Franz Mehring 18990802 Schulze-Delitzsch

Franz Mehring: Schulze-Delitzsch

2. August 1899

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Zweiter Band, S. 609-612. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 169-174]

In diesen Tagen soll ein Denkmal Schulzes, des einst berühmten Mannes aus Delitzsch, enthüllt werden in einem entlegenen Winkel der deutschen Hauptstadt, den die Polizei nach langwierigen Verhandlungen endlich eingeräumt hat. Die Mittel dazu sind von Verehrern Schutzes aufgebracht worden, die denn auch nicht müde werden, zu der Enthüllungsfeier den lärmenden Tamtam zu schlagen. Man kann ihnen das harmlose Vergnügen gern gönnen, und selbst wenn das Denkmal für Schulze-Delitzsch nicht bloß eine private Veranstaltung wäre, die sich als solche im Grunde der öffentlichen Kritik entzieht, würden wir kaum einen Anlass haben, einen kritischen Blick darauf zu werfen. Wenigstens nicht, solange es mit den Denkmälern in Berlin so bestellt ist wie gegenwärtig. Unter dieser höchst gemischten Gesellschaft nimmt sich Schulze-Delitzsch noch immer sehr reputierlich aus, ebenso wie Waldeck, dem schon vor längerer Zeit ein Denkmal errichtet worden ist, gleichfalls in einem entlegenen Winkel und gleichfalls nach unendlichen Schwierigkeiten, die von der Polizei dagegen erhoben worden waren.

Wohl aber scheint uns der Augenblick, wo Schulze-Delitzsch soviel genannt wird, wie in diesen stillen Sommertagen, nicht unpassend gewählt zu sein, um die historischen Akten über ihn ein wenig zu revidieren. Mit der berühmten Streitschrift, die Lassalle gegen ihn richtete, ist es gewiss nicht getan oder doch nicht allein getan; sie ist ein wichtiges, und vielleicht das wichtigste, aber nicht das einzige Dokument zur Kritik Schulzes. Sie hat den Ruhmesglanz für immer zerstört, der den „König im sozialen Reich" umstrahlte; sie hat den Mann, den sie angriff, rücksichtslos aus der Bahn geschleudert, die dem historischen Fortschritt gebrochen werden musste, aber sie gibt kein erschöpfendes Bild von dem, was Schulze-Delitzsch geleistet hat und was er gewesen ist. Schon die Tatsache, dass Lassalle selbst, ehe er, aufs schwerste herausgefordert, zur schwersten Sühne schritt, über Schulze nicht ohne Wohlwollen geurteilt hat, beweist hinlänglich, dass es mit diesem Manne doch eine größere Bewandtnis haben muss, als dass man ihn mit einigen Redewendungen über sozialpolitische Unfähigkeit und dergleichen abtun könnte.

Ohne Zweifel war Schulze-Delitzsch eine historische Gestalt, obgleich keine derjenigen historischen Gestalten, die im eigenen Lichte strahlen. Es ist eine durchaus reflektierte Beleuchtung, die auf sein Schaffen und Wirken fällt. Er hat viel geschrieben und viel gesprochen, aber man wird in dieser Masse vergebens nach einer Spur originellen Denkens, ja nur nach der originellen Fassung eines gewöhnlichen Gedankens suchen; überall gähnt einem die äußerste Trivialität entgegen, die keineswegs gemildert, sondern eher noch gestärkt wird durch den Brustton der Überzeugung, womit Schulze zu schreiben und zu sprechen pflegte. Eben hierin aber lag das Geheimnis seiner Erfolge. Der Sprössling einer alten Juristenfamilie, die seit langen Generationen mit einer kleinen Ackerbürger- und Handwerkerstadt verwachsen war, lebte und webte Schulze-Delitzsch in der geistigen Atmosphäre des spießbürgerlichen Kleinbürgertums, das seit dem Dreißigjährigen Kriege die für Deutschland typische Klasse war. Seine geistigen Gaben reichten nicht aus, ihn über diese Atmosphäre zu erheben, jedoch waren sie groß genug, ihn zum Propheten der Philister zu machen, die nicht ohne Tüchtigkeit, aber voll beschränkter Vorurteile waren und gerade dann, wenn sie einmal aus ihrer Philisterhaftigkeit zu schlüpfen versuchten, nur zu zeigen wussten, wie fest sie ihnen angewachsen war.

Kurz nach Schulzes Tode im Jahre 1883 veröffentlichte seine Familie aus seinem Nachlass das Manuskript eines Romans, den er in jungen Jahren geschrieben hatte. Seine politischen Freunde waren darüber erbost, und mit gutem Grunde; ein schlechterer Dienst konnte dem Andenken Schulzes nicht wohl erwiesen werden als mit der Veröffentlichung dieser literarischen Jugendsünde. Ein Blatt, das sonst mit Schulze durch dick und dünn ging, schrieb darüber: „Das Buch soll gegen das Philistertum gerichtet sein – und ein philisterhafteres Buch als dieses ist uns sobald nicht vorgekommen." Gewiss ist der Roman, der den Titel „Die Philister" führt, zum Sterben langweilig zu lesen, aber er ist voll höchsten Interesses für den, der Schulzes Wesen erkennen will. Er stellt ein Stück Autobiographie dar, der Held des Romans, ein Referendar Funck, ist Schulze selbst. Wir begleiten diesen Funck nach einer größeren Gerichtsstadt, wo ihm seine Beschäftigung angewiesen ist; wir sehen ihn in einem Kreise älterer und neu erworbener Freunde verkehren, wir sind Zeugen seiner und ihrer bescheidenen Vergnügungen und Liebeleien und ihrer noch bescheideneren Unterhaltungen, wir lernen ihn als schwächlichen Dichter und schwächlichen Liebhaber kennen. Wie nun aber dieser Philister gegen die Philister kämpft, das zeigt die Hauptszene des Romans, wo Funck-Schulze in Erinnerung an das Wartburgfest und dessen Brandopfer in seinen Freundeskreisen eine Nachtjacke verbrennt, die sich einer der Freunde heimlich anziehen wollte, und dazu peroriert: „Zieht die Schlafmützen von den Ohren, ruft uns dies Opfer zu, schüttelt das träge Träumen ab, schon säumt die Dämmerung den Osten! Herunter mit den weichlichen Hüllen der Nacht, öffnet eure Brust den Schauern des Morgens, dass euch sein Licht mit hellen Augen und rüstig zum Werke finde! Also der schmählich in die Nachtjacke gebannte Schutzgeist unseres Volkes, der, durch Feuersgluten aus dem unwürdigen Kerker befreit, sich soeben auf züngelnden Flammen gen Himmel emporschwingt, um in dem Kreise, wo die Fahnen aller großen edlen Nationen stehen, ein lange gesunkenes Banner wieder zu erheben. Hört ihr das Rauschen von Geistersittichen, das seinen Aufschwung begrüßt? So empfanget denn, ihr Flammen, das Opfer, den Wohnern dieser Stätte zum süßen Geruch!" Also der Jüngling Schulze in Tiraden, die sich genau in gleicher Inhaltslosigkeit bei dem Manne und dem Greise Schulze finden. In erhabenen, aber sinnlosen Hymnen über eine verbrannte Nachtjacke zu schwelgen, darin war der deutsche Spießbürger von jeher groß.

Gleichwohl ist dies unpolitische Wesen nicht ohne ein gewisses Maß ehrbarer und nüchterner Tüchtigkeit, und die besaß Schulze reichlich genug, um leicht zum großen Manne in seiner Vaterstadt Delitzsch zu werden. Sie sandte ihn 1848 in die Berliner Vereinbarerversammlung, wo Schulze sich zum linken Zentrum hielt, dem Bucher, Rodbertus und Ziegler angehörten. Alle drei waren ihm an Gaben und Kenntnissen, Ziegler auch an praktischen Talenten ungleich überlegen, sie hatten sich ebendeshalb auch weit über das Niveau des Kleinbürgertums erhoben, und daher kommt es, dass es Schulze-Delitzsch historisch weiter als sie gebracht hat. Seinem selbstzufriedenen Philistersinn kamen die Bedenken und Zweifel gar nicht, an denen die Bucher und Rodbertus und Ziegler in den machtvoll sich entfaltenden Klassenkämpfen der modernen Welt krankten. Schulze schaukelte sich genügsam auf dem kleinbürgerlichen Einerseits-Andererseits. Als die Berliner Versammlung ihre erste entscheidende Beratung hielt über die Frage, ob sie aus revolutionärem Rechte tagen oder das Prinzip der Vereinbarung anerkennen solle, da erklärte Schulze: Hier handelt es sich gar nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-Als auch; danken wir den Barrikadenkämpfern, aber preisen wir uns auch glücklich, dass sie den Thron nicht angetastet haben. Und als er in der letzten entscheidenden Beratung der Versammlung die Steuerverweigerung verlangt hatte, die dann auch beschlossen worden war, da warf er sich gleichwohl seinen Mitbürgern in Delitzsch in den Weg, als sie in der richtig erkannten Konsequenz des Steuerverweigerungsbeschlusses ein Waffendepot der Landwehr stürmen wollten; gewaschen sollte der Pelz des Bären wohl werden, aber beileibe nicht nass gemacht.

Die Blütezeit Schulzes waren dann die fünfziger Jahre. Er kam in die Agitation für das Genossenschaftswesen, sozusagen unbewusst, was an und für sich noch kein Tadel, im Gegenteil eher ein Lob ist. Er baute mit Recht von unten auf, wie er sich später gern zu rühmen pflegte, mit unleugbarem Geschick und mit unendlichem Fleiß; sein Klasseninstinkt hatte ein dringendes wirtschaftliches Bedürfnis des Kleinbürgertums richtig erkannt, und es kann auch nicht bestritten werden, dass seine genossenschaftliche Agitation über ihre nächstliegenden Zwecke hinaus viel dazu beigetragen hat, das kleinbürgerliche Klassenbewusstsein, das durch die Niederlage der Revolution gar sehr niedergedrückt worden war, wieder zu stärken. Das lag in der Natur der Sache, und insofern hatten die reaktionären Beschwerden darüber, dass Schulze das Genossenschaftswesen zur liberalen Parteisache mache, schon an und für sich keinen Sinn, ganz abgesehen davon, dass diese Gracchen, die über den Aufruhr klagten, am allerwenigsten dazu berufen waren.

Trotzdem ist bei aller Anerkennung, die man Schulzes genossenschaftlicher Agitation in den fünfziger Jahren spenden darf, doch zweierlei nicht zu übersehen. Die großen Gesichtspunkte, von denen aus englische und französische Sozialisten, in erster Reihe ein Mann wie Owen, die Genossenschaftsfrage aufgefasst hatten, waren für Schulze von vornherein böhmische Dörfer. Seine ganze Agitation war auf den Schutz eines beschränkten und zurückgebliebenen Kleinbürgertums gegen die hereinbrechende Wucht des Kapitals gerichtet, und dadurch erhielt sie, wie Albert Lange, der im begeisterten Eifer für das Genossenschaftswesen nicht hinter Schulze zurückstand, schon damals aussprach, einen „kleinbürgerlich-philiströsen", einen „ängstlichen und einseitigen" Charakter. Dann aber lieferte Schulze-Delitzsch die kleinbürgerliche Klasse, nachdem er sie kaum ein wenig zu organisieren begonnen hatte, an seinem Teile wieder der verräterischen Bourgeoisie aus durch seinen Pakt mit dem Volkswirtschaftlichen Kongresse1. Indem er sich von dieser kapitalistischen Schutztruppe zum „König im sozialen Reiche" ernennen ließ, machte er sich selbst zum Mundstück aller der schleimigen Phrasen, womit der ausbeuterische Kapitalismus die ihm verfallenen Bevölkerungsklassen einseift wie die Riesenschlange die Opfer, die sie zu verschlingen gedenkt.

Gewiss waren diese Missgriffe Schulzes weniger Missgriffe seiner Person als Missgriffe seiner Klasse. Ebender „kleinbürgerlich-philiströse" Zuschnitt seiner genossenschaftlichen Agitation war eine unerlässliche Bedingung ihres Erfolges; hätte Schulze den wackeren Ackerbürgern und Handwerksmeistern von Bitterfeld und Delitzsch im Sinne Owens gepredigt, so wäre er ein Prediger in der Wüste geblieben. Dann aber war es nicht zum ersten Male, dass sich das deutsche Kleinbürgertum durch die deutsche Bourgeoisie übertölpeln ließ, und es ist sehr fraglich, ob Schulze-Delitzsch seine Klasse hinter sich behalten hätte, wenn er in seiner anfänglichen oppositionellen Stellung gegen die kapitalistische Wirtschaft verharrt hätte. Immerhin aber kann ihm der Vorwurf nicht erspart werden, dass ihn seine selbstgefällige Eitelkeit, die an und für sich freilich wieder zum kleinbürgerlichen Volksmann gehört wie der Handschuh zur Hand, allzu schnell und allzu willig zum Düpe der Bourgeoisie gemacht hat. Alles was recht ist, aber die Art, wie sich Schulze-Delitzsch im Anfang der sechziger Jahre als der große Mann der Theorie und der Praxis aufspielte, der die Lösung der sozialen Frage fix und fertig im Sacke habe, war wirklich nicht mehr schön.

Da er also in sehr illegitimer Weise zu einem Einfluss und einer Macht gekommen war, die er in erster Reihe zur Täuschung der arbeitenden Klassen über ihre wahren Interessen missbrauchte, so musste er aus dem Wege geräumt werden, und es bleibt Lassalles großes Verdienst, Schulzes Einfluss und Macht auf das Proletariat ein für allemal beseitigt zu haben. Auch war es allein die Schuld Schulzes und seiner Kumpane, wenn es bei der Entthronung des „Königs im sozialen Reiche" schließlich vielleicht härter zuging, als die Sache gefordert hätte: Lassalle hatte den Kampf in ritterlichen Formen angeboten, und erst als dies Angebot von Schulze und noch mehr von den Schulzeanern in sehr unritterlicher Weise erwidert worden war, schlug Lassalle mit Keulen drein.

Wichtiger als die persönliche ist die sachliche Seite der Frage, ob Lassalle zu schroff und zu weit gegen Schulze vorgegangen sei, mit anderen Worten, ob er den Arbeitern die Bedeutung des Genossenschaftswesens nicht doch mehr als billig verdunkelt habe. Mit Worten zwar hat er es gewiss nicht getan, aber, wie man ihm oft vorgeworfen hat, durch die Konsequenzen seiner Agitation. Daran ist unzweifelhaft etwas Wahres, nur dass es kein Vorwurf für Lassalle ist. War die politische Organisation der Arbeiterklasse unter den obwaltenden Umständen das unbedingt Notwendige, so musste sie durchgeführt werden, auch auf die Gefahr hin, das minder Notwendige dadurch vorläufig in den Schatten zu drängen. Heute ist es längst wieder ans Licht getreten, und das deutsche Proletariat weiß das Genossenschaftswesen wohl zu schätzen, je nachdem es als Werkzeug seines großen Befreiungskampfes tauglich ist oder nicht.

Das wäre aber für Schulze-Delitzsch, wenigstens in seiner späteren Lebensperiode, der Gräuel aller Gräuel gewesen, wovon die Attacken des heutigen Kleinbürgertums auf die proletarischen Konsumvereine ein ganz gutes Bild geben. Das Genossenschaftswesen befindet sich eben auch im Flusse der historischen Entwicklung, und wenn es Schulzes Ruhm ist, eine seiner historischen Phasen beherrscht zu haben, so steht diese Phase unter ihrergleichen alles in allem doch wohl an letzter Stelle.

1 Gemeint ist der zum ersten Mal 1858 in Gotha tagende „Kongress deutscher Volkswirte", der auf sogenannten Wanderversammlungen für den Freihandel agitierte; er wirkte vor allem für Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und Förderung des Genossenschaftswesens gegenüber den partikularistischen und feudalen Beschränkungen, die immer noch die kapitalistische Entwicklung in Deutschland behinderten. Ursprünglich als wirtschaftliche Interessenvertretung des Kleinbürgertums gedacht, wandelte sich der Kongress entsprechend der Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in Deutschland schnell zur Propagandaveranstaltung großbourgeoiser Interessen, nach 1866 vorwiegend zur Durchsetzung finanzpolitischer Forderungen (Bank-und Münzwesen im Sinne der Goldwährung). Hauptteilnehmer waren unter anderen Karl Braun, Foucher, Lette, Schulze-Delitzsch, Bohnert, Barth. Der letzte (22.) Kongress fand 1880 statt.

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