Franz Mehring 19060919 Vom legitimen Prinzip

Franz Mehring: Vom legitimen Prinzip

19. September 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Zweiter Band, S. 849-852. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 376-380]

Es war ein sehr gleichgültiger Zeitgenosse, der Prinz Albrecht von Preußen, der eben gestorben ist: genau so orthodox und reaktionär, wie preußische Prinzen zu sein pflegen: in nichts erhob er sich über den Durchschnitt dieser Klasse, die auch von untertänigen Historikern nicht unter die Wohltäter der Menschheit gerechnet wird. Aber dennoch ist sein Tod eine Art von politischem Ereignis, denn da er Regent des Herzogtums Braunschweig war, so ist nunmehr die braunschweigische Frage wieder aufgerollt, die ein so grelles Licht auf das Prinzip der Legitimität wirft, auf dies herrliche Prinzip, von dem seit anderthalb Jahrzehnten innerhalb der schwarzweißroten Grenzpfähle nicht genug gesagt und gesungen werden konnte.

Braunschweig ist nur ein ganz kleines Ländchen, aber in seiner Geschichte hat das Prinzip der Legitimität die wunderlichsten Kopfsprünge gemacht. Gäbe es einen modernen Aristophanes, er könnte die köstlichste Komödie daraus spinnen. Vor hundert Jahren war Herzog von Braunschweig jener Karl Wilhelm, der im Jahre 1792 an der Spitze eines preußischen Heeres in Frankreich einbrach, mit dem berühmten Manifest, worin er die Stadt Paris dem Erdboden gleichzumachen versprach, weil sie ihrem legitimen König, dem sechzehnten Ludwig, den Gehorsam verweigert habe. Bekanntlich missglückte sein heroischer Versuch, eine große Nation mit Blut und Feuer heimzusuchen, um die verletzte Legitimität wiederherzustellen; er selbst kam darüber, wenn nicht in die Tinte, so doch in den Schmutz der Champagne, worin er hilflos steckenblieb. Legitim nach außen, war er legitim auch nach innen; er betrachtete sich dermaßen als unumschränkten Herrn über Leib und Leben der braunschweigischen Landeskinder, dass er sie zu Tausenden an England und Holland verkaufte, um den Erlös an Millionen mit seinen Dirnen zu verjubeln.

Dennoch war auch dieser leuchtende Karfunkelstein der Legitimität nicht ohne leise Trübung. Genau vor hundert Jahren, als die ostelbischen Junker sich anschickten, die heiligsten Güter der Menschheit gegen den „korsischen Usurpator" zu verteidigen, war der Herzog Karl Wilhelm wieder preußischer Oberfeldherr. Aber diese Würde schickte sich insofern doch gar nicht recht für ihn, als er feierlich erklärte, sein Weltreich Braunschweig bliebe in vollem Frieden mit dem napoleonischen Weltreich. Ein legitimer Welfe, der sich zum Kondottiere für die ostelbischen Junker hergab! Dem „korsischen Usurpator" fehlte dafür jedes Verständnis, was man ihm auch nicht so sehr übelnehmen konnte. Nachdem er den siebzigjährigen Don Juan, der mit seiner französischen Mätresse ins Feld gezogen war, bei Auerstedt gründlich aufs Haupt geschlagen hatte, erklärte Napoleon: „Wenn ich die Stadt Braunschweig zerstörte und keinen Stein auf dem anderen ließe, was würde euer Fürst sagen? Erlaubt mir nicht das Vergeltungsrecht, an Braunschweig zu üben, was er meiner Hauptstadt antun wollte? … Sagt dem General Braunschweig, er werde mit aller Rücksicht behandelt werden, die man einem preußischen Offizier schuldet, aber für einen Souverän kann ich einen preußischen General nicht ansehen. An ihn, den Urheber zweier Kriege, mag sich das Haus Braunschweig halten, wenn es den Thron seiner Väter verliert." Und so kam diese Linie der Welfen um den Thron ihrer Väter.

Das Land Braunschweig lebte nun sieben Jahre unter der höchst illegitimen Herrschaft Jerômes von Westfalen, des munteren Königs „Morgen-Wieder-Lustik", dessen deutsche Nachkommenschaft im dritten und vierten Gliede sich heute noch mit frohem Stolze einer so erlauchten Abstammung rühmt. Auch in Braunschweig scheint es dazumal recht lustig hergegangen zu sein; wenigstens waren die guten Braunschweiger sehr wenig zufrieden, als im Jahre 1813 mit den Kosaken wieder ein legitimer Welfe ins Land kam, der Sohn des Herzogs, der bei Auerstedt besiegt und bis auf den Tod verwundet worden war. Sie seufzten erleichtert auf, als sie diesen legitimen Herrscher los wurden – er fiel im Jahre 1815 im Treffen von Quatrebras –, aber sie wurden für ihren Mangel an legitimer Gesinnung sofort gestraft, indem sie durch den Sohn des gefallenen Herzogs aus dem Regen unter die Traufe kamen. Dieser Herzog Karl peinigte und quälte sie noch viel ärger, als es seine legitimen Vorfahren je getan hatten, und die Braunschweiger wurden nun ganz rabiat vor illegitimer Gesinnung, indem sie sich von der französischen Julirevolution betören ließen und 1830 ihren Herzog zum Teufel jagten.

Es war eine Revolution von Gnaden des Deutschen Bundes, der den Bruder des verjagten Herzogs auf den erledigten Thron berief. Der Herzog Karl hatte es so arg und zugleich so blödsinnig getrieben, dass sogar Friedrich Wilhelm III. von Preußen und Metternich nicht für ihn einzutreten wagten. Allein trotz ihres Segens und der Genehmigung durch den Deutschen Bundestag blieb die Herrschaft des nunmehrigen Herzogs Wilhelm doch illegitim. Er dankte sein Thrönchen einem Revolutiönchen, und sein vertriebener Bruder hat nie aufgehört, gegen den unzweifelhaften Rechtsbruch zu protestieren, der ihn die Herrschaft über Braunschweig gekostet hatte. Er hat noch im Jahre 1870 darauf gehofft, dass ihn die französischen Adler nach Braunschweig zurückführen würden; erst nach der Niederlage von Sedan gab er die letzte Illusion auf, machte aber auch jetzt weder seinen Bruder noch sein Land zum Erben seiner zahlreichen Millionen, sondern die Stadt Genf, unter der Bedingung, dass sie ihm ein prächtiges Denkmal errichte. Es ist ihm auch erbaut worden, macht jedoch heute schon nur noch den Eindruck einer possierlichen Ruine, genauso wie das legitime Prinzip, zu dessen Verherrlichung es bestimmt ist.

Die illegitime Herrschaft des Herzogs Wilhelm dauerte sehr lange, über ein halbes Jahrhundert, und als sie im Jahre 1885 aufhörte, war es begreiflich, dass die guten Braunschweiger nach dem Grundsatz: Abwechslung ergötzt, nun wieder die Süßigkeiten einer legitimen Herrschaft zu schmecken begehrten. Um so mehr, als ein Erbe da war, der sich sozusagen einer Legitimität in höchster Potenz rühmen konnte. Wie die Welfen das älteste und legitimste Fürstengeschlecht in Deutschland sind, so ist durch die Erbverbrüderung dieses hohen Hauses im Jahre 1535 festgestellt und seitdem so und so oft bestätigt worden, dass die Krone Braunschweig „in dem fürstlichen Gesamthaus Braunschweig-Lüneburg" vererben soll. Das heißt: Da mit dem Herzog Wilhelm von Braunschweig die ältere Linie dieses fürstlichen Gesamthauses ausgestorben ist, so ist ihr unbestreitbarer Erbe das Haupt der jüngeren Linie, gegenwärtig der Herzog von Cumberland, der älteste Sohn des im Jahre 1866 von seinem preußischen Bruder und Vetter gewaltsam entthronten Königs Georg von Hannover. Nach den Grundsätzen des legitimen Prinzips gibt es vermutlich in ganz Europa kein so absolut unanfechtbares Anrecht, wie der Herzog von Cumberland auf den braunschweigischen Thron besitzt; ja dies Recht ist so unanfechtbar, dass sich selbst unter den preußischen Soldschreibern, also einer auch zu den tollkühnsten Verdrehungskünsten stets bereiten Schar, weder Rittersmann noch Knapp findet, der das Erbrecht des Cumberländers anzuzweifeln wagt. Und da diesen Legitimen selbst seines Volkes erbarmte, so gab er nach dem Tode des Herzogs Wilhelm alle möglichen Bürgschaften für gute Gesinnung, erkannte die Reichsverfassung und damit auch tatsächlich die gewaltsame Entthronung seiner Familie in Hannover an, und so stand kein Hindernis mehr dem Herzenswunsch der braunschweigischen „Nation" entgegen, wieder unter einem legitimen Zepter ruhig zu schlafen.

Allein Bismarcks böses Gewissen sann auf eine neue Ausflucht, um den Erben des Königs Georg von Deutschland fernzuhalten, und unerschöpflich wie er an Ränken und Schwänken war, fand er auch eine, die noch dazu jedem Philister außerordentlich einleuchtete. Wie so oft arbeitete er auch hier nach bonapartistischem Muster. Genauso wie einst Napoleon von dem alten Wilhelm verlangt hatte, dieser solle versprechen, niemals auf eine hohenzollernsche Kandidatur in Spanien zurückzukommen, genauso forderte Bismarck, der Herzog von Cumberland solle für ewig auf den Wiedererwerb Hannovers verzichten. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Napoleon einen Mächtigen, Bismarck aber einen Ohnmächtigen verhöhnte. Jedoch die Perfidie war ganz pfiffig auf den patriotischen Philister berechnet, der hinter seinem Stammtisch räsonierte: Aha, wenn der Cumberländer nicht ein für allemal auf Hannover verzichten will, so hat er doch noch seine Hintergedanken.

Tatsächlich wusste Bismarck sehr gut, dass der Herzog diese Erklärung nicht abgeben konnte, ohne sich moralisch unmöglich zu machen, ohne ein schweres, seiner Familie zugefügtes Unrecht zu sanktionieren um äußerer Vorteile willen. Mag der Herzog von Cumberland sonst sein, wie er will: Indem er sich weigerte, den ewigen Verzicht auf Hannover auszusprechen, handelte er als anständiger Mensch. Das würde nun in der Welt der Legitimität vielleicht nicht schwer ins Gewicht fallen, allein auch gegen die Grundsätze dieser Welt hat der Herzog von Cumberland nicht verstoßen. Wie die römische Kurie nach dem Worte tolerari posse (es kann geduldet werden) eine tatsächliche Umwälzung anerkennt, ohne sie deshalb rechtlich zu billigen, so verfahren auch die legitimen Fürstenhäuser. Die hochtrabende Redensart, dass der Herzog von Cumberland in den Kreis der deutschen Bundesfürsten zu treten nicht würdig sei, solange er ein heimliches Verlangen nach dem Gute eines Nebenfürsten trage, erledigt sich einfach dadurch, dass zwischen den deutschen Bundesfürsten nahezu ein halbes Hundert solcher rechtlichen Vorbehalte bestehen, von denen sogar die Mehrzahl auf die – Karte Preußens entfällt.

Auf einen so durchsichtigen Hokuspokus hin hielt Bismarck dem Cumberländer das braunschweigische Krönlein vor. Bis auf Mecklenburg-Strelitz und Reuß ä. L. fügten sich auch die Mitglieder des Bundesrats seinem Willen, und es wurde die Regentschaft eines preußischen Prinzen eingerichtet. Aber es gelang dem nunmehr verstorbenen Prinzen Albrecht nicht, es den Braunschweigern recht zu machen, und ihre Sehnsucht nach ihrem Herzog von Cumberland ist heute heißer denn je.

Es versteht sich, dass wir hier immer nur von der bürgerlichen Bevölkerung des Ländchens sprechen. Wir haben deshalb auch gar kein Interesse daran, ob ihr Sehnen befriedigt wird. Wir würden es vielmehr mit großer Fassung ertragen, wenn das legitime Prinzip in dieser braunschweigischen Frage wieder, wie in Bismarcks Zeit, unter die derben Fäuste geriete, die sein heiliges Panier sonst nicht hoch genug in den Lüften schwenken können.

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