Franz Mehring 19110610 Sommernachtstraum

Franz Mehring: Sommernachtstraum

10. Juni 1911

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Zweiter Band, S. 345-348. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 206-209]

In der vergangenen Woche hat die Fortschrittliche Volkspartei einmal wieder ihrer schon von Lassalle bewunderten Gewohnheit gehuldigt, bei Braten und Wein Siegeshymnen über ihre Niederlagen anzustimmen, aus keinem triftigeren Grunde, als weil sich diese Niederlagen am 6. dieses Monats bereits auf ein halbes Jahrhundert erstreckt haben.

Es wäre gewiss kleinlich, sich lange dabei aufzuhalten, dass eine Partei an ihrem fünfzigsten Geburtstag den Mund etwas voll nimmt. Kein verständiger Mensch wird Geburtstagsglückwünsche und Geburtstagstoaste à la lettre1 nehmen, wird sie als Kundgebungen behandeln, die den Wert historischer Zeugnisse beanspruchen. Aber es gibt auch hier eine Grenze, und eine irgendwie lebensfähige Partei wird sich auch an ihren Festen nicht auf so ganz hohlen und nichtigen Phrasen ertappen lassen, wie es die edle Kumpanei der Kopsch, Mugdan, Wiemer usw. in dieser Woche getan hat. Hört man ihre Tiraden, so ist die Fortschrittliche Volkspartei eine unbesiegbare Heldenschar, die seit fünfzig Jahren der Freiheit und dem Recht eine breite Bahn gebrochen hat und alles, was sie etwa noch nicht erobert hat, demnächst mit siegreichem Schwert erobern wird. Keine Spur einer Selbstkritik an ihrer Vergangenheit, keine Spur eines ernsthaften Programms für ihre Zukunft. Man mag sagen, dass mit solchem Programm auch noch nicht viel getan wäre, sintemalen der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert zu werden pflegt, aber wer selbst diese melancholische Pflasterarbeit nicht mehr leisten kann oder will, der beweist nur, dass an ihm Hopfen und Malz verloren ist.

Mit Ausnahme etwa der Antisemiten ist die Fortschrittliche Volkspartei diejenige deutsche Partei, die an Erfolgen die ärmste und an Misserfolgen die reichste ist. Und sie hat nicht einmal die Entschuldigung für sich, mit der sich die Antisemiten immerhin noch trösten können, nämlich dass sie von Anfang an zu einer schrullenhaften Winkelexistenz verurteilt gewesen ist. Die Fortschrittspartei hätte die ganze Nation hinter sich haben können und hat sie sogar einige Jahre tatsächlich hinter sich gehabt. Wer von solcher Höhe in den Abgrund völliger Nichtigkeit sinken kann, der darf nicht auf andere die Schuld schieben, sondern mag nur vor seiner eigenen Tür kehren; der ist nicht von anderen verraten worden, sondern hat sich selbst verraten. In der Tat ist es der Verrat an den demokratischen Prinzipien, der vor fünfzig Jahren die Fortschrittspartei aus der Taufe gehoben, der Verrat am allgemeinen Wahlrecht, der sich fort und fort an dieser Partei gerächt hat, deren Mitglieder sich zehn Jahre lang vom politischen Leben ferngehalten hatten, weil das gesetzliche gleiche Wahlrecht durch einen widergesetzlichen Gewaltstreich der Reaktion kassiert worden war, und die nun selbst ihre neue Wirksamkeit damit begannen, ebendies Wahlrecht zu verraten.

Es gibt eine klassische Schilderung der jungen Fortschrittspartei, so wie sie vor fünfzig Jahren entstand. Leider ist sie so eingehend, dass wir sie nicht wörtlich hier wiedergeben können; wir müssen uns an einigen Sätzen genügen lassen. Es heißt da: „Es ist die Mittelmäßigkeit, die in breiter Selbstvergötterung jetzt obenauf ist; es ist die platte, hausbackene Halbbildung, die alles machen zu können meint… Es ist eine Menge, die ihre ganze geschichtliche Bildung bis auf Miquel, ihre politische auf die Kenntnis der belgischen Verfassung zurückführt und gelernt hat, allabendlich innerhalb dieser Grenzen den alten Stoff in mannigfachen Variationen vorzuleiern … Von der Idealität unserer Jugend, dem Respekt vor der Wissenschaft und ihren Trägern, der Durchbildung des Charakters bis zur Opferfreudigkeit keine Spur … Aber das allerschlimmste ist, dass in Deutschland das unseligste Manchestertum ..aufgeschossen ist. Jeder zurückgekommene Kaufmann, jeder verrottete Schiffbrüchige, jeder Kommis usw. schafft sich ein sogenanntes nationalökonomisches Kompendium an, lernt daraus einige Stichwörter, tritt in den nationalökonomischen Verein, macht die Wanderreisen mit, sucht eine Stellung bei irgendeiner Versicherungsgesellschaft, einer Bank, Eisenbahn zu erhaschen, nennt sich nun Volkswirt und präsentiert sich als solcher zur Kandidatur, wobei er predigt, dass in heutiger Zeit alle Politik dummes Zeug sei, dass mit der Pflege der materiellen Interessen die Freiheit von selbst käme, dass der Staat eine Schimäre wäre, dass es nur ein Handelsgebiet gäbe, das die Menschen realiter zusammenbände usw. Allem diesem Unwesen hat die Bildung der Fortschrittspartei das Siegel aufgedrückt; nun sind alle Prinzipien so tief vergraben, es ist eine solche Verwirrung der Geister eingetreten, dass eine Entwirrung fürs erste nicht möglich ist, dass diese wirren Stoffe erst durch Verwesung sich auflösen müssen." Und in der Tat, eine Geschichte der Verwesung war die fünfzigjährige Geschichte der Fortschrittspartei.

Fragt man nun, wer diese brennend wahre Schilderung entworfen hat, so ist es kein Reaktionär und auch kein Sozialdemokrat gewesen, sondern derselbe Franz Ziegler, den die fortschrittliche Presse eben in ihren Jubiläumsartikeln – wohl wissend, dass mit ihren lebenden Größen kein Staat zu machen ist – als toten Cid Campeador auf ihr lendenlahmes Ross gebunden hat. Ihn und neben ihn Waldeck, der ebenso wenig wie Ziegler vor fünfzig Jahren das Programm der Fortschrittspartei unterzeichnen wollte. Von alten Achtundvierzigern haben sich überhaupt nur zwei dazu bequemt: Unruh, der schon als Präsident der Berliner Vereinbarerversammlung im November 1848 offenkundigen Verrat getrieben hatte, und Schulze-Delitzsch, den inzwischen das kapitalistische Manchestertum an seiner kleinbürgerlich-selbstgefälligen Eitelkeit eingefangen hatte. Große Helden sind die achtundvierziger Demokraten sicherlich auch nicht gewesen, aber mit jenen beiden Ausnahmen schreckte sie doch der Verrat am allgemeinen und gleichen Wahlrecht zurück, den die Fortschrittspartei gleich bei ihrer Geburt beging.

Erst als dieser Verrat eine selbständige Arbeiterbewegung ins Leben rief, kehrten sie alle in den Sumpf zurück, vor dem sie anfangs aus gutem Grunde zurückgeschreckt waren, auch Waldeck und Ziegler. Insofern können sich die Kopsch und Mugdan auf die Waldeck und Ziegler berufen, nur aber nicht als auf siegreiche Streiter gegen die Reaktion, sondern als auf ängstliche Flüchtlinge vor der Arbeiterbewegung. Und leider hat sich dies Schauspiel immer wiederholt bis auf den heutigen Tag. Es hat in der Fortschrittspartei stets Leute gegeben, die ganz wohl wussten, dass die fortschrittliche Politik eine Politik der Verwesung sei, die sich bemühten, aus diesem Sumpfe heraus wieder ein wenig festen Boden unter die Füße zu bekommen, aber die dann doch regelmäßig lieber in den Sumpf zurückkehrten, wenn sich ergab, dass der feste Boden nicht anders zu erreichen war als durch enge Berührung mit der Arbeiterbewegung. Siehe unter anderem auch die neuesten Leistungen der Naumänner!

Um es noch einmal zu wiederholen: Man darf die Jubiläumsartikel der fortschrittlichen Presse nicht auf die Goldwaage legen, aber das bei alledem unglaubliche Maß der eitelsten Selbstbespiegelung, das sie erfüllt, senkt beträchtlich die Hoffnung, dass die Partei sich noch in zwölfter Stunde aufraffen und das gehäufte Maß ihrer Sünden einigermaßen durch eine energische und konsequente Opposition gegen den schwarzblauen Block2 abmindern wird. Eine solche Politik haben die Fortschrittler nie getrieben, es sei denn, dass man ihre verbissene Hartnäckigkeit gegenüber der Arbeiterbewegung wohlwollend einschätzen will, nicht einmal in der preußischen Konfliktszeit, wenn man diese im nüchternen Lichte der Tatsachen betrachtet, geschweige denn nach 1868 oder gar nach 1870. Worauf man etwa noch rechnen konnte, war die Erfahrung, dass der ewig getretene Wurm sich endlich doch einmal zu krümmen, dass der ewig geprügelte Hund doch endlich einmal zu beißen pflegt. Und an Prügeln hat es der schwarzblaue Block wahrlich nicht fehlen lassen.

Allein das Wort des römischen Geschichtschreibers, dass die Staaten durch dieselben Mittel bestehen, durch die sie entstanden sind, gilt auch von den Parteien. Der Verrat an der Arbeiterklasse, durch den die Fortschrittspartei entstand, wirkt fort und fort. Bismarck sagte in der ersten öffentlichen Rede, die er hielt – im Vereinigten Landtag von 1847 –, wenn sich ein geprügeltes Volk zur Wehr setze, so gewinne es dadurch noch kein Recht an einen Dritten; er wollte damit die Ansprüche auf eine Verfassung verhöhnen, die die preußische Bevölkerung durch die sogenannten Freiheitskriege erworben hatte. Von der Fortschrittspartei kann man in anderer Wendung sagen, sie lasse sich eher zu Tode prügeln, ehe sie ein verfassungsmäßiges Leben in Deutschland dadurch sichere, dass sie sich gegen die Junker und Pfaffen anders als mit großen Worten zur Wehr setze. Es ist nicht wahr, was heute selbst das „Berliner Tageblatt" schreibt, das unter seinesgleichen noch am vernünftigsten zu sein behauptet, dass nämlich Bismarck einen Keil zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse getrieben haben soll. An diesem Keil ist Bismarck sehr unschuldig; den hat die bürgerliche Klasse und speziell die Fortschrittspartei auf ihrem politischen Konto, und sie selbst muss ihn beseitigen, wenn sie nicht zu ewiger Ohnmacht verdammt sein will.

Erinnert man sich daran, dass die Fortschrittspartei vor fünfzig Jahren damit begann, die Arbeiterklasse vom politischen Leben auszuschließen, so kann es für sie freilich kein erhebender Gedanke sein, dass sie heute nur noch als bescheidene Hilfstruppe des Proletariats an eine Überwindung der Junker- und Pfaffenherrschaft denken darf. Aber das hat sie nun einmal so gewollt, und besser nimmt sie sich in dieser bescheidenen Rolle immer noch aus, als wenn sie, wie bisher, allemal als Spielball der reaktionären Parteien dienen will. Die herrlichsten Rütlischwüre „gen Junker und gen Pfaffen" werden – selbst wenn Herr Müller-Meiningen sie in die holdseligsten Reime fasst – zu den albernsten Rodomontaden, sobald die Männer dieses Rütli sich schließlich doch zu Hetzhunden gegen die Arbeiterklasse missbrauchen lassen. Und es sieht sehr danach aus, dass dem Sommernachtstraum dieser fortschrittlichen Geburtstagsfeier ein sehr katzenjämmerliches Erwachen folgen wird.

1 à la lettre (franz.) – wörtlich, buchstäblich.

2 „Schwarzblauer Block" wurde die 1909 mit dem Sturz Bülows und seines Kartells („Bülow-Block" = Konservative und Liberale) zustande gekommene Regierungsmehrheit des Zentrums und der Konservativen unter Bethmann Hollweg genannt.

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