Franz Mehring 19111221 Von starken Bettlern

Franz Mehring: Von starken Bettlern

21. Dezember 1911

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 449-452. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 221-225]

Als sich im Jahre 1852 die englische Bourgeoispresse, teils aus Klasseninstinkt, teils auch getäuscht durch die Lügen der preußischen Polizei, in Schmähungen über die deutschen Kommunisten erging, schrieb Ferdinand Freiligrath an Karl Marx: „Als ob die Esel ihre .bürgerliche Freiheit' nicht auch den sturdy beggars (den starken Bettlern) des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts zu verdanken hätten." Man wird unwillkürlich an dies treffende Wort erinnert, wenn man heute die freisinnige Presse in unzähligen Wahlartikeln gegen die Arbeiterpartei donnern hört, als sei durch diese die bürgerliche Freiheit gefährdet.

Das Elend der deutschen Geschichte, im Vergleich zu der englischen und französischen Geschichte, wurzelt gerade darin, dass die deutsche Bourgeoisie niemals die Courage gehabt hat, sich nicht etwa selbst die bürgerliche Freiheit zu erobern – denn das hat die englische und die französische Bourgeoisie auch nie fertiggebracht –, sondern sich von den sturdy beggars die bürgerliche Freiheit erobern zu lassen. Es waren nicht Bourgeoisfinger, sondern Arbeiterfäuste, die am 18. März 1848 die Berliner Barrikaden errichteten und die preußischen Garderegimenter aus der Hauptstadt vertrieben. Ihnen und ihnen allein hatte die Bourgeoisie zu verdanken, dass sie das Steuerruder des Staates ergreifen konnte, und obgleich die Bourgeoisie vom ersten Augenblick an Verrat auf Verrat gegen das Proletariat spann, waren es wiederum die Arbeiter Berlins, die sich bereit erklärten, den drohenden Staatsstreich mit der Kraft ihrer Arme abzuwehren, was die Bourgeoisie durch die feige Erfindung des „passiven Widerstandes" vereitelte.

Ganz ähnlich ging es dann in den preußischen Konfliktsjahren, wo der Bourgeoisie zehnmal mehr daran lag, die Arbeiter zu nasführen, als die Macht des König- und Junkertums zu brechen. Aus Angst vor den Arbeitern gab sie das allgemeine Wahlrecht preis, das, wenn anders Preußen ein „Rechtsstaat" sein soll, damals wie heute noch gültiges Gesetz ist, und lieber nahm sie demütig die Fußtritte Bismarcks hin, ehe sie die Hand der Arbeiterklasse ergriff, die sich ihr bereitwillig entgegenstreckte. Die damaligen Arbeiter verlangten zunächst gar nichts mehr als die Erlaubnis der Bourgeoisie, für die „bürgerliche Freiheit" zu kämpfen. Erst als sie erkannten, dass die Fortschrittspartei in diesem Kampfe vollständig versagte, nur um die Arbeiter nicht als ebenbürtige Bundesgenossen anerkennen zu müssen, taten sie sich als eigene Partei auf, die zunächst auch nichts anderes verfolgte als die Erkämpfung bürgerlicher Rechte. An diesem historischen Tatbestand ist schlechterdings nichts zu drehen und zu deuteln; die Mär des seligen Eugen Richter, dass die Spaltung der bürgerlichen Opposition durch die Etablierung einer selbständigen Arbeiterpartei den Sieg Bismarcks und des Junkertums entschieden habe, ist eben eine Mär. Die Schuld an dem Siege des Junkertums fällt „ganz und voll", um dies gräuliche Schlagwort der fortschrittlichen Beredsamkeit ausnahmsweise einmal zu gebrauchen, auf die Schultern der Bourgeoisie.

Neuerdings haben nun aber einige gescheitere Leute, als der selige Eugen war, diese historische Schuld in milderem Lichte darstellen wollen. Herr Hermann Oncken hat durch Abdruck von Protokollen des Nationalvereins in einer wissenschaftlichen Zeitschrift darzulegen versucht, dass diese Bourgeoiskörperschaft, die ein einiges Deutschland unter preußischer Führung erstrebte, nur in „sehr bedingter" Weise den „Vorwurf" verdiene, die Interessen der Arbeiterklasse missachtet zu haben. Was er aber beweist, ist nichts als die längst bekannte Tatsache, dass der Nationalverein, der die Arbeiter absichtlich aus seinen Reihen ausschloss, indem er sich weigerte, die monatliche Ratenzahlung der Mitgliederbeiträge zuzulassen, im Jahre 1862 ganze 2400 Gulden, etwa 3600 Mark, opferte, um zwölf deutsche Arbeiter auf die Londoner Weltausstellung zu senden. Ausgewählt wurden diese Arbeiter durch ein spezifisches Unternehmerorgan, den „Arbeitgeber" in Frankfurt a. M.

Es ist richtig, dass manche dieser Arbeiter in London ihren Tag von Damaskus fanden, aber das war nicht das Verdienst des Nationalvereins, sondern sein Kummer.

Außer diesem dürftigen Almosen, das die vollen Geldsäcke des Nationalvereins mit prahlerischer Gebärde vor aller Welt der Arbeiterklasse zuwarfen, teilt Herr Oncken als urkundlichen Beweis für seine Behauptung noch das Protokoll einer Sitzung mit, die der Ausschuss des Nationalvereins am 1. Februar 1863 gehalten hat. Darin wurde die Unterstützung einer „Arbeiterzeitung" beschlossen, die der Geschäftsführer des Vereins, der Coburger Rechtsanwalt Streit, bereits seit Beginn des Jahres herausgab, und ferner wurde beschlossen, dass die Arbeiterbewegung vom Nationalverein zwar nicht direkt und offiziell, wohl aber mittelbar durch seine Mitglieder und Leiter im Interesse gesunder, mit der nationalen Bewegung in harmonischem Zusammenhang bleibender Entwicklung zu fördern sei. Dieses Protokoll, worin die Bennigsen, Miquel, Schulze-Delitzsch und ähnliche Größen ihre Weisheit über die Arbeiterfrage zum besten gaben, ist allerdings recht interessant und ein ganz wertvoller Beitrag zur Geschichte der damaligen Zeit, aber im Sinne des Herrn Oncken würde es nur etwas beweisen, wenn es vom 1. Februar 1860 oder 1861 oder etwa noch 1862 abgefasst worden wäre. Am 1. Februar 1863 hatte es nur noch den Sinn und den Zweck, die Bestrebungen des Leipziger Zentralkomitees lahmzulegen, das seit dem Herbste 1862 die Einberufung eines Arbeiterkongresses betrieb und sich gerade damals an Lassalle wandte, dessen Offenes Antwortschreiben vom 1. März 1863 datiert ist. Das von Oncken veröffentlichte Protokoll gewährt also nur einen sehr dankenswerten Einblick in die hinterhältigen Machenschaften des Nationalvereins, der sich – bis auf jenes Almosen – mehr als drei Jahre lang schlechterdings nicht um die Beschwerden der Arbeiterklasse gekümmert hatte, und erst als er merkte, dass den Arbeitern nachgerade der Geduldsfaden riss, dieser beginnenden Bewegung noch schnell einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen versuchte. Man kann heute noch in der Wochenschrift Streits lesen, in wie gehässiger Weise sie das Leipziger Zentralkomitee und Lassalles Offenes Antwortschreiben traktierte.

In einer anderen Weise versucht Klein-Hattingen in seiner „Geschichte des Liberalismus" die Bourgeoisie zu entlasten. Dieser liberale Historiker hat vor Jahren ein in mancher Beziehung recht lesbares Werk über Bismarck herausgegeben; auf Anregung des Herrn Naumann hat er sich dann an eine Geschichte des Liberalismus gewagt, die ihm nicht so gut gelungen ist, trotz aller Reklame, die Herr Naumann dafür macht. Klein-Hattingen, der leider noch in rüstigem Alter gleich nach Vollendung des zweiten und letzten Bandes gestorben ist, hat es sich ein wenig zu bequem gemacht, indem er nirgends auf die tieferen Wurzeln der historischen Entwicklung zurückging, sondern den Liberalismus nur nach dessen oberflächlichen Erscheinungen registrierte. Immerhin aber war er ein ehrlicher und entschiedener Liberaler, der – zum großen Kummer des Herrn Naumann – den Nationalliberalismus nur als reaktionäre Spielart behandelte, was denn freilich nicht nur seine Stärke, sondern auch seine Schwäche bekundete. Denn welche nationalliberale Sünde könnte man heute aufrufen, ohne dass sich der von Klein-Hattingen gefeierte Freisinn nicht mit einem Hier! zu melden hätte.

Die vernichtenden Urteile dieses Historikers über den Nationalliberalismus sind in den letzten Tagen denn auch von unseren Parteiblättern zitiert worden, um die Fortschrittliche Volkspartei zu beschämen, die Arm in Arm mit der Nationalliberalen Partei den Wahlkampf führt. Uns kommt es hier jedoch auf Klein-Hattingens Urteil über die Stellung des Liberalismus zur Sozialdemokratie an. Er ist ehrlich genug, anzuerkennen, dass die Fortschrittspartei in den Tagen des preußischen Konflikts der Arbeiterklasse die politische Ebenbürtigkeit nicht zugestanden habe, aber er meint, das sei ein nebensächliches Versäumnis gewesen. Der Liberalismus habe die Arbeitermassen nicht durch seine Fehler, nicht durch seine „Greisenhaftigkeit", sondern durch das elementargewaltige Vordringen des Marxismus verloren, durch die unbedingte Verneinung der liberalen Staatsverfassung, die die marxistischen Agitatoren in der Arbeiterwelt herbeigeführt hätten. „Nur dann, wenn die Fortschrittspartei sich selbst verloren hätte, wenn sie sozialistisch geworden wäre, hätte sie die Arbeitermassen nicht verloren. Ihr ,Doktrinarismus' gegenüber dem Sozialismus hat den Liberalismus vor dem Sich-selbst-Verlieren, vor dem Untergang bewahrt"

Es liegt auf der Hand, dass hier die Streitfrage völlig verschoben wird. Kein vernünftiger Mensch hat je behauptet, dass sich ein ewiger Friede zwischen Bourgeoisie und Proletariat herstellen ließe; um was es sich allein handelt, ist die Frage, ob und inwieweit diese beiden Klassen, die gemeinsam auf dem Boden der modernen Gesellschaft stehen, gemeinsam kämpfen können gegenüber den Gewalten historisch rückständiger Gesellschaftszustände. In dieser Frage hat die Bourgeoisie wieder und wieder versagt seit den Tagen von 1848 und versagt sie auch in den gegenwärtigen Wahlen. Während die deutsche Arbeiterklasse nicht nur ihre besonderen Klasseninteressen, sondern auch die Forderungen der „bürgerlichen Freiheit" stets aufs rücksichtsloseste vertreten hat und vertritt, hat die Bourgeoisie eine dieser Forderungen nach der anderen preisgegeben. Ihr „doktrinäres" Geschwätz über den Sozialismus soll ihr von Herzen gern gegönnt sein; weder die Spar-Agnes noch die Strampel-Annie1 des von Klein-Hattingen atemlos bewunderten Eugen Richter hat der Sozialdemokratie auch nur ein Haar gekrümmt. Aber was dem Liberalismus den Untergang beschert hat, das ist sein Verrat an der „bürgerlichen Freiheit" gewesen, die zu erobern sein historischer Beruf war.

Freiligrath hat schon recht: Solange es eine Geschichte gibt, ist die „bürgerliche Freiheit" den sturdy beggars zu verdanken gewesen. Der Unterschied ist nur der, dass sie in Deutschland den Kampf für die „bürgerliche Freiheit" nicht nur gegen König- und Junkertum, sondern auch gegen die Bourgeoisie zu führen haben. Deshalb ist der Sieg um so schwerer zu erringen, aber dafür wird er auch um so gründlicher sein.

Ehrlichen Liberalen ist gegenüber der sinnlos-verräterischen Taktik der freisinnig-fortschrittlichen Parteileitung nur der eine Weg gewiesen, für die sozialdemokratischen Kandidaten zu stimmen; auf anderem Wege ist die „bürgerliche Freiheit" in Deutschland nicht zu erringen.

1 Figuren des antisozialdemokratischen Pamphlets von Eugen Richter: Bilder aus der Gegenwart, auf das Mehring 1892 mit seiner Broschüre „Herrn Eugen Richters Bilder aus der Gegenwart" antwortete.

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