thron abhängig gemacht hatten. Jedoch der Welfenspross sagte: Erst die Ehre und dann die Liebe; um irdischer Vorteile willen spotte ich nicht der Gnade Gottes. Das war eigentlich sehr nett von dem jungen Manne, und man begreift, dass auch sein Schwiegervater daran Gefallen fand und lieber dem Bundesrat zumutete, mutig einen Schritt zurückzuweichen, als dass er diesem dreisten und gottesfürchtigen Eidam ein ungnädiges Gesicht zeigte.

Ehe jedoch der Bundesrat seine Beschlüsse mit derselben erhabenen Würde verzehrte, womit er sie gefasst hatte, erstand ihm ein Retter. Der deutsche Kronprinz richtete ein Schreiben an den Reichskanzler, worin er in schroffem Widerspruch mit seinem Kaiser und Vater auf der Notwendigkeit bestand, dass sein Schwager, der Welfenspross, erst den Beschlüssen des Bundesrats gerecht werden müsse, ehe er als Herzog in Braunschweig einziehen dürfe, und er ließ durch die „Leipziger Neuesten Nachrichten" die Kunde seines tapferen Schrittes verbreiten. Danach große Aufregung unter den Patrioten über diesen „Zwist im Hohenzollernhause" und bange Sorge, ob die „Grundfesten" des Reiches nicht zusammenbrächen, wenn der Sohn mit dem Vater also paukte. Inzwischen verlief die Geschichte so harmlos wie alle solche Kronprinzenfronden. Der Rebell wurde durch einen Generaladjutanten eingeheimst, erbat und empfing die väterliche Verzeihung, erklärte sich durch die weisen Lehren des Reichskanzlers von seinem Irrtum bekehrt, und die „Leipziger Neuesten Nachrichten" erhielten für ihre angebliche „Indiskretion" ein paar offiziöse Backpfeifen, eine für sie alltägliche Kost, die ihnen auch keine besonderen Beschwerden gemacht zu haben scheint.

Wenn sich jedoch die Patrioten damit trösten möchten, dass die Kronprinzenfronde ein altes Leiden der Hohenzollerndynastie sei und im Grunde gar nicht einmal ein Leiden, da sie ein bisschen Leben in das eintönige Einerlei des monarchischen Handwerks bringe, so übersehen sie doch eins. Bisher zogen die frondierenden Kronprinzen die liberale Fahne auf, um das harrende und hoffende Volk zu trösten. Der alte Fritz schalt in seinen jungen Jahren die preußische Uniform mit treffendem Witz einen „Sterbekittel", und der Kaiser Friedrich denunzierte vor fünfzig Jahren die Pressordonnanzen Bismarcks mit vollem Rechte als schmähliche Attentate auf die Verfassung. Der gegenwärtige Kronprinz aber spinnt eine neue Nummer des alten Fadens. Dieses jungen Mannes junger Mann ist Herr Paul Liman, der Leitartikler „des bösartigsten aller alldeutschen Hetzblätter", wie der konservative Herr Delbrück eben die „Leipziger Neuesten Nachrichten" getauft hat, und das lässt denn freilich tief blicken. Als Republikaner von Gesinnung brauchen wir nicht mit banger Sorge in die Zukunft der Monarchie zu blicken, aber wir sind auch nicht mehr naiv genug, mit Freiligrath zu sagen:

Geht mir mit „guten Fürsten"! Ein Despot Gab Englands Männern ihre große Charte.

Wir sind vielmehr überzeugt, dass unsere bürgerlichen Freiheitskämpfer auch dem Reichskanzler Liman aus der Hand fressen werden, sobald er ihnen nur etwas Buntes ins Knopfloch stiftet.

Der braunschweigischen Herzogsfrage steht die bayerische Königsfrage würdig zur Seite. Ein König von Gottes Gnaden wird abgesetzt, nicht auf einem Wege, den die Gnade Gottes, sondern ein durch wirrenreiche Intrigen eingeleiteter Beschluss eines Parlamentes gebahnt hat, und man kann nicht leicht etwas Ergötzlicheres lesen als die Kopfsprünge, in denen die Monarchisten, vom Minister bis zum Tintenkuli, sich überschlagen, um zu beweisen, dass die Gnade Gottes dabei ganz unversehrt davongekommen ist. Doch werden unsere Leser darüber aus der Tagespresse hinlänglich unterrichtet sein, und wir möchten uns lieber einige Bemerkungen zu einer anderen Frage erlauben, zu der Frage nämlich, ob die ungetrübte Heiterkeit, womit die Parteipresse der braunschweigischen wie der bayerischen Tragikomödie zuschaut, eigentlich genüge, ob es nicht vielmehr, wie ein Parteiblatt vorschlägt, daneben oder auch in erster Reihe geraten sei, diese drastischen Gelegenheiten zu benützen, um eine energische Agitation gegen „die unsägliche Traurigkeit der deutschen Kleinstaaterei" ins Leben zu rufen. Diese Anregung ist ohne Zweifel sehr beachtenswert und verdient unseres Erachtens eine ernsthafte Erwägung.

Zunächst liegt auf der Hand, dass der braunschweigische wie der bayerische Spektakel auch eine ernsthafte Seite hat. Die dynastische Gnade Gottes hat bei aller himmlischen Erhabenheit immer als irdischen Fischschwanz die hausbackene Forderung Karl Buttervogels, wonach die gute Verköstigung garantiert werden muss. Der neue Herzogshut in Braunschweig und die neue Königskrone in Bayern sollen mit Zivillisten vergoldet werden, die keineswegs aus überirdischen Mitteln bestritten werden können, sondern aus den schon hinlänglich ausgepumpten Taschen der Steuerzahler herausgeholt werden sollen. Das ist sehr bitter für diese Steuerzahler, zumal wenn sie ihr Herz nicht dazu treibt, auch nur einen Pfifferling für den neuen Glanz zu opfern, der in ihre Hütten fällt.

Es ist gewiss auch etwas an dem, was „über die unsägliche Traurigkeit der deutschen Kleinstaaterei" gesagt worden ist. Sie hängt in der Tat wie ein schweres Gewicht am Leibe der deutschen Nation und hindert ihre Entwicklung. Das deutsche Volk kann nur mit Neid auf die anderen großen Kulturvölker blicken, die von dieser Last verschont sind. Wenn England und Frankreich seit Jahrhunderten sich ein solches Elend vom Leibe geschafft haben, so darf selbst Italien, das so schwer wie Deutschland an der inneren Zerrissenheit gelitten hat, den Ruhm vor Deutschland beanspruchen, damit wenigstens in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ein Ende gemacht zu haben. Vor dem Richterstuhl der Geschichte ist die deutsche Kleinstaaterei ein Flecken auf der deutschen Ehre; würde sie mit eisernen Besen ausgefegt, so würde kein Interesse menschlicher Kultur darunter auch nur im Mindesten leiden.

Allein dabei ist eines zu erwägen. Nach Lage der Dinge läuft der Kampf gegen die Kleinstaaterei hinaus auf einen Kampf für die Verpreußung Deutschlands. Will man nicht aus der Szylla in die Charybdis geraten, so muss man den Kampf nicht gegen die deutsche Kleinstaaterei, sondern ebenso gegen die deutsche Großstaaterei führen, mit anderen Worten: gegen den deutschen Partikularismus, der durch die Ereignisse von 1866 und 1870/71 nicht nur nicht beseitigt, sondern vielmehr befestigt worden ist und so lange leben wird, bis die deutsche Arbeiterklasse das Heft in die Hand bekommt.

Über die grundsätzliche Stellung der deutschen Sozialdemokratie zum Partikularismus bedarf es keiner langen Auseinandersetzung; Marx, Engels und Lassalle haben ihn in den klarsten und unzweideutigsten Erklärungen verworfen. Als in den Jahren vor 1866 bürgerliche Demokraten die Mittel- und Kleinstaaterei als Gegengewicht gegen den preußischen Despotismus ausspielen wollten, schrieb Schweitzer – und seine Prophezeiung sollte sich binnen weniger Jahre Wort für Wort erfüllen –, „dass, wenn es ernst würde und irgendwelche Fürsten zum Beispiel endgültig und unwiderruflich zu entscheiden hätten, ob sie zugunsten ihres Volkes oder zugunsten eines großen Fürstenhauses auf ihre volle Souveränität verzichten wollten, diese Fürsten sich lieber winselnd ihrem Kollegen zu Füßen würfen, als unter dem Jubel des Volkes durch die Straßen der Hauptstadt zögen". Nach 1866 sind dann freilich auch innerhalb der noch jungen Arbeiterbewegung in dieser Frage manche Irrungen entstanden, doch gingen sie schnell vorüber; im Jahre 1871 bestand für die Sozialdemokratie kein Zweifel mehr, dass sie ihren Kampf vom Boden der neugeschaffenen Zustände aus führen müsse, wobei sie jedoch nicht im Zweifel darüber war, dass die Lösung der deutschen Frage durch Bismarck keine nationale, sondern nur eine partikularistische Lösung war. Diesen Gesichtspunkt dürfen wir auch heute nach vierzig Jahren nicht aus den Augen verlieren; er gibt die einzig richtigen Maßstäbe für die Frage, wie die „unsägliche Traurigkeit der deutschen Kleinstaaterei" zu beseitigen ist. Die Erhaltung dieser Kleinstaaterei gehörte unlöslich zu Bismarcks Programm, und sie lässt sich nicht beseitigen, ohne zugleich dies ganze Programm zu revidieren. Bismarck war durchaus Großpreuße, und so sehr er den „ganz unhistorischen, gott- und rechtlosen Souveränitätsschwindel" der deutschen Mittel- und Kleinfürsten verachtete, so genau wusste er doch, dass er dem mittel- und kleinstaatlichen Partikularismus nicht an den Kragen dürfe, wenn er nicht auch den großpreußischen Partikularismus aufs Spiel setzen wolle. Um dem preußischen Staate ein erdrückendes Übergewicht über die Mittel- und Kleinstaaten zu verschaffen, musste er allerdings einige dieser Staaten zertrümmern, aber eben nur für großpreußische Zwecke; zur Sühne dafür machte er dem „ganz unhistorischen, gott- und rechtlosen Souveränitätsschwindel" ihrer Masse eine desto tiefere Verbeugung.

Als Großpreuße war Bismarck wenigstens konsequent. Ärger stand es um die deutsche Bourgeoisie, deren unsäglicher Feigheit in erster Reihe die Erhaltung der deutschen Kleinstaaterei zu danken ist. Dies ergibt sich klar aus ihrem Vergleich mit der italienischen Bourgeoisie. Wie Bismarck aus Deutschland ein Großpreußen machen wollte, so Cavour aus Italien ein Großpiemont, allein die italienische Bourgeoisie verstand es, ihn über seine eigenen Zwecke hinauszutreiben. Die liberalen Führer in den italienischen Mittel- und Kleinstaaten regten mit glücklichstem Erfolg die Massen auf, ihre Despoten zum Tor hinauszuwerfen, und so wurde Italien wenigstens seine kleinen Raubstaaten los, mochte seine Einigung sonst auch noch so sehr unter ihrem dynastischen Ursprung leiden.

Die deutsche Bourgeoisie wagte aber nicht einmal, Bismarck zu unterstützen, soweit er wirklich einige Mittel- und Kleinstaaten zertrümmern wollte. Als der preußische Minister Herrn v. Bennigsen, dem Führer der hannoverschen Liberalen und zudem Präsidenten des – dem italienischen Muster nachgebildeten – Nationalvereins, beim Ausbruch des Krieges von 1866 die provisorische Regierung Hannovers anbieten ließ, weigerte sich dieser Held des deutschen Liberalismus eines so hochverräterischen Beginnens. Wusste er doch nicht, wie die eisernen Würfel rollen würden und ob der welfische König am Ende nicht doch nach Hannover zurückkehren könnte! Jawohl, meinte damals ingrimmig Treitschke, der unter seinesgleichen wenigstens Courage hatte, wenn wir wüssten, dass unsere Kugel trifft, die des Feindes aber vorbeifliegt, so würden auch die sieben herzhaften Schwaben den Heldensinn des Achilles zeigen.

Die deutsche Bourgeoisie hatte damals noch die Massen hinter sich, und so hätte sie wohl eine Bewegung entfesseln können, die die deutschen Mittel- und Kleinstaaten weggeschwemmt hätte, wie ja alle diese Thrönlein 1848 beim ersten Anhauch der Pariser Februarrevolution wie wurmstichiges Gerümpel zusammengepurzelt waren. Jedoch da die deutsche Bourgeoisie völlig versagte, so hatte Bismarck gewonnenes Spiel, und man kann es ihm nicht einmal verdenken, wenn er nun auch den Anspruch der Bourgeoisie auf einen Anteil an den Kastanien, die sie sich geweigert hatte, mit ihm gemeinsam aus dem Feuer zu holen, recht verächtlich behandelte. Jedenfalls war er jetzt sicher vor einer nationalen Bewegung, die nicht nur dem mittel- und kleinstaatlichen, sondern auch dem großpreußischen Partikularismus den Garaus gemacht haben würde, und konnte sein partikularistisches Programm ungestört durchführen.

Das neudeutsche Reich, so wie es durch die Versailler Verträge von 1870 geschaffen wurde, beruht auf dem Gleichgewicht zwischen dem großpreußischen und dem kleinstaatlichen Partikularismus, von denen der eine dem anderen und der andere dem einen sein Dasein verbürgt. Von nationalen Fragen ist in jenen Verträgen überhaupt nur die Rede insoweit, als es sich darum handelt, wie die deutschen Dynastien sich in die Herrschaft über die deutsche Nation teilen wollen; an die Rechte des deutschen Volkes, dessen Söhne zu Tausenden und aber Tausenden auf den französischen Schlachtfeldern verblutet waren und verbluteten, dachte man weder hüben noch drüben. Die „nationale" Prahlerei, dass in der Hauptstadt des Erbfeindes die deutsche Einheit gemacht worden sei, stellte die Dinge gerade auf den Kopf. Vielmehr feierte der deutsche Partikularismus an seiner Geburtsstätte seine Orgien; wenn der bayerische, schwäbische, badische usw. Partikularismus der Fremdherrschaft seine moderne Gestalt verdankte, so ist der preußische Partikularismus in seiner Großmannssucht ebenfalls von der französischen Monarchie großgepäppelt worden, um die Fremdherrschaft über Deutschland zu sichern: Der „Große Kurfürst" stand im französischen Solde, und ohne die Hilfe Ludwigs XV. hätte der „große König" niemals Schlesien erobert. Es heißt auch hier: gleiche Brüder, gleiche Kappen!

Bei allem festen Entschluss, sich gegenüber den Ansprüchen der Nation gegenseitig zu schützen und zu stützen, kam es bei Abwägung des Gleichgewichtes natürlich zu manchem Hader. Es ging dabei so, wie etwa bei den Katzbalgereien zwischen Grundrente und Kapitalprofit um den Mehrwert: Die holde Eintracht gegenüber den Ausgebeuteten und Unterdrückten war der prunkende Hintergrund, auf dem sich das kleinlich-pfiffige Geraufe um das Mein und Dein abspielte. Bismarck suchte in Versailles das Reich der Pickelhaube soweit als möglich noch über den Main auszudehnen; er scheute selbst nicht vor einem gelinden Zwange zurück, wenn er zum Beispiel dem bayerischen König den Brief in die Feder diktierte, der dem preußischen König die deutsche Kaiserkrone antrug, aber sein entscheidender Grundsatz war, den großpreußischen Bogen nicht so weit zu überspannen, dass die anderen nicht, doch noch gute Miene zum bösen Spiele machten. Auf der anderen Seite vermöbelte man das kümmerliche Machwerk von Norddeutscher Bundesverfassung nach Noten, aber doch immer nur so, dass der dynastisch-partikularistische Affe seinen Zucker bekam, was Bismarck zu dem beißenden Spotte veranlasste, er sei den Süddeutschen noch viel zu liberal, aber niemals so, dass die großpreußischen Machtgelüste angetastet wurden. Die bayerische Dynastie zum Beispiel dachte nicht daran, die Zuständigkeit des Norddeutschen Reichstags zu erweitern, was sie wohl hätte durchsetzen können, aber sie rannte wütend gegen die halbwegs moderne Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes über Niederlassung und Verehelichung an und kämpfte wie ihr Wappentier um die erhebende Bestimmung, dass der bayerische Staatsbürger, der ohne ihre Genehmigung in Preußen eine Ehe schloss, auch fernerhin den Genuss haben sollte, seine ehelichen Kinder von Rechts wegen als Bastarde behandelt zu sehen.

So sah die deutsche Einheit aus, die der dynastische Partikularismus im Jahre 1870 zurecht fabrizierte, und soweit es auf ihn ankam, ist es dabei geblieben. Niemals hat der mittel- und kleinstaatliche Partikularismus gewagt, den despotischen Vorstößen des großpreußischen Partikularismus zu widerstehen; dafür hat Bismarck den „ganz unhistorischen, gott- und rechtlosen Souveränitätsschwindel" der deutschen Fürsten als hehrstes Heiligtum der Nation unter den Schutz der preußischen Bajonette gestellt. Gewiss hat es diesem Schutz- und Trutzbündnis nicht an kleinen Reibungen gefehlt, aber es waren nur harmlose Streitereien, wie sie den Verkehr zwischen guten Freunden und getreuen Nachbarn eher erfrischen als erschüttern. Bismarck hat einmal einen bayerischen Gesandten, der nicht gleich nach der großpreußischen Pfeife tanzen wollte, derb angehaucht, und ein bayerischer Prinz, ebender jetzt zum König von Zentrums Gnaden avancierte Prinz Ludwig, hat einmal auf die Entgleisung eines unglücklichen Toastredners hin aufgetrumpft, die deutschen Fürsten seien nicht die Vasallen, sondern die Verbündeten des preußischen Königs. Immerhin spiegelte sich auch in solchen kleinen Scherzen der wirkliche Stand der Dinge. Der bayerische Gesandte, den Bismarck angehaucht hatte, verschwand für immer in der Versenkung, während der Prinz Ludwig, kaum dass ihm sein keckes Wort entfahren war und während noch die liberalen Kindsköpfe über seine „mannhafte Tat" jubelten, schon auf dem Wege zum Kaiser war, um sich zu entschuldigen.

Der Kampf gegen die deutsche Kleinstaaterei liegt also nicht ganz so einfach, wie er scheint. So sehr zwischen dem Partikularismus und der Sozialdemokratie eine unversöhnliche Feindschaft besteht, so kann sie ihn doch nicht auf jedem Punkte gleich wirksam angreifen. Die Kleinstaaterei ist eine so klägliche Erscheinung, sie hat einen so sprichwörtlich schlechten Ruf, dass sie wohl am ehesten geeignet scheint, den Heerbann der Philister auf die Beine zu bringen. Aber mit diesem Heerbann schlägt man keine Schlachten: Dazu spielt der einseitige Kampf gegen die Kleinstaaterei nur dem großpreußischen Partikularismus in die Hände, und schließlich ist es nach Lage der Dinge auch ein Irrtum, dass der Gegner in Lippe-Detmold leichter zu besiegen sei als in Berlin. Denn gegenüber einer nationalen Bewegung, zumal wenn sie von der Arbeiterklasse getragen wird, stehen die Dynasten einer für alle und alle für einen.

Wer also der Ansicht ist – und diese Ansicht hat zweifellos ungemein viel für sich –, dass die Vorgänge in Braunschweig und München nicht bloß eine sehr humoristische, sondern auch eine sehr ernste Seite haben, die die deutsche Arbeiterklasse an eine ihrer dringendsten Pflichten mahnt, der muss sein Augenmerk nicht nach Braunschweig oder München oder Detmold richten, sondern nach Berlin. Hier steht der Feind, und hier hat Lassalle schon vor fünfzig Jahren die nationale Parole der deutschen Sozialdemokratie in den einfachen Worten ausgegeben: Das ganze Deutschland moins les dynasties2!

1 Mit dem Vertrag zwischen Heinrich d. Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel (1489-1568) und seinem Bruder Wilhelm erkannte der letztere die von Heinrich 1514 verfügte Erbfolge nach der Erstgeburt an.

2 Moins les dynasties (franz.) – ohne die Dynastien.

Kommentare